Zehn Jahre Willkommenskultur – Abduls langer Weg in eine neue Heimat

Von der Flucht aus Syrien bis zum Neustart in Deutschland: Der Syrer Abdul schildert, wie er mit Frau und drei Kindern die gefährliche Mittelmeerüberquerung wagte. Zehn Jahre später spricht die Familie fließend Deutsch und hat ihren Platz in der Gesellschaft gefunden.

Damals drängte sich Abdul mit seiner Familie und etwa 70 weiteren Geflüchteten in einem überfüllten Schlauchboot. „Es war extrem gefährlich. Zwei Stunden auf dem offenen Meer, umgeben von großen Schiffen“, erinnert er sich. Als eine mächtige Welle eines vorbeifahrenden Schiffes das Boot erfasste, wäre Abdul, der am Rand saß, beinahe ins Wasser gestürzt. „Gott sei Dank haben mich die anderen festgehalten“, erzählt er heute dankbar. Die Familie hatte nur das Allernötigste dabei – alles andere musste am türkischen Strand zurückbleiben.

Mann sitzt an Tisch
Abdul beim Interview mit KURT.

Es war jener Herbst 2015, als Abdul und seine Familie Teil der Fluchtbewegung wurden, die Europa vor seine größte Herausforderung seit Jahrzehnten stellte. In jener Zeit, als Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre historischen Worte sprach: „Wir schaffen das.“ Und tatsächlich – Abdul und seine Familie haben es geschafft. Heute arbeitet er im Haus der Vielfalt in Dortmund – einem Ort, wo sich die Migrantenvereine der Stadt zusammenfinden. Er ist dort Hausmeister, seine drei Kinder besuchen deutsche Schulen. „Meine Kinder sind jetzt deutsch,“ sagt er mit unüberhörbarem Stolz. „Sie gehen hier zur Schule. Sie wollen hier bleiben.“ Was als verzweifelte Flucht begann, endet mit einer neuen Heimat.

Die gefährliche Flucht aus Syrien

Ihre Reise führte sie zunächst aus dem syrischen Idlib an die türkische Grenze. Mit drei kleinen Kindern – einem Baby, einem Dreijährigen und einem Fünfjährigen – an der überfüllten Grenze zu warten, stellte die Familie vor enorme Herausforderungen.

Die gefährliche Grenzüberquerung in die Türkei war nur nachts möglich. „Wir mussten rennen“, erzählt Abdul. Zwischen den Patrouillen der türkischen Polizei blieben ihnen nur etwa zehn Minuten, in denen 50 bis 60 Menschen die Grenze überqueren mussten – mit den Kindern eine unmögliche Aufgabe. Der erste Versuch scheiterte: Abdul schaffte es mit dem Baby in die Türkei, während seine Frau mit den beiden älteren Kindern auf der anderen Seite der Grenze zurückbleiben musste – die Familie wurde getrennt. Abdul kehrte um. An einem anderen Grenzübertritt klappte es dann. Von Istanbul aus organisierten Schleuser dann die dramatische Überfahrt, 2500 Dollar musste Abdul für sich und seine Familie dafür zahlen.

Die Ankunft am Strand der griechischen Insel Chios erlaubte keine Atempause: „Niemand kam, um uns zu helfen. Mit durchnässter Kleidung mussten wir vier Kilometer laufen und die erste Nacht im Freien verbringen“, erinnert sich Abdul. Vier Tage lang musste die Familie in Zelten leben, da alle Hotels überfüllt waren.

Strapazen auf dem Weg nach Deutschland

Europa Karte mit Fluchtroute eingezeichnet als Grafik
Abduls Fluchtroute durch Europa.

Mit einem Schiff erreichten sie das griechische Festland. Ihre Route führte weiter durch Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich – ein Weg voller Hindernisse. „In Slowenien warteten wir zwei Tage an der kroatischen Grenze und nochmals zwei Tage an der österreichischen“, berichtet Abdul. Die Zustände waren prekär: „Wir durften nicht raus, es gab kaum Essen und nur schmutzige Toiletten.“

An der österreichischen Grenze erlebte die Familie einen Albtraum: „Ich hatte meinen Sohn verloren“, erzählt Abdul.

Zwischen syrischen und afghanischen Geflüchteten war es zu einem Konflikt gekommen. Die Polizei reagierte und teilte die Menschenmenge in zwei Gruppen auf. Im Chaos wurde auch sein Sohn von der Familie getrennt. Ein tunesischer Helfer unterstützte sie dabei, das Kind wiederzufinden.

Die ersten Schritte in der neuen Heimat

Die Familie erreichte schließlich Deutschland und wurde zunächst nach Friedland bei Göttingen gebracht, später nach Oldenburg in eine Flüchtlingsunterkunft. „Es war sehr schön dort, mit hilfsbereiten Menschen“, erinnert sich Abdul. Besonders der Heimleiter Paul unterstützte die Familie. Er organisierte ein Zimmer für die Familie und half später auch bei der Wohnungssuche.

In Oldenburg begannen Abdul und seine Familie, sich ein neues Leben aufzubauen. Abdul meldete sich sofort für einen Deutschkurs an, denn die Sprache lernen – das war für ihn das Wichtigste. Abduls Frau folgte seinem Beispiel und erreichte schnell das B1-Sprachniveau. Heimleiter Paul organisierte schnell eine Kostenübernahme bei der Volkshochschule. Auch die Kinder von Adbul fanden rasch ihren Platz im neuen Land.

Eine deutsche Familie aus Oldenburg spielte eine Schlüsselrolle bei ihrer Integration: Frau Linke und ihr Mann, Nachbar*innen der Familie, unterstützten die Familie bei Behördengängen, Arztbesuchen und alltäglichen Herausforderungen. 

Hürden bei der beruflichen Integration

Mann(Abdul) räumt Tassen in Schrank
Abdul während der Arbeit im Haus der Vielfalt in Dortmund.

Doch der Neuanfang hatte seine Tücken. In Syrien hatte Abdul fünf Jahre als Apotheken-Assistent gearbeitet. Die Anerkennung seiner Qualifikation scheiterte zunächst an einem banalen Übersetzungsfehler – der beauftragte iranische Übersetzer kam mit den syrischen Dokumenten nicht zurecht und nutzte vermutlich einfach ein Übersetzungstool aus dem Internet.

Auch Abduls Frau hatte Probleme bei der Anerkennung ihrer Unterlagen, in Syrien arbeitete sie als Englischlehrerin. In Deutschland ist das nicht möglich, sie müsste noch einmal komplett neu studieren. Für sie kommt Arbeiten wegen gesundheitlicher Probleme aber sowieso nicht in Frage. Seit der kräftezehrenden Reise nach Deutschland leidet sie unter Nährstoffmangel und benötigt Infusionen.

Für Abdul scheiterte eine erneute Ausbildung auch an Problemen mit der deutschen Sprache. Erst Jahre später stellte sich mit Hilfe eines syrischen Professors heraus: Die syrische Qualifikation wird in Deutschland doch anerkannt. Abdul sagt, er sei auch enttäuscht von deutschen Behörden gewesen. Oft habe er sich allein gefühlt und hätte sich mehr Unterstützung erhofft.

Schwierige Arbeitsbedingungen

Mann bedient Kaffeekocher
Abdul kocht Kaffee für Gäste im Haus der Vielfalt.

Statt in seinem erlernten Beruf zu arbeiten, musste Abdul verschiedene Jobs annehmen. Er berichtet von gesundheitsgefährdender
Arbeit in einem Chemieunternehmen: „Wir arbeiteten mit Pulver ohne ausreichenden Schutz oder Frischluft.“ Die Arbeit machte ihn krank, besonders wegen einer früheren Operation an den Nasennebenhöhlen. 

Danach folgte ein Job bei einem Stahlunternehmen in Bochum unter harten Bedingungen: „Sehr schwere Arbeit, manchmal Nachtschichten bis ein Uhr.“ Als einem verletzten Kollegen nach kurzer Krankschreibung gekündigt wurde, zog Abdul Konsequenzen und kündigte selbst.

Ein neues Zuhause in Dortmund

In Dortmund fühlt sich die Familie endlich angekommen. „Die Atmosphäre hier, die Kollegen, die Menschen – alles fühlt sich wie Familie an“, sagt er zufrieden. Eine Rückkehr nach Syrien kommt für die Familie nicht mehr in Frage. „Meine Kinder sind jetzt deutsch. Sie bauen hier ihre Zukunft auf. Das ist ihre Entscheidung, nicht meine.“

Besonders stolz ist er auf die Entwicklung seiner Kinder. Sein 15-jähriger Sohn hat eine Ausbildung im Blick, seine Tochter in der 9. Klasse interessiert sich für Informatik, die jüngste Tochter besucht die 6. Klasse. „Ich bin stolz, dass meine Kinder so schnell lernen“, sagt Abdul. „Sie haben gute deutsche Freunde und machen keine Probleme.“

Zwischen zwei Welten

Mann arbeitet an Computer
Abdul bei administrativer Arbeit im Haus der Vielfalt.

Neben der Einbürgerung sagt er, sei der 8. Dezember des vergangenen Jahres einer der schönsten Tage gewesen – als der langjährige syrische Präsident, Baschar Al-Assad von Rebellen gestürzt wurde. Wenn Abdul heute über Syrien spricht, wird aber auch deutlich, warum eine Rückkehr für ihn keine Option ist: „Fast 80 Prozent der Gebäude sind zerstört – keine Häuser, kein Strom, kein Wasser, keine Schulen.“ Nur die großen Städte würden noch einigermaßen funktionieren.

Die Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, hat auch praktische Gründe: Seine Kinder sprechen zwar Arabisch, können es aber nicht schreiben, erklärt Abdul. Ein Leben in Syrien sei für sie kaum vorstellbar. Abdul hat diese Realität akzeptiert: „Wir sind jetzt deutsch, wir bleiben hier.“

In Dortmund hat die Familie ihr neues Zuhause gefunden. Die Stadt mit ihrer vielfältigen Gemeinschaft gefällt ihnen. „In Dortmund sind die Menschen hilfsbereit“, sagt Abdul. Einer Tätigkeit in seinem ursprünglichen Beruf steht jetzt zwar auf dem Papier nichts mehr im Weg, dafür gibt es aber andere Hürden. Er sei zu alt und zudem auch noch ein Mann, merkt Abdul an. Gesucht würden auf der Position vor allem junge Frauen. Trotzdem hat er seinen Platz gefunden. Seine Geschichte zeigt die Herausforderungen der Integration, aber auch ihre Chancen. Beim Gang durch das Gebäude seiner Arbeit zeigt er stolz auf eine frisch gestrichene Wand. Das haben sie gemeinsam letzte Woche gemacht. Alle haben geholfen. „Ich bin hier zufrieden.“

 

Fotos & Grafik: Leon Kügeler

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