SPD: Absturz einer Volkspartei

Die SPD ist im Sinkflug: Das Jahr 2018 war ein neuer Tiefpunkt für die gebeutelte Partei. Und auch im neuen Jahr gibt es kaum Gründe für Zuversicht. Auf allen Ebenen verliert die Partei an Rückhalt: Nicht nur im Bund, auch im ehemaligen SPD-Vorzeigeland Nordrhein Westfalen kommt die Partei nach Umfragen im Auftrag der Rheinischen Post nur noch auf 19 Prozent und liegt damit gleichauf mit den Grünen.

Das ist eine Katastrophe für die Partei, die hier seit Mitte der 60er Jahre bis 2005 ununterbrochen die Landesregierung angeführt hatte. Und auch im Ruhrgebiet geht es mit der SPD bergab. Mit der Schließung von Prosper Haniel, der letzten Zeche im Ruhrgebiet, bleibt von Kohle und Stahl außer Folklore nicht mehr viel übrig. Der einstmals so starke Arbeiterbewegung gehen die Arbeiter aus.

Horst Heimann ist seit 1954 SPD-Mitglied.

Horst Heimann ist seit 1954 in der Partei. Er hat die 68er-Bewegung und den Aufstieg der SPD zur Volkspartei unter Willy Brandt miterlebt und muss jetzt dabei zusehen, wie die Partei seit Jahren stetig abrutscht. Der 85-Jährige kam Mitte der 70er Jahre nach Dortmund, um für die SPD-nahe Friedrich Ebert Stiftung in Siegen zu arbeiten. Der Sozialdemokrat erinnert sich an die Zeit der 60er und 70er Jahre zurück: „Das war eine ziemlich lebendige politische Zeit.“ Heimann spricht von Debatten über Reformen und Revolution – und dass die SPD damals eine entscheidende Stellung in der Gesellschaft hatte: „Die 68er wollten die Revolution und dass dann ganz schnell der Sozialismus kommt. Die SPD hat dagegen Reformen angeboten, die viele Menschen überzeugt haben.“

Die SPD hat ihre Dynamik verloren

Der Sozialdemokrat ist sich sicher: „Die SPD in Nordrhein Westfalen hat weder jetzt noch in den vergangenen 20 Jahren eine vergleichbare Rolle gespielt wie in den 60er und 70er Jahren. Damals war NRW das Musterland der Sozialdemokratie. Das hat ab den 80er Jahren zu einer gewissen Müdigkeit geführt.“

Das sieht Politikwissenschaftler Dr. Martin Florack von der Uni Siegen ähnlich. Ergebnisse von über 60 Prozent im Ruhrgebiet hätten die Partei ein Stück weit eingeschläfert: „Durch ihren Erfolg ist die SPD zum Teil bräsig geworden.“ Und wenn die Dynamik verloren ist, dann kommt sie auch so schnell nicht mehr wieder. Laut Florack fehlt es an jüngeren Politikern, die wieder Bewegung in die Partei bringen würden: „Die SPD im Ruhrgebiet hat ein Nachwuchsproblem. Es fehlen junge Leute mit Profil.“

Es fehlen junge Leute mit Profil

Dr. Martin Florack, Politikwissenschaftler

Gegen diesen Trend will Jessica Rosenthal, die Juso-Vorsitzende von NRW, ankämpfen. Die 26-Jährige fordert von den SPD-Spitzen ein, dass sich die Partei so schnell wie möglich erneuert: „Wir müssen als Partei jünger und diverser werden. Junge Menschen, Frauen und zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund müssen in unserer Partei mehr Chancen kriegen.“ Dazu müsse sich die Partei verständlicher ausdrücken: „Die krasse Bildungssprache und das Geschwurbel müssen aufhören. Jeder soll unsere Positionen verstehen.“

Der Kontakt zum Wähler ist verloren gegangen

Aus Sicht von Horst Heimann hat die Partei zu lange in ihrem eigenen Saft geschmort: „Man hatte untereinander Kontakt und wusste, wie man sich gegenüber den eigenen Leuten benehmen muss, die dann für oder gegen einen stimmen. Da sind die Sachprobleme im Hintergrund verschwunden. Für den Wähler ist es nicht interessant, ob der eine mit dem anderen verkracht ist, oder ob man sich untereinander verträgt.“  Dadurch habe es auch immer weniger politische Diskussionen gegeben: „Im Mittelpunkt stand immer nur die Frage: Wer darf was werden? Wenn du dich programmatisch zu sehr profiliert hast, dann schadete das. Gefragt waren die reinen pragmatischen Aufsteiger“, so Heimann.

Im Mittelpunkt stand immer nur die Frage: wer darf was werden?

Dass sich die SPD von den Wählern entfremdet hat, könne man vor allem an der gesunkenen Wahlbeteiligung sehen, erklärt Martin Florack: „Die SPD bringt ihre Wähler nicht mehr an die Wahlurne. Sie kann ihr Klientel nicht ausschöpfen.“ Nach Zahlen der Landesdatenbank NRW hatte die SPD bei der Landtagswahl 1985 im Ruhrgebiet über 1,9 Millionen stimmen, 2017 waren es nur noch knapp 860.000. Das liegt laut dem Politikwissenschaftler auch daran, dass viele Menschen sich nicht mehr von der Politik vertreten gefühlt hätten. Und die SPD habe es mit einem etwas abgehobenen Stil nicht geschafft, diese Menschen wieder für sich zu gewinnen.

Hartz IV war ein großer Knackpunkt

Und schließlich habe sich die Partei nicht nur in der Sprache, sondern auch inhaltlich von ihren Wählern entfremdet, meint Heimann. Er kritisiert den Kurs, den seine Partei Ende der 90er Jahre eingeschlagen habe: „Die SPD hat nachgelassen, weil sie Leute wie Wolfgang Clement (ehemaliger Ministerpräsident von Nordrhein Westfalen, Anm. d. Red.) an der Spitze hatte, der eine neoliberale Politik gemacht hat.“ Und auch Gerhard Schröder habe die SPD mit seiner Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen runtergerissen: „Etwas Unglaubliches, dass jemand, der vierzig Jahre gearbeitet hat, ein Jahr Arbeitslosengeld bekommt. Und dann fällt er in die Sozialhilfe und muss sein Erspartes aufbrauchen, ehe er Hartz-IV bekommt. Das war eine so üble Sache, die langfristig wirkt. Das hat nicht nur die Arbeitslosen aufgeregt, sondern auch die, die nicht arbeitslos geworden sind.“

Wir müssen endlich zu unserem Fehler stehen und sagen: So wars und wir wollen das Vertrauen zurückerkämpfen

Jessica Rosenthal, Vorsitzende der NRW-Jusos

Wenn es nach Jessica Rosenthal ginge, müsste die Partei ihre Reformen von damals noch einmal gründlich überarbeiten. „Die Agenda 2010 war ein Fehler und hätte so nicht gemacht werden dürfen. Wir müssen Konzepte für die Zukunft der Sozialversicherung entwickeln. Und wir müssen endlich zu unserem Fehler stehen und sagen: So wars und wir wollen uns das Vertrauen zurückerkämpfen.“

Die SPD habe mit den Reformen von Schröder viel Vertrauen verspielt, erklärt die Politikwissenschaftlerin Dr. Kathrin Rucktäschel von der TU Dortmund. „Mit der Agenda 2010 hat sich die SPD aus Sicht des Wählers ein Eigentor geschossen“, meint Rucktäschel. „Der große Knackpunkt ist, dass ausgerechnet die Partei, die für das Soziale steht, am Ende die Partei war, die die Hartz-IV Gesetze umgesetzt hat. In dem Fall kann der Wähler ein Gedächtnis wie ein Elefant haben“, erklärt die Politikwissenschaftlerin weiter.

Auch Martin Florack meint, dass die Reformen der SPD geschadet hätten: „Die Agenda 2010 hat bestimmte Gruppen erschüttert, die indirekt betroffen sind und Angst haben, selbst Empfänger von Sozialleistungen zu werden. Die Partei hat damit Abstiegsängste in der unteren Mittelschicht entfacht.“ Beide Politikwissenschaftler sind sich einig: So richtig helfen die Diskussionen über Hartz-IV, die gerade in der Partei laufen, nicht: „Die SPD kommt nicht über ihr Hartz IV-Trauma hinweg“, sagt Florack. Aus Sicht von Rucktäschel würde die Abschaffung von Hartz IV nur zeigen, wie hilflos die Partei gerade agiert: „De facto ist das ja ziemlich inkonsequent: Einerseits führt man es ein, dann merkt man, dass es beim Wähler nicht ankommt und schafft es dann wieder ab.“

Die SPD kommt nicht über ihr Hartz-IV-Trauma hinweg

Dr. Martin Florack, Politikwissenschaftler

Und noch etwas hat der SPD im Ruhrgebiet massiv Stimmen gekostet. Es habe der SPD vor allem geschadet, dass sie während ihrer Regierungszeit zu wenig getan habe, meint Martin Florack: „Die SPD hat es trotz ihrer Fixierung aufs Ruhrgebiet nicht geschafft, eine richtige politische Einheit aus dem Ruhrgebiet zu machen.“ Das Ruhrgebiet ist zwischen den Regierungsbezirken Münster, Düsseldorf und Arnsberg aufgespalten. So haben die angrenzenden Städte lange Zeit wenig miteinander zusammengearbeitet. Durch die schlechte Zusammenarbeit untereinander erklärt sich zum Teil auch der zweite Kritikpunkt von Florack: „Die SPD hat sich als Treiber des Strukturwandels inszeniert, aber die blühenden Landschaften sind zum großen Teil ausgeblieben.“ Auch Rucktäschel meint, dass die Partei viele Menschen mit dem Strukturwandel verloren habe: „Die SPD hat gesagt: Die Kohle fällt weg, aber wir fangen das durch den Aufbau eines Wissensstandortes auf. Nur dieser Wissensstandort, da kann man keinen alten Kumpel hinschicken.“

Der Partei fehlen Schlagwörter

Und wofür steht die Partei heute? Offenbar scheint das keiner so genau zu wissen. „Die SPD ist immer noch durcheinander“, meint zum Beispiel Horst Heimann. Jessica Rosenthal kann diese Frage auch nicht wirklich beantworten: „Das Profil der SPD ist momentan viel zu unklar. Viele Menschen haben den Wunsch, dass wir es schaffen, ihre Probleme zu lösen. Aber sie trauen es uns grade nicht zu.“ Das könnte auch damit zusammenhängen, dass die SPD noch zu sehr im Gestern lebt, meint Martin Florack: „Das Angebot der Partei ist falsch. Die Klientel der Industriearbeiterschaft gibt es heute nicht mehr.“ Und auch Rucktäschel sieht nicht, dass sich die Partei weiterentwickelt: „Die SPD hat es nicht geschafft, ein neues politisches Schlagwort zu besetzen. Die FDP hat es unter Lindner geschafft, sich mit dem Thema Digitalisierung neu zu positionieren. Bei den Grünen weiß man auch sofort, wofür sie stehen, aber was hat die SPD?“

Bei der letzten Bundestagswahl 2017 kam die SPD nur noch auf rund 30 Prozent im Ruhrgebiet. Die CDU hat knapp 27 Prozent erreicht. Das ist für die Christdemokraten sicher kein Spitzenwert, aber die Partei hat es im Vergleich zur SPD geschafft, sich auf einem bestimmten Niveau stabil zu halten. Und wenn man sich die jüngsten Umfragen vom Meinungsforschungsinstitut Mentefactum für NRW anguckt, bei der die SPD auf 19 Prozent kommt, dürften die Sozialdemokraten im Ruhrgebiet noch weiter abgerutscht sein. Der Rückhalt der SPD ist schon bedenklich zusammengeschmolzen: 62 Prozent hatte die Partei bei der Landtagswahl 1985 geholt. Früher wurde das Ruhrgebiet als die „Herzkammer der Sozialdemokratie“ bezeichnet. Inzwischen ist die SPD auch hier weit entfernt von Werten über 40 Prozent.

Damit die Lage für die SPD wieder etwas besser wird, wünscht sich Heimann von seiner Partei endlich wieder große Antworten auf die Fragen der Zeit: „Es stehen viele Nebenfragen im Mittelpunkt. Aber die große Linie, die du brauchst, um als Partei attraktiv zu sein, die ist unsicher geworden.“ Und er sieht im Moment eine Partei, die das im Vergleich zu seinen Sozialdemokraten verkörpert: „Die Grünen profitieren von unserer Krise und haben gute Positionen. Ich habe die Reden auf dem Parteitag verfolgt und fühlte mich da politisch so wohl wie bei einem Parteitag der SPD in den 60er oder 70er Jahren.“


Offenlegung: Ich bin selbst Mitglied der SPD und habe mich entschlossen diesen Beitrag zu schreiben, weil mich die Lage der Partei betroffen macht. In dem Beitrag habe ich nach Gründen für den Absturz gesucht. Dabei habe ich darauf geachtet, dass ich nicht meine eigene Meinung in den Beitrag einfließen lasse und die Protagonisten und Experten so viel wie möglich mit ihren Perspektiven zu Wort kommen.

Headerbild: Olaf Kosinsky / kosinsky.eu – lizensiert nach: CC BY-SA 3.0 DE

Beitragsbild: SPD Schleswig-Holstein / lizensiert nach: CC BY 2.0

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1 Kommentare

  1. says: Rolf Mueller Gerhard

    Es ist nicht zwar nicht erstaunlich, dass es endlich wieder solche Einschätzungen gibt in der NRW-SPD und in SPD nahen Kreisen. Doch diese Erkenntnisse, so richtig und so logisch sie sind, fast allen Erkenntnissen kann ich zustimmen, hatten einen langen Weg in die Öffentlichkeit über die betreffenden OV und Kreisverbände hinaus. Man kann es fast nicht mehr hören, dass wir stolz sein können, was wir in der Regierung erreicht haben, und gleichzeitig wollen uns als SPD immer weniger. Nicht nur die Juso-Vorsitzende, auch der Fraktionschef im Landtag bringen gute neue Ideen ein, auch der neue Vorsitzende fordert grundlegende Veränderungen. für die Gesamtpartei. Und junge MdB wie W. Esdar und weitere wollen eine andere Sozialpolitik. Hartz IV mit den Sanktionen muss in dieser Form weg, die JUSOS sind Teil der Partei, nicht nur Rebellenanhängsel. SPD erneuern muss weitergehen und nicht Disziplinierung und Fraktionszwang dominieren, und nur schauen, dass man mit der Union einen Kompromiss vereinbaren kann. Die Zeit von Gerhard und Franz ist vorbei , und Andrea hat bei ihnen gelernt. Wir brauchen eine Doppelspitze mit Sympathieträgern, sonst lachen uns Habeck und Bearbock und Co. noch aus, denn sie bringen solche Ideen ein, die wir eigentlich selbst hätten haben sollen. Aber mit ihnen zusammen, auch Kipping von den Linken fordert nun ähnliches, sollten wir schon etwas zu einer sozial gerechteren Republik tun, ab und zu im Bundestag sich wieder gegenseitig beklatschen, damit wir wieder auf uns selbst stolz sein können. Warum nur sind es lediglich die Namen von zwei Frauen im Ministerrang, die die höchste Anerkennung bei mir haben, bei anderen die Kurve nach unten geht und die derzeitige SPD-Außenpolitik ist meilenweit von Willis neuer Ostpolitik der Siebziger entfernt, die so hohe Zustimmungsraten hatte – seinerzeit.

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