Das Geräusch von knirschendem Laub unter schweren Wanderschuhen. Sonnenstrahlen zwischen dichten Ästen. Leise Unterhaltungen, zwischendurch ein Lachen. „So,“ sagt Witali irgendwann und bleibt stehen, „jetzt machen wir noch eine kleine Übung. Ich möchte euch bitten, eure Schuhe auszuziehen, und dann gehen wir die nächsten paar Hundert Meter barfuß.“ Schon hat er seine eigenen Schuhe und Socken in der Hand.
Das Dutzend Menschen, das um ihn herumsteht, schaut noch etwas verwundert. Aber sie sind ja heute aus der Stadt hinaus ins Bergische Land gefahren, um ein kleines Abenteuer zu erleben, und barfuß durch den Wald zu marschieren, gilt in der Stadt auf jeden Fall als abenteuerlich. Also werden die Wanderschuhe aufgeschnürt und es geht einen schmalen Weg hinauf. Oben warten zwei Mountainbiker. Die beiden Männer grüßen freundlich, dann schauen sie den Wanderern auf die nackten Füße. Sie sagen nichts weiter.
Draußensein als Erlebnis
Wenn Witali über das Barfußlaufen spricht, dann klingt das fast nach einer religiösen Erfahrung. „Es geht darum, sich zu erden“, sagt er, und weil das Wortspiel nicht unabsichtlich ist, schmunzelt er dabei. Witali Bytschkow, Anfang 30, Wahlkölner, hat in den letzten Jahren einige solcher Erfahrungen gesammelt – sowohl barfuß als auch mit Schuhen. Insgesamt 4300 Kilometer ist er durch Europa gewandert, davon gut die Hälfte gemeinsam mit seiner Freundin Svenja.
Seinen Job als Unternehmer hatte er dafür aufgegeben, sich monatelang mit sich selbst und der Natur auseinandergesetzt. „Sobald man erst mal unterwegs ist, merkt man, wie man seine Gedanken loslassen kann“, sagt er. „Der Körper stellt sich aufs Laufen ein und man spürt, dass man dafür gemacht ist. Das ist etwas ganz Menschliches.“
Mittlerweile arbeitet Witali wieder, nach draußen zieht es ihn weiterhin. Und weil es vielen Menschen in den Großstädten so geht wie ihm, ist er längst nicht mehr immer allein unterwegs. Seit ein paar Monaten organisiert Witali Wanderungen für Gruppen. „Mikroabenteuer“ nennen sich diese kurzen Ausflüchte aus dem Alltag und sie werden immer beliebter. Für seine Herbstwanderung durch das Bergische Land gab es sogar eine Warteliste.
Mehr als bloß Laufen
Das Mikroabenteuer beschreibt Witali als „kleines Abenteuer, das nicht viel Vorbereitung braucht“. Er gibt eine Route vor und ein Thema, um das sich der Ausflug drehen soll. Oft geht es dabei um Entschleunigung, um Selbstaufmerksamkeit – all diese Dinge, nach denen sich Stadtmenschen irgendwie sehnen und mit denen sie sich im Alltag kaum beschäftigen. Die Menschen, die mit Witali gemeinsam rausgehen, stehen meist mitten im Studium oder schon im Berufsleben. Viele sind Akademiker, oft haben sie bereits Wandererfahrung. Auf dem Mikroabenteuer suchen sie allerdings eine Erfahrung, die über das reine Wandern hinausgeht.
Immer wieder gibt es kleine Übungen – neben dem Barfußlaufen beispielsweise auch Fragerunden, bei denen sich die Teilnehmer besser kennenlernen können und eine Ruhezeit, in der schweigend gewandert wird. Diese Übungen leitet Witali gemeinsam mit einem befreundeten Achtsamkeitstrainer. Das Ziel: Die Wanderer sollen zur Ruhe kommen, Energie tanken, aber vor allem auch etwas über sich und andere lernen. Der Wald wird dabei zum Mittel, das diese Erfahrungen ermöglicht.
Mikroabenteuer als Trend
„Wenn sich Menschen dadurch für die Natur begeistern lassen und dann selbst aktiv werden, ist das eine schöne Sache“, sagt Stefan Winter, Leiter des Ressorts Sportentwicklung beim Deutschen Alpenverein in München. „Aber man muss natürlich auch sagen: Eine wirklich neue Idee ist das nicht.“ Wie in der Mode gebe es auch im Outdoor-Bereich Trends, die unter wechselnden Namen immer wiederkämen. „Über das Modewort hinaus ist das für uns als Verein nichts Neues. Insofern verfolgen wir diesen Trend nicht aktiv mit“, erklärt Winter.
Als „Microadventure“ wurde der Begriff von Alastair Humphreys, einem britischen Abenteurer, geprägt. Er definierte das kleine Abenteuer als Gegenstück zu den großen Fernreisen, die viel Zeit und Geld benötigen, und beschrieb es als
Small and achievable, for normal people with real lives.
In Deutschland hat der ehemalige Sportjournalist Christo Foerster die Mikroabenteuer bekannt gemacht. Auf Basis von Humphreys‘ Definition legte er für sich selbst neue Regeln fest: Bei einem Mikroabenteuer möchte er sich nicht mit dem Auto oder Flugzeug fortbewegen, sondern höchstens mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Abenteuer dürfe maximal 72 Stunden dauern, übernachtet werde draußen ohne Zelt und Müll dürfe auf keinen Fall in der Natur zurückgelassen werden. Seit 2018 hat Foerster zwei Bücher zu dem Thema veröffentlicht und eine Facebook-Gruppe gegründet, in der sich Leute über ihre Abenteuer austauschen können.
„Es scheint so, als würde die Idee dahinter bei vielen Menschen gerade einen Nerv treffen“, sagt er. „Das hängt sicher auch damit zusammen, dass unser Alltag heute viel weniger abenteuerlich ist als er es zum Beispiel vor 30 Jahren war. Allein durch unsere Smartphones wissen wir ja ständig, wo wir lang müssen und ob es innerhalb der nächsten zwei Stunden Regen gibt.“ Durch die häufigen kleinen Abenteuer habe sich sein Alltag verändert, er suche öfter nach neuen Herausforderungen.
Auch Abenteuer haben Grenzen
„Ein wenig sehe ich bei diesem Trend die Gefahr, dass sich Menschen dabei gegenseitig zu immer verrückteren Aktionen animieren könnten“, sagt Winter. „Das kann auch gefährlich werden.“ Kritisch betrachte er außerdem Abenteuer in der Nacht: „Es gibt im Wald viele nachtaktive Tiere, die es nicht gewöhnt sind, wenn dort im Dunkeln auf einmal Menschen herumlaufen. Die Natur sollte auf keinen Fall beeinträchtigt werden, nur um selbst etwas möglichst Außergewöhnliches zu erleben.“
Auch Witali hat schon öfter im Wald übernachtet – allerdings nur allein mit seinem Schlafsack. Wenn er mit einer Gruppe mehrere Tage unterwegs ist, sucht er vorher Übernachtungsmöglichkeiten aus oder es wird gezeltet. Leben kann er von seiner Tätigkeit als Wanderführer bisher nicht. Er selbst sei gerade aber damit zufrieden, dass er seine Abenteuer-Ideen so frei umsetzen könne, sagt Witali.
Das individuelle Erlebnis hat jedoch auch seinen Preis: Für das eintägige Mikroabenteuer zahlt jeder Teilnehmer 62 Euro. „Wer sich das nicht leisten kann, ist aber trotzdem willkommen“, sagt der Wanderführer selbst. „Daran soll es nicht scheitern.“ Zumindest bei den Teilnehmern der Herbstwanderung ist der Betrag aber kein großes Gesprächsthema.
Zum Vergleich: Beim Deutschen Alpenverein bekommt man für 70 Euro bereits eine Jahresmitgliedschaft. Da Witalis Touren allerdings hauptsächlich eine im Beruf stehende, urbane Zielgruppe ansprechen, ist der Kostenpunkt für diese vielleicht auch gar kein Problem. Ob er mit seinen Angeboten also überhaupt in Konkurrenz zu den großen Wandervereinen steht? „Darüber habe ich nie nachgedacht“, sagt er. „Aber der Wald ist ja für alle groß genug.“
Nach der Wanderung, als die Teilnehmer zusammensitzen und die Beine lang machen, sind sich alle einig: Die anderen kennenzulernen und sich mit ihnen auszutauschen, sei das Beste an dem Tag gewesen. Am Ende sind Mikroabenteuer und Wandergruppen dann eben doch nicht so verschieden.
Fotos: Rabea Gruber