2019 war ganz klar das Jahr der Jubiläen. 30 Jahre Mauerfall, 70 Jahre Grundgesetz oder auch 50 Jahre Mondlandung. Dieses Jahr hatte allerdings auch einen Geburtstag, der erst auf dem zweiten Blick einen unverkennbaren Einfluss auf die Welt hatte. Vor 50 Jahren lief das erste mal die Sesamstraße im US-amerikanischen Fernsehen. Wie die Lernprinzipien in der Sesamstraße funktionieren und, wie uns das für die nächste Klausurvorbereitung helfen könnte, findet KURT-Reporter Simon Kosse im Interview mit Michael Gurt, Medienpädagoge und Redaktionsleiter von FLIMMO, heraus.
In der Sesamstraße wird vor allem eine Zuschauerschaft von Vorschulkindern oder Kindergartenkindern angesprochen. Gibt es da einen Unterschied im Lernverhalten von Kindern im Gegensatz zu Studierenden oder Erwachsenen?
Ja, da gibt es große Unterschiede. Die Entwicklungsstufe von kleinen Kindern ist natürlich eine ganz andere, als die von Erwachsenen. Das fängt an bei kognitiven Fähigkeiten und geht über soziale, emotionale und bis zu körperlichen Fähigkeiten. Die Vorraussetzungen sind halt ganz andere. Kinder lernen viel schneller und viel mehr in kürzerer Zeit. Das ist ganz logisch, weil sie jeden Tag neue Eindrücke verarbeiten, neues erleben und neue Dinge entdecken. Ich denke, das ist eine ganz andere Form von lernen, sich weiterentwickeln und neue Fähigkeiten, neues Wissen sich anzueignen, als im Erwachsenenalter.
Während der Sendung wurden kognitive und affektive Lernziele unterbewusst angesprochen. Ist es wichtig, dass es für das erfolgreiche Lernen da eine Mischung gibt?
Also bei den Kindergarten- und Vorschulkindern ist es wichtig, dass die Lerninhalte nicht abstrakt, sondern auf einer Ebene, wo die Kinder vor ihrem Erfahrungshintergrund anknüpfen können, vermittelt werden. Deshalb sind diese Lerninhalte eben in kleine Geschichten und Sketche verpackt und mit Humor verknüpft. Diese Vermittlung erfolgt nicht sachlich nüchtern, sondern ist in eine humorvolle Sprache verpackt , die mit verschiedenen Figuren erzählt wird. Diese Puppen sprechen die Kinder auf eine sehr emotionale Ebene an. Es sind originelle Figuren, die auch besondere Charakteristika aufweisen und für etwas besonderes stehen.
Zum Beispiel isst das Krümelmonster gerne Kekse. Diese Figuren sind daher sehr leicht zuzuordnen für Kinder, auch wegen der unterschiedlichen Farben und dem individuellen Aussehen. Der eine ist ganz groß und der andere ist ganz klein und beide haben ganz verschiedene Stimmen. Diese Puppen mit der recht eindimensionalen Darstellungsweise auseinanderzuhalten, ist grade für diese junge Zielgruppe ganz wichtig. Außerdem wird viel mit Musik gearbeitet, weil das nochmal eine andere emotionale Ebene hinzufügt. Verschiedene Lieder werden eingebaut, auch öfters wiederholt, damit die Kinder angeregt werden mitzusingen. Kurz gesagt: Diese Lerninhalte werden mit Spaß verbunden und das funktioniert für die Kleinkinder sehr gut.
Die Idee, Kinder durch abwechslungsreiche und spannende Kurzfilme zu unterrichten, kam der Fernsehproduzentin (und späteren Sesame Street-Gründerin) Joan Ganz Cooney anscheinend nachdem sie beobachtete, wie Kinder in den 60er Jahren laut Melodien von Werbespots für Bier trällerten. Inwiefern ist Musik denn hilfreich oder sogar wichtig zum Lernen?
Das kommt drauf an, wie man die musikalische Ebene und die Lerninhalte miteinander verbindet. Das eine darf das andere nicht überlagern. Zum Beispiel in einer Kindergartengruppe kann man das ganz gut sehen, wenn die Kinder einen bestimmten Text lernen. Das klappt viel besser und ist einprägsamer, wenn das zusammen mit einer Melodie verbunden wird. Wenn der Text irgendetwas vermittelt, zum Beispiel Farben oder Zahlen, dann mit einer Melodie kombiniert und wiederholt wird, wird es leichter für Kinder sein, sich das zu merken, oder auch in einem anderen Kontext dann wieder an das Lied zu denken. Durch die Kombination von Text und Musik kann sich das Kind die Inhalte besser einprägen, als wenn es nur den Text präsentiert bekommt.
Das kommt mir bekannt vor. Ich musste in der Grundschule das Gedicht „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ von Theodor Fontane über die Sommerferien auswendig lernen. Wie es so kommt, habe ich die Aufgabe so lange vor mir hergeschoben, dass ich die letzten zwei Ferientage in Dauerschleife das Gedicht gerappt habe, um es mir noch irgendwie einzuprägen. Und es hat sogar noch geklappt. Das Prinzip müsste ja eigentlich bei Studierenden immer noch funktionieren, oder?
Vermutlich. Das könnte man mal ausprobieren. Was aber logischerweise auch mit Sicherheit im Erwachsenenalter funktioniert, ist der Aspekt der Wiederholungen. Das kennen wir alle selber. Aber bestimmte Inhalte auch mit anderen Eindrücken zu koppeln, könnte natürlich auch ein Versuch wert sein. Wobei das Gehirn und die Merkfähigkeit von Menschen unterschiedlich funktioniert. Bei manchen ist es wohl stärker an Geruchseindrücke gekoppelt, bei anderen vielleicht eher an Musik und bei manchen über taktile Erfahrungen. Also da gibt es von Mensch zu Mensch Unterschiede.
Sie haben eben schon kurz den Humor in der Sesamstraße angesprochen. Wie kann dieser denn zu verbessertem Lernen beitragen?
Bei kleinen Kindern ist der Humor ein Mittel, um sie emotional anzusprechen, sie zu aktivieren und um ihnen Lust darauf zu machen, mehr zu hören oder sich mehr darauf zu konzentrieren, weil es Ihnen Spaß macht und weil es ein Grundbedürfnis von Kindern ist, sich einfach unterhalten zu lassen. Das ist ein ganz wichtiges Bedürfnis. Und bei vielen Erwachsenen ist es auch so.
Logischerweise kann man das nicht eins zu eins übertragen, weil die Vorraussetzungen bei Erwachsenen und bei kleinen Kindern sehr unterschiedlich sind. Aber es gibt auch beispielsweise unter dem Begriff Gamification Ansätze, dass spielerisches Lernen auch in der Erwachsenenbildung und im lebenslangem Lernen eingebunden wird. Also, dass spielerische Ansätze auch verwendet werden, um Lernen zu unterstützen oder auch nochmal auf einer anderen Ebene die Lernenden anzusprechen. Und ich denke, das geht auch so in die ähnliche Richtung.
Die ersten Folgen der Sesamstraße hatten eine feste Struktur mit Segmenten von Puppenspiel, Animationen oder auch realen Kurzfilmen von Kindern oder Tieren. Ist das für Kinder wichtig eine feste, wiederkehrende Struktur zu haben, um sich darin wiederzufinden?
Ja! Kinder brauchen feste Strukturen zur Orientierung. Das ist für sie sozusagen ein Gefühl von Geborgenheit und eine ganz wichtige Ebene, damit sie sich darauf einlassen können. Dieses Wiedererkennen von Bekanntem macht ihnen besonders Spaß. Das ist ein Phänomen, welches man bei Kindern immer beobachten kann. Also das, was Ihnen gut gefallen hat, möchten Sie so oft wie möglich nochmal hören oder sehen. Diese feste Abfolge mit bekannten Figuren und gestalterischen Elementen, die immer wieder auftauchen, ist ein Rezept, dass bei Kinderprogramm immer gut funktioniert.
Ein Begriff, der im Bezug auf die Sesamstraße immer wieder angesprochen wird, ist das Prinzip des „Lernen am Modell“. Wie funktioniert das ?
Das ist ziemlich basic in der Entwicklungspsychologie, dass kleine Kinder zunächst bei den Hauptbezugspersonen, also meistens den Eltern, primär bei der Mutter, ihr Verhalten genau beobachten und gucken, wie sie beispielsweise auf fremde Menschen reagieren. Da finden dann die ersten Lernschritte in Richtung soziale Interaktion statt. Das Lernen am Modell bleibt für Kinder in ihrem weiteren Entwicklungsverlauf weiter wichtig. Sie schauen, wie die Erwachsenen sich in ihrer Umgebung verhalten. Das kann man auch im Bezug auf Medienfiguren beobachten. Wie lösen Medienfiguren in meiner Lieblingsserie ihre Probleme?
Dieses Modell ist natürlich später für Erwachsene weniger wichtig, weil die eigene Weltvorstellung und die gemachten Erfahrungen das eigene Handeln prägen. Ich denke, man wird ein Stück weit autonomer, verfügt schon über ein bestimmtes Raster an Verhaltens-Sets und wird sich weniger an Mitmenschen orientieren. Wobei, das auch wahrscheinlich auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt ist.
Der kanadische Autor und Journalist Malcolm Gladwell hat mal gesagt, dass die Sesamstraße auf allein einer Erkenntnis basiert und zwar: Wenn man die Aufmerksamkeit von Kindern wach halten kann, dann kann man die Kinder auch bilden. Stimmen Sie damit überein?
Das würde ich so unterschreiben. Ich sage immer: Eine wunderbare, pädagogisch durchdachte Sendung ist völlig nutzlos, wenn die Kinder einfach gelangweilt abschalten. Da kann das Konzept noch so pädagogisch ausgeklügelt sein. Es muss die Kinder einfach packen. Die müssen das spannend, lustig, unterhaltsam und interessant finden. Deswegen ist es wichtig, wenn man Inhalte für Kinder produziert, dass man sich eben auch auf die Kinderperspektive einlässt. Dann versucht man ihren Humor zu treffen, man versucht ihre Sichtweise auf die Welt zu verstehen und man versucht nachzuvollziehen, welche Fragen die Kinder haben. Und man versucht herauszufinden auf welche Weise es spannend und unterhaltsam sein könnte, diese Fragen zu beantworten.
Wie sollte das Lernen von Studierenden dann aussehen? In meiner Bibliothek ist es komplett still und weder humoristisch noch spannend. Natürlich gibt es einen Unterschied im Lernverhalten zwischen Studierenden und Kindern. Aber haben wir vielleicht ein bisschen den spielerischen Aufmerksamkeitsaspekt verloren?
Da bin etwas auf dünnem Eis, weil ich da meine berufliche Expertise verlasse. (lacht) Das Entscheidende bei Kindern, abgesehen davon, dass es sie packen und interessieren muss, ist, dass ein Inhalt für Kinder die Lust am Lernen vermitteln muss. Im Gegensatz zu dem, was in der Schule oft vermittelt wird, wo Lernen Arbeit ist, was es ja auch oft ist. Es muss aber auch vermittelt werden, dass es Spaß macht, etwas Neues zu erfahren, Fragen zu stellen und sich mit etwas Neuem zu beschäftigen.
Ich glaube der Gag, wenn man ein Studium betreibt, ist, dass man sich diese Einstellung wenigstens ein Stück weit für sich bewahrt. Dass man Lust drauf hat, in dem Gebiet, wo man studiert, etwas neues zu erfahren und besser zu werden. Ich glaube, dass, in diesen Lernbiografien, die wir so alle durchschreiten, oft mit dem klassischen Schulweg von der Grundschule zur weiterführenden Schule, diese Freude am Lernen einem oft ausgetrieben wird. Dieses von innen heraus motivierte. Und das bleibt oft auf der Strecke, weil man an Grenzen stößt oder irgendetwas lernen muss, was einen gar nicht interessiert. Ich glaube um die Lernmotivation zu steigern bei Studierenden, wäre es hilfreich, wenn sie diese Leidenschaft fürs dazulernen wieder irgendwie entfachen könnten. Aber wie das am besten funktioniert, da bin ich ein bisschen überfragt.
Jetzt haben wir am 11. November 50 Jahre Sesamstraße gefeiert. Die Sendung läuft nach wie vor und ist finanziell erfolgreich. Ein abschließendes Fazit von Ihnen: Ist die Sesamstraße gutes Kinderfernsehen – nicht nur auf unterhaltsamer, sondern auch auf didaktischer Ebene?
Für mich ist es auf jeden Fall gutes Kinderfernsehen. Der Anspruch der Sesamstraße war ja von Anfang an bildungsmäßige Unterschiede auszugleichen. Das heißt, dass auch Kinder aus Familien, die vielleicht bildungsferner sind oder aus problembelasteten Familien kommen, über das Fernsehen gefördert werden, Anregungen bekommen und Spaß am Lernen entdecken. Das ist ein Konzept, das nach wie vor wichtig ist.
Ich denke, die Sesamstraße ist auch deshalb so erfolgreich, weil es eben Eltern und Kinder abholt. Die Eltern haben die Sendung wahrscheinlich damals schon als Kind gesehen und sind überzeugt und dankbar, dass es eine so qualitativ hochwertige Sendung gibt. Die Kinder werden eben durch den Humor, die Figuren und die Emotionalität abgeholt und fühlen sich gut unterhalten. Ich denke, das ist ein Rundumpaket, dass nach wie vor hervorragend funktioniert und für mich persönlich gutes Kinderprogramm ist.
Vielen Dank für das Interview!
Beitragsbild: Tom Simpson/Flickr