Städte wachsen immer stärker: Mittlerweile leben fast 78 Prozent der deutschen Bevölkerung in Städten, über 600.000 Menschen allein in Dortmund. Was sollte der urbane Raum Menschen bieten und was bietet er ihnen tatsächlich?
Die Gehwege entlang der Mallinckrodtstraße sind voll. Männer in Rollstühlen, Frauen mit Kinderwägen, Senior*innen mit Gehhilfen. Junge Leute tragen ihre Wocheneinkäufe nach Hause, Kinder toben mit Fußbällen. Menschen unterhalten sich auf unterschiedlichen Sprachen. Hier und da campieren Wohnungslose an den Straßenecken. Die Nordstadt ist voll, laut, bunt – und auf die meisten der Einwohner*innen gar nicht ausgelegt.
Trotz ihrer eher kleinen Fläche ist die Nordstadt mit fast 60.000 Einwohner*innen der bevölkerungsreichste Stadtteil Dortmunds. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund lag im Jahr 2021 laut der Stadt Dortmund bei etwa 76 Prozent. Viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen treffen hier aufeinander. Die verschiedenen Facetten ungerechter Stadtplanung werden daher besonders deutlich. In der Nordstadt gibt es viel Platz für Autofahrer*innen, jedoch kaum Radwege. An vielen Orten fehlt es an ausreichender Beleuchtung. Dadurch fühlen sich viele Menschen nachts bedroht und unwohl, wenn sie allein unterwegs sind. Laut einer Studie des Bundeskriminalamts empfindet fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung die eigene Wohngegend als unsicher, fast die Hälfte meidet bestimmte Orte. Sitz- und Verweilmöglichkeiten gibt es kaum. Defensive Architektur, wie beispielsweise mit Armlehnen getrennte Sitzbänke, erschweren Wohnungslosen die Schlafplatzsuche. Öffentliche Toiletten sind Mangelware – die Toilette am Nordmarkt ist die einzige kostenlose öffentliche Toilette in der Nordstadt.
Wieso sind Städte ungerecht geplant?
Die Bedürfnisse vieler Personengruppen werden bei der Stadtplanung nicht berücksichtigt. Laut Humangeografin Annika Stremmer vom Planerladen Dortmund liegt das daran, dass die Betroffenen im Planungsprozess weder beteiligt sind noch beachtet werden. Der Planerladen ist ein gemeinnütziges Unternehmen und Träger verschiedener Angebote & Treffpunkte für strukturell benachteiligte Menschen in der Dortmunder Nordstadt. Projekte wie „Nordstadt to go“ werden gefördert durch das Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI). Der Planerladen bietet auch Integrations- und Sprachkurse an und schafft Begegnungsstätten. Laut Stremmer sind Städte auf die Bedürfnisse eines „Durchschnitts“ konzipiert, der in der Realität nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmacht. Dieser Durchschnitt sei weiß, cis-männlich, finanziell gut aufgestellt und habe keine körperlichen Einschränkungen. Alle Menschen, die nicht in dieses Raster fallen, seien jahrzehntelang kaum oder gar nicht an Bauprozessen beteiligt gewesen.
Dortmund sei dabei kein Sonderfall. „Das ist strukturell verankert“, sagt Stremmer. „Die Stadt kann als baulicher Spiegel der Gesellschaft gesehen werden.“ Entsprechend schlagen sich in der Stadtplanung die gleichen Ungleichheitsdynamiken und Machtverhältnisse nieder, mit denen sich auch eine Gesellschaft konfrontiert sieht. Im Zuge des aktuellen sozialen Wandels breche dieses System zunehmend auf. Immer mehr marginalisierte Gruppen würden Zugang zu den Entscheidungsebenen erhalten. In der Stadtplanung seien inzwischen immer mehr FLINTA* aktiv, sagt Stremmer.
Wie können wir Städte gerechter gestalten?
Beteiligungsveranstaltungen zu geplanten Bau- oder Umgestaltungsmaßnahmen können dazu beitragen, Stadtplanung inklusiver werden zu lassen. Dabei können Anwohner*innen die Nachbarschaft aktiv mitgestalten. Solche Veranstaltungen gab es in der Nordstadt bereits, beispielsweise, als die Stadt Dortmund die Münsterstraße umgestaltet hat. Aber auch bei diesen Veranstaltungen sieht Stremmer Verbesserungspotenzial. Häufig sind die Einladungen zum Beispiel nur auf Deutsch verfasst und die Treffen finden ohne Dolmetscher*innen statt. Das schließe viele Menschen aus.
Aus der Zivilgesellschaft heraus bilden sich immer mehr Initiativen, die sich an Planungsprozessen beteiligen wollen. Die Hafeninitiative, die die Umgestaltung am Hafen kritisch mitbegleitet, oder „No Cam Do“, die sich gegen die Videoüberwachung an der Münsterstraße einsetzt, sind nur ein paar Beispiele. Stremmer sieht die Bereitschaft in der Bevölkerung, sich für das eigene Quartier engagieren zu wollen und den Wunsch danach, etwas bewegen zu wollen. Engagement erfordere aber vor allem freie Ressourcen und freie Zeit. Beides Dinge, an denen es vielen weniger privilegierten Menschen oft mangelt. Die Stadt müsse außerdem offen für die Anregungen der Bevölkerung sein. „Es wäre wichtig, dass die Menschen sehen: Ich bringe mich ein und am Ende wird das wirklich berücksichtigt“, sagt Stremmer.
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