Gäbe es ein Land, um für kurze Zeit den Uni-Alltag zu vergessen, dann wäre das Vietnam. Findet zumindest Autorin Kimberly Becker. Sie war nicht nur ein paar Tage sondern ein ganzes Semesters dort und nimmt euch mit in das Herz des Landes: Saigon.
An Touristen-Hotspots fehlt es Tausende Kilometer von Deutschland entfernt nicht. Aber Saigon kann mehr. Viel mehr. Und das spürt man eben nicht zwischen den Smartphones und Kameras der Touristen, die sich auf ihre Reisebroschüren verlassen. Die Faustformel lautet: Sind mehr vietnamesische Hipster als Touristen zu sehen, dann ist das der richtige Ort.
Ein Mikrokosmos
Während eines Spaziergangs in der Innenstadt fällt auf, dass von der Hauptstraße eine Gasse nach der anderen scheinbar ins Nichts führt. Was erst auf den zweiten Blick sichtbar wird: das Leben, das sich in diesen kleinen Mikrokosmen abspielt. Touristen verirren sich in diese versteckten Ecken kaum. Dabei wäre schon der Kleidungsstil der vietnamesischen Jugendlichen, die die Durchgänge als Kulisse für Fotoshootings nutzen, einen Blick wert. Eine große runde Brille, ein übergroßes T-Shirt und ausgefallene Socken tragen sie fast alle. Die Hào Sĩ Phường Gasse liegt in Distrikt fünf – auch das Chinatown Saigons genannt. Wer durch den Komplex wandert, taucht gleichzeitig in den Alltag der Bewohner ein und kann sie so – wenn auch nur aus der Distanz – etwas besser kennenlernen. Am Tor sitzt eine Frau, die kalten Tee (Trà Đá) für 5000 Đồng – ungefähr 20 Cent – verkauft. Der schmale Weg hat einen unteren und oberen Bereich. In einem Abstand von einem Meter reiht sich hier Tür an Tür. Aus der einen schielt eine alte Dame ab und an heraus, um nach ihrer trocknenden Wäsche zu schauen. In der Ecke liegt eine Katzenmutter mit ihren Kindern im Halbschatten und ruft nach Aufmerksamkeit.
Über eine Treppe in einem dunklen Gewölbe sind die beiden Bereiche miteinander verbunden. Typisch für Vietnam: Neben jeder Eingangstür ist ein kleiner Altar zum Gedenken an die Vorfahren aufgebaut und der Duft von Räucherstäbchen steigt in die Nase. Der vermischt sich mit dem Geruch von nassem Hund und Fischsauce. Der Komplex ist etwas dreckig. Fast nichts in Saigon ist wirklich hygienisch – manchmal huscht auch eine Kakerlake über den Boden. Eine Sache der Gewohnheit.
Ghost Tour
Drei leergefegte Hochhäuser mitten in Saigon: Niemand möchte hier mehr wohnen seit sich viele Menschen aus Geldnot vom Dach gestürzt haben. Die geplagten Seelen sollen sich noch immer dort herumtreiben. So sagt es zumindest ein Mythos. Nur bei der Ghost Tour trauen sich Einheimische mit Touristen in die Nähe und erzählen Geschichten zu der Spiritualität der Vietnamesen. Die ist tief in der Kultur verwurzelt. Die Hochhäuser bilden nur eine Station der Tour und ganz so düster geht es nicht immer zu. Laute Musik mit Trommeln und Glocken und der Geruch von Räucherstäbchen kommen einem entgegen, während die bunten Farben direkt ins Auge fallen und vergessen lassen, wo man sich befindet: im Funeral House, dem Haus der Beerdigung. Hier können die Menschen eine Trauerfeier abhalten, wenn sie zu Hause nicht genug Platz haben – bis zu zehn Mal passiert das an einem Abend. Die Grenzen zwischen Trauerfeier und Party verschwimmen dabei schnell. Dennoch erschleicht einen ein bedrückendes Gefühl. Die lauten Töne können die ernüchterten und müden Gesichtszüge der Familien nicht verdecken – für Stunden beten und trauern die Menschen. Dieses Empfinden und die Nähe zu den Verstorbenen lässt Vietnamesen auch daran glauben, dass sie die Geister spüren oder sehen können.
Saigon is Burning
Es ist grell, verrückt und lässt einen ab und zu vergessen, was Geschlechter eigentlich sind. „Saigon is Burning“ – eine Drag-Queen-Show, die einmal im Monat in einer angesagten Bar in Saigon stattfindet. Das Prinzip der Show ist einfach: Fünf Drag Queens performen während ihrer Playback-Darbietung und die Jury entscheidet, welche zwei Kandidatinnen ins Finale kommen. Dabei geht es um das Gesamtpaket: das Outfit, die Auswahl des passenden Liedes und die Interaktion mit dem Publikum.
Die Melodie von Pinks „Raise your Glass“ beginnt und das Publikum bewegt sich passend zum Beat. Séa Monue hat das Publikum seit der ersten Sekunde auf ihrer Seite. Ins Auge sticht das schrille Make-Up mit pink-rotem Liedschatten, der großzügig aufgetragen wurde, und der lange, dunkle und mit Blümchen geschmückte Bart – Kontraste, von der diese Shows leben. Die Performances sind improvisiert, dennoch sitzt jede Schrittfolge und jeder Handgriff. Mit Beginn des Refrains „So raise your glass if you are wrong“ schmeißt die Queen den Rock beiseite und entblößt ihre muskulösen Beine. Sämtliche Sinne werden angesprochen. Die Kostüme sind außergewöhnlich, die Lieder fordern dazu auf mitzusingen und die Auftritte haben meist eine kritische Intention. So handeln manche Performances von der Politik Trumps oder vom Brexit.
Ein Ausflug ins Mekong Delta
Ein Labyrinth aus Flüssen, Reisfelder und der Anbau von Zuckerrohr: Das Mekong Delta, wo das Boot das wichtigste Fortbewegungsmittel ist, ist wegen seiner Nähe zum Meer und dem Handel ein wichtiger Bestandteil Vietnams. Die unzähligen Flussmündungen sind wohl die bekannteste Attraktion, die dschungelartige Umgebung ist mit ihren Bootsfahrten durch das Delta berühmt.
Den Weg von der Stadt in den äußersten Süden gelingt am besten mit dem Bus. Im Doppeldecker sitzt man nicht, die Fahrgäste liegen. Auf den beiden Etagen sind Betten verteilt. Und auf all den holprigen Straßen ins Delta kann die Fahrt – besonders im Liegen – schnell zu einer Achterbahnfahrt werden. Für 130.000 Đồng, etwa fünf Euro, gibt es auf dem Weg ins Delta ungefähr drei Stunden Abenteuer.
Aus dem Bus ausgestiegen, geht es erst los. Zum Beispiel mit den sogenannten Homestays. Sie liegen direkt am Fluss und bestehen meistens aus mehreren Bungalows, die aus Holz und Bambus gebaut und durch Hängebrücken miteinander verbunden sind. Die Besitzer bauen ihr Essen häufig selbst an. Vor dem Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang kommen auch die Bewohner aus der Stadt ans Ufer und die Kinder kühlen sich im Fluss ab. Während der Bootsfahrt grüßen die Familien aus ihren kleinen Häusern, von denen man nicht glauben kann, dass mehrere Generationen dort gemeinsam wohnen.
Genauso eng ist es auf den Handelsbooten auf dem schwimmenden Markt. Die Verkäufer leben in winzigen Kajüten, weil der meiste Stauraum für die Ware verwendet wird – geschlafen wird zwischen erdigen Süßkartoffeln und Zwiebeln. Eine ältere Dame fährt zügig vorbei und der Wind trägt den Duft von frischem Kaffee und gegrilltem Essen zum eigenem kleinen Motorboot der Touristen herüber. Ein kurzer Augenkontakt reicht, um die Frau stoppen zu lassen. Sie greift nach dem Boot, hält es fest und bietet ihre Ware in gebrochenem Englisch an. Die Entscheidung fällt auf die klebrig, fast schon zu süßen Kokosnuss-Bonbons. Proviant für die Rückreise aus dem Dschungel ins Herz von Vietnam.
Beitragsfotos: Kimberly Becker