The Best of Both Worlds – Zwischen Mensa und Moshpits

Hauptberuflich Musiker*in sein und von der eigenen Musik leben – für viele ein Traum. Tarek und Nikita von PATINA Records arbeiten genau darauf hin. Nebenbei studieren sie. Doch wie sinnvoll ist ein Studium als Plan B wirklich – und kann man beides zeitlich stemmen?

Es ist kurz nach 21 Uhr an einem Samstag im Mai. Draußen ist es dunkel, doch neben den Straßenlaternen beleuchten heute auch die Lichter des Skateshops „Club Mumbai Palais“ an der Kampstraße den Gehweg. Von drinnen dröhnt laute Musik. Vorbeigehende Menschen schauen neugierig hinein. Denn die Musik wird nicht etwa vom Band abgespielt. Hier findet heute Abend das Release-Konzert des Dortmunder Rap-Kollektivs PATINA Records statt. Das Bekleidungsgeschäft wird zur Konzert-Location.

Plan B: Studium

Donnerstagnachmittags an der TU Dortmund zwei Wochen zuvor: Nikita, einer der Produzenten von PATINA Records, sitzt in einem Seminar über Modefotografie. Er studiert Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaften mit den Nebenfächern Kulturanthropologie des Textilen und Musik. Während der Dozent etwas über die Fotografin Lee Miller erzählt, baut Nikita auf seinem Laptop Beats. Die Vorbereitungen für das Konzert des Rap-Kollektivs im Club Mumbai Palais laufen. Konzentriert schneidet Nikita die Audiospuren, ohne sie zu hören.

Nebenbei hört er dem Dozenten zu: Als der eine Frage stellt, kann er sie mühelos beantworten. Das Studium neben der Musik nicht schleifen zu lassen, ist Nikita wichtig. „Ich will mir parallel etwas in der Kulturbranche aufbauen, und dafür kann ich sowohl die Kontakte aus der Musik als auch das Gelernte von der Uni gebrauchen“, sagt er.

Tarek, der unter seinem Künstlernamen Tarri.Ferarri bei PATINA rappt, sieht die Uni als Plan B. Er studiert Soziale Arbeit an der FH Dortmund. Hauptberuflich möchte er Rapper werden, doch das nicht unendlich lang: „Man kann nicht für immer rappen, finde ich. So bis Mitte 30, vielleicht 40, aber dann ist‘s vorbei“, meint er. „Viele ältere Rapkünstler*innen, die noch super erfolgreich sind, empfinde ich als maximal peinlich. Also, ich habe noch so gute zehn Jahre und dann will ich aufhören.“

Alternativ käme für ihn auch eine Karriere im Comedy-Bereich in Frage. Auf seinem TikTok-Account lädt er regelmäßig Videos hoch, mit denen er bereits über 20.000 Follower*innen zum Lachen bringt. Am beliebtesten sind die Clips, in denen er mit seiner trockenen Art Flachwitze vorträgt. Sowohl für Tarek als auch für Nikita ist klar: Hauptberuflich Musiker*in zu werden, ist ein unsicherer Weg, den beide trotz allem beschreiten wollen. Um die Risiken zu vermindern, haben sie sich für ein Studium als Auffangkissen entschieden.

Der Profi stimmt zu

Michael Griese, Musikmanager bei den Agenturen D.LIVE, Contra Promotion und GUN Records, findet die Entscheidung der beiden genau richtig: „Plan B ist das Zauberwort. Da bin ich ein ganz großer Supporter. Es ist sehr beeindruckend, wenn man das als junger Mensch auf dem Schirm hat. Die Musikbranche hat sich in den letzten Jahren nun mal sehr verändert.“ Griese erklärt: Durch das Internet und die Streaming-Dienste ist es heutzutage möglich, sich als Musiker*in selbst zu vermarkten. Man braucht kein großes Label mehr hinter sich, muss keine Demo-Tapes mehr an Manager*innen schicken und beten, dass diese überhaupt angehört werden. Eigene Songs können einfach ins Internet gestellt und damit für jeden zugänglich gemacht werden.

Was sich erst einmal positiv anhört, hat auch Schattenseiten: Wenn alle ihre Musik veröffentlichen, dann steigt der Druck, aus all diesen Menschen herauszustechen. Zudem gibt es eben auch keine Garantie, dass Erfolg lange anhält. One-Hit-Wonder gibt es zu genüge. „Bei der Anzahl an guten Musiker*innen gehört da Fleiß und natürlich auch Können dazu, also kreatives und handwerkliches Können. Und Glück ist immer ein großer Faktor. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtigen Menschen treffen“, erklärt Michael Griese.

Vor allem Letzteres sei besonders wichtig, wenn man mit der eigenen Musik durchstarten möchte: Ein gutes Netzwerk. Jemanden kennen, der jemanden kennt. Sich mit Menschen connecten, die ähnliche Visionen teilen und bereits Erfahrung und weitere Kontakte in der Branche haben. In dieser Hinsicht hat sich in der Branche nichts geändert. Und auch, wenn es heute Hindernisse gibt, die damals nicht existiert haben, meint Michael Griese: „Es ist heute deutlich einfacher, Berufsmusiker*in zu werden, als noch vor 20 Jahren.“

Selbstdarstellung in den sozialen Medien

Dass es wichtig ist, herauszustechen, weiß auch Nikita: „Die Landschaft ist extrem übersättigt. Man braucht einen Unique Selling Point, man muss auch als Person vermarktbar sein.“ Dabei solle man sich aber nicht verstellen, denn das wirke unglaubwürdig.

„Es geht darum, die eigenen Besonderheiten zu erkennen und diese in der Öffentlichkeit hervorzuheben. Ein besonderer Style und Charisma sind dabei sehr hilfreich“, sagt Nikita. Im besten Fall ist man für die Hörer*innen jemand, mit dem sie sich identifizieren können. Soziale Medien wie TikTok oder Instagram geben den Künstler*innen die Möglichkeit, nicht nur ihre Musik, sondern auch sich selbst zu promoten.

Countdown zur Show

Nikita mit Wein vor dem Auftritt. Foto: Sven Schwede

Eine Stunde vor Einlass ist die Stimmung im Skateshop Club Mumbai Palais leicht angespannt: Es gibt ein Problem mit den Tickets. Scheinbar sind zu viele vergeben worden. Die Künstler*innen reden durcheinander, während sie auf ihren Handys scrollen und die Namen vorlesen, die sie auf die Gästeliste gesetzt haben.

Nach ein paar Minuten, dann Entwarnung: Durch freie Gästelisten-Plätze passen nun doch alle angemeldeten Zuschauer*innen in die Location. Nikita und Tarek teilen sich mit ihren Rap-Kolleg*innen vor dem Geschäft noch eine Flasche Wein und reden über das bevorstehende Konzert. Tarek erzählt, wie aufgeregt er ist, aber dass sich das mit jeder neuen Show immer mehr legt. Den anderen scheint es ähnlich zu gehen. Immer wieder gehen sie rein und wieder raus, wuseln im Shop hin und her und drehen Storys für Instagram. Es wird viel gealbert und gelacht.

In Zusammenarbeit mit dem Shop haben PATINA eigene T-Shirts und Hoodies designet. In dem Ticketpreis für das Konzert ist für alle auch ein Teil der Kollektion inklusive einem PATINA Jutebeutel enthalten. Die Künstler*innen helfen den Mitarbeiter*innen vom Club Mumbai Palais beim Einpacken. Sie bestaunen gemeinsam ihren ersten Merch.

Das „Produkt“ Künstler*in

Von ihrer Musik leben können PATINA Records noch nicht. Die bisherigen Auftritte haben ihnen zwar etwas Geld eingebracht, aber längst nicht genug, um den Lebensunterhalt zu bezahlen – und am Ende muss die Gage auf acht Menschen verteilt werden. Aber Tarek verrät: Die Dortmunder*innen konnten sich direkt zu Beginn ihrer Karriere Auftritte verschaffen, und dann mit den Gagen von diesen ihre Musikvideos oder Sticker bezahlen. Minus hat das Kollektiv mit seiner Arbeit also nie gemacht. „Wir sind jetzt nicht krass kreativ im Marketing. Wir geben hier und da ein bisschen Geld aus, aber auch nur das Geld, das wir eingenommen haben“, erzählt Nikita.

Ein kostengünstiger Weg, die eigene Musik zu vermarkten, ist über Social Media, vorrangig Instagram und TikTok. Auf ihrem Instagram-Account wirbt das Kollektiv vor allem mit Story-Posts oder Reels. Am meisten aufgerufen wurde eine Reihe an Reels, in denen Tarek durch Dortmund läuft und fremde Menschen anspricht. Er spielt ihnen einen PATINA Records Song vor und die Passant*innen bewerten ihn.

Nikita legt auf, während seine Rap-Kolleg*innen performen. Foto: Sven Schwede

Es wird ernst

Um 20.30 Uhr sollte eigentlich der Einlass für das Konzert starten, doch es gibt technische Probleme: Das Kassensystem funktioniert nicht. Die Mitarbeiter*innen müssen nun alles bar mit einer Geldkassette abrechnen. Das bringt eine kleine Verzögerung, die zwar die Veranstalter*innen kurz stresst, aber die gute Laune des Publikums nicht zu beeinflussen scheint.

Etwas später als geplant geht es dann los. Sofort heizen PATINA Records dem Publikum ein. Die acht Künstler*innen performen vor rund 50 Personen ihre Songs, darunter auch den neuen Track „Halt mich fest“. Die Fans tanzen und singen, die Stimmung ist ausgelassen. Für einen Song holen PATINA eine Zuschauerin nach vorne, die textsicher mit rappt. Es wird eine Sektflasche ins Publikum gereicht, die sich alle teilen. Für das Ende der Show mischen sich die sechs Rapper*innen unter das Publikum und starten ein Moshpit. Während sie performen, springen und tanzen sie mit den Fans und lassen das Konzert so mit einem besonderen Ende ausklingen.

Wenn’s nicht klappt, war trotzdem nicht alles umsonst

Tarek glücklich beim Auftritt im Club Mumbai Palais. Foto: Sven Schwede

Was ist, wenn es mit dem Traumberuf Musiker*in nicht funktionieren sollte? „Am Ende – und das ist das Geile am Musiker-Dasein – kann man das immer noch als Amateur*in machen, und sich neben seinem Hauptjob mit seinem Hobby etwas dazuverdienen“, sagt Michael Griese.

Seiner Meinung nach könne man aus jeder kreativen Leistung eine Freizeitbeschäftigung machen, mit der man Geld verdient. Trotzdem sei es wichtig, einen Plan B, oder vielleicht sogar einen Plan C zu haben. Das bedeute jedoch viel Arbeit, sagt Griese: „Mehrere Pläne zu verfolgen, heißt ja automatisch, man gibt bei Plan A Vollgas, und muss trotzdem noch ein bisschen Platz für die anderen haben. Im Klartext: Kann auch mal sein, dass man dann eine 7-Tage-Woche hat. Oder einen 16-Stunden-Tag.“

Auch Tarek macht diese Erfahrung: „Ich lasse das Studium schon schleifen, aber ich habe das Gefühl, dass es trotzdem klappt.“ Die Prüfungen könne er auch bestehen, ohne dafür zu lernen, und die Noten seien ihm nicht so wichtig. Dennoch nimmt die Uni Zeit in Anspruch, die er auch in die Musik investieren könnte. Das Studium deshalb abzubrechen, hat er aber noch nie auch nur in Erwägung gezogen.

Ende gut, alles gut

Das Konzert ist vorbei. Die Künstler*innen fallen sich mit breitem Grinsen auf den Gesichtern in die Arme und werden sofort von Fans und Freund*innen empfangen. Nikita und Kevin, das Produzenten-Duo, fangen an, ein DJ-Set zu spielen, während der Rest von PATINA mit dem Publikum redet und tanzt. Die gute Laune verteilt sich in den Straßen, als die Menschen langsam die Location verlassen und weiterziehen.

 

Beitragsbild: Sven Schwede

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