“Im schlimmsten Fall kann ein Interessenkonflikt das Patientenwohl gefährden”

Sophie Tragert studiert im achten Semester Medizin an der Charité in Berlin. Sie ist Mitglied von Universities Allied for Essential Medicines (UAEM). UAEM ist eine weltweite studentische Organisation, die sich unter anderem dafür einsetzt, dass Medikamente zugänglich und bezahlbar sind oder es werden. Mit anderen Medizinstudierenden hat Sophie Tragert untersucht, ob Unis ihre Studierenden vor Interessenkonflikten schützen. Interessenkonflikte können dann auftreten, wenn Studierende Geschenke von Pharmafirmen bekommen.

Gratis Kugelschreiber, kostenloses Essen, gesponserte Veranstaltungen: Viele Firmen versuchen an Universitäten, mit Studierenden in Kontakt zu kommen. Sophie, du sagst, dass das auch Risiken birgt – vor allem in der Medizin. Warum ist es ein Problem, wenn angehende Ärzt*innen Kugelschreiber annehmen?

Erst einmal ist der Kuli an sich nichts Gefährliches. Es geht um das Prinzip dahinter. Wenn ich etwas von jemandem bekomme – zum Beispiel von einer Pharmafirma – dann fühle ich mich dieser Person oder diesem Unternehmen verpflichtet. Egal, wie groß oder klein diese Zuwendung ist und ob ich die Person mag oder nicht. Das nennt man Reziprozitätsregel. Es steht natürlich jedem frei, ob er einen Kugelschreiber annimmt oder zu gesponserten Fortbildungen und Vorträgen geht. Das Wichtigste ist es, zu wissen, dass man sich einer Beeinflussung aussetzt und dass man diese auch transparent macht.

Ihr schreibt in der Studie über Interessenkonflikte und darüber, wie diese an medizinischen Fakultäten geregelt sind. Was ist ein Interessenkonflikt?

Bei einem Interessenkonflikt können sekundäre Interessen mit primären Interessen konkurrieren. Für Ärztinnen und Ärzten ist ein primäres Interesse zum Beispiel, bestmöglich die Patientinnen und Patienten zu versorgen. Ein sekundäres Interesse könnte zum Beispiel ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber einem Unternehmen sein. Etwa weil eine Ärztin oder ein Arzt ein Honorar für einen Vortrag oder auch schon ein kleines Geschenk wie einen Kugelschreiber bekommen hat. Ein Interessenkonflikt liegt vor, wenn ein Risiko besteht, dass sekundäre Interessen die primären Interessen beeinflussen.

Welche Folgen kann das haben?

Einmal führen Interessenkonflikte zu höheren Ausgaben für das Gesundheitssystem. Studien haben gezeigt, dass Pharmawerbung das Verhalten von Ärztinnen und Ärzten verändert: Sie verschrieben durch die Werbung vor allem teurere Medikamente. Möglicherweise hat die Ärztin gerade mit einem Pharmavertreter über ein neues Medikament geredet und denkt sich: Das probiere ich mal aus. Patientinnen und Patienten könnten dadurch auch bestimmte Therapien bekommen, obwohl bessere Therapien verfügbar wären. Im schlimmsten Fall kann ein Interessenkonflikt also tatsächlich das Patientenwohl gefährden.

Früher haben Interessenkonflikte Sophie Tragert wenig interessiert. Foto: Laura Gebert

Studierende versorgen doch noch gar keine Patient*innen.

Nach dem Studium machen sie das aber. Ich bin jetzt im achten Semester und in zwei Jahren bin ich auch Ärztin. Der Umgang mit der Industrie ist allgegenwärtig und darüber sollten wir schon an der Uni sprechen. Wenn wir als Medizinstudierende überhaupt nicht aufgeklärt werden und den Kontakt zur Industrie nicht kritisch reflektieren, kann das unser Gesundheitssystem nachhaltig belasten.

Wie werdet ihr an der Uni mit Interessenkonflikten konfrontiert?

Vom Kugelschreiber über einen Block bis hin zum Stipendium ist eigentlich alles dabei. Oder es gehen Flyer für gesponserte Veranstaltungen rum. Gerade wer eine Doktorarbeit an einem Institut macht, geht oft auf Vorträge mit, die unter anderem pharmagesponsert werden.

Was hast du konkret schon erlebt?

In Vorlesungsfolien werden oft Markennamen genannt. Nicht der Wirkstoff an sich, sondern Markennamen von Firmen, mit denen die Dozierenden teilweise auch kooperieren. Einmal ging es um eine seltene Krankheit. An seltenen Krankheiten forschen oft nur wenige Unternehmen. Die Dozentin hat Darreichungsformen eines Medikaments von einer Firma mitgebracht, mit der sie tatsächlich eine Studie durchgeführt hat. Das Medikament ging dann im Kurs rum. Ich habe sie am Ende gefragt, ob es auch noch andere Darreichungsformen von anderen Firmen gibt. Und sie meinte: Ja, aber sie habe diese Darreichungsform mitgebracht, weil sie ohnehin eine klinische Studie dazu durchführt. Und eigentlich hat es niemand wirklich kritisch gesehen, dass da nur dieses eine Medikament herumgegeben wurde. Dass das nicht infrage gestellt wird – das sehe ich als Hauptproblem.

Wie hat die Dozentin auf deine Nachfrage reagiert?

Sie sah da kein Problem drin. Es gibt Leute an der Uni, die es wichtig finden, sich mit Interessenkonflikten zu beschäftigen. Diese Leute sind aber leider in der Unterzahl. Es ist wahnsinnig schwer, in dem Bereich etwas zu verändern. Weil es schon so normal geworden ist, dass die Pharmaunternehmen so präsent sind und man es nicht bemerkt, wenn man sich nicht aktiv damit beschäftigt. Interessenkonflikte – allein das Wort. Wenn man das hört, weiß man erst einmal gar nicht, was gemeint ist. Das ist eine große Herausforderung, vor der wir stehen.

Warst du immer schon sensibel für das Thema?

Am Anfang war ich auch unkritisch. In meinem Medizinstudium bin ich über UAEM auf Leute gestoßen, die schon am Thema Interessenkonflikte gearbeitet haben. Wir haben darüber geredet und ich fand das Thema sehr spannend. Und ungefähr zeitgleich hatte ich hier an der Charité in Berlin noch ein Wahlpflichtfach. Da ging es um die Methoden in der Pharmaindustrie. Solche Kurse sind sehr selten an deutschen Universitäten.

Ihr habt eine Studie zum Thema Interessenkonflikte durchgeführt. Was habt ihr untersucht?

Wir haben Anfragen an alle medizinischen Fakultäten in Deutschland geschickt: Wie werden Interessenkonflikte an der Fakultät geregelt? Gibt es Richtlinien? Wie wird das Thema im Curriculum behandelt? Dafür haben wir 13 Bewertungskriterien aufgestellt. Mit denen haben wir verschiedene Teilaspekte abgefragt. Der erste Punkt war zum Beispiel das Thema Geschenke. Da haben wir gefragt, ob Leute an der Uni – sowohl Dozierende als auch Studierende – Geschenke annehmen dürfen und wenn ja, bis zu welchem Wert. Dann haben wir auch abgefragt, ob Pharmavertreterinnen und Pharmavertreter überhaupt in die Uni und Lehrkrankenhäuser gehen dürfen und dort werben können. Ob es Lehre zu Interessenkonflikten im Curriculum gibt und ob Dozierende ihre Interessenkonflikte auch vor Studierenden offenlegen müssen. Zusätzlich zu der Anfrage an die Unis haben wir auf den Webseiten der Fakultäten recherchiert. Dazu haben wir standardisierte Suchbegriffe wie zum Beispiel „Interessenkonflikt Richtlinien“ und „Conflict of Interest“ genutzt.

Was habt ihr herausgefunden?

Es gibt 38 medizinische Fakultäten in Deutschland. Davon haben uns leider nur 16 geantwortet. Von diesen 16 hatten nur zwei medizinische Fakultäten Richtlinien zum Thema, die wirklich auswertbar waren – die TU Dresden und die Charité Berlin. Und auch diese zwei Richtlinien waren nicht wirklich gut. Darin wurde weder geschrieben, dass es verpflichtende Lehre zu Interessenkonflikten gibt, noch dass Dozierende ihre Interessenkonflikte vor den Studierenden offenlegen müssen. Allerdings haben uns ja nicht alle Unis geantwortet. Die Uni Mainz hat uns zum Beispiel nicht geantwortet, aber wir wissen, dass es dort verpflichtende Lehre zu Interessenkonflikten gibt.

Hat die Zusammenarbeit von Unis und Pharmafirmen denn auch Vorteile?

Dass die Industrie nicht mehr mit der Uni zusammenarbeitet, wollen wir auf keinen Fall. Das würde auch nicht funktionieren. Der Kontakt mit der Industrie ist unerlässlich, um zum Beispiel Medikamentenstudien durchzuführen. Das kann man einfach nicht voneinander trennen. Aber deshalb ist es umso wichtiger, dass es klare Regeln gibt. Und die gibt es einfach nicht.

Was können Medizinstudierende tun?

Studierende können sich lokal an ihren Unis für Richtlinien zum Umgang mit Interessenkonflikten einsetzen. Aktuell sind wir dabei, die Fachschaften der medizinischen Fakultäten zu kontaktieren, um über das Thema aufzuklären und um unser Netzwerk zu erweitern. Allein den Diskurs zu dem Thema anzustoßen ist ein sehr wichtiger Schritt. Weitere Möglichkeiten für Studierende ist zum Beispiel ein Praktikum bei Ärztinnen und Ärzten, die pharma-gesponserte Fortbildungen ablehnen. Ich habe zum Beispiel vor Kurzem ein Praktikum gemacht in einer Hausarztpraxis, die sich für evidenzbasierte Medizin einsetzt und Mitglied ist bei ‚Mein Essen zahl‘ ich selbst‘. Das ist ein Zusammenschluss von Ärztinnen und Ärzten, die die gleichen Ziele haben wie wir. Diese Ärztinnen und Ärzte empfangen gar keine Pharmavertreter und besuchen nie gesponserte Veranstaltungen. Die schotten sich komplett ab und schauen nur auf die Leitlinien. Das war eine wirklich wertvolle Erfahrung.

Hat sich schon etwas geändert, seit ihr im Oktober 2019 eure Studie veröffentlicht habt?

An der Uni Aachen soll zum Beispiel das Lehrangebot zu Interessenkonflikten erweitert werden. Auch bei uns in Berlin haben wir uns mit unserer Dekanin getroffen. An alle Arbeitsgruppen der Charité ging eine E-Mail, dass sich das Dekanat wünscht, dass Interessenkonflikte am Anfang der Vorlesungen offengelegt werden. Das ist aber leider freiwillig. Ich hatte auch schon ein paar Vorlesungen, in denen Dozierende das gemacht haben. Seitdem schaue ich jetzt immer am Anfang der Vorlesung: Na, machen sie´s, machen sie´s nicht? Es ist schön zu sehen, dass wir da etwas bewirkt haben. Aber es ist noch ein langer Weg.

Beitragsbild: Pixabay

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