Ein Fußballspiel ohne Schiedsrichter*innen – das würde nicht funktionieren. Sie spielen eine wichtige, aber im Idealfall keine entscheidende Rolle auf dem Platz. Wie kommt man überhaupt zu dieser Aufgabe? Zwei junge Schiedsrichter*innen erzählen.
„Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Menschen jagen 90 Minuten einem Ball nach …“ So beginnt das berühmte Zitat des ehemaligen englischen Fußballers Gary Lineker. Doch so ganz stimmt das nicht. Es sind 23 Menschen. Denn zu jedem Fußballspiel gehört auch ein*e Schiedsrichter*in. Oft stehen diese sogar nach dem Spiel im Mittelpunkt, wie zuletzt in der Bundesliga. Annika Kost (30) und Timo Gansloweit (25) sind zwei junge Schiedsrichter*innen aus dem Ruhrgebiet. Sie pfeifen bereits in hohen Ligen. Im Interview erzählen sie, was sie an der Schiedsrichterei reizt, wie sie mit Kritik umgehen und was sie durch das Hobby für ihr persönliches Leben lernen.
Annika und Timo über …
… ihren Weg zur Schiedsrichterei
Annika: „Ich bin seit 2007 Schiedsrichterin und seit 2012 im DFB-Bereich. Zu dem Hobby bin ich gekommen, weil ich selbst jahrelang in hohen Ligen gespielt und mich immer über den Schiri aufgeregt habe. Irgendwann hat mich einer aus unserem Kreisverband angesprochen und gemeint, ich solle es doch mal probieren. 2007 habe ich die Lizenz gemacht. Ein Jahr später hatte ich meinen ersten Kreuzbandriss und konnte keinen Fußball spielen. Während ich die Verletzung auskuriert habe, habe ich mich mehr mit der Schiedsrichterei beschäftigt. Dann kam ich zeitnah in den DFB-Bereich. Ich pfeife in den Herrenklassen Männer-Oberliga als Schiedsrichterin und Männer-Regionalliga als Assistentin. Im Frauenbereich bin ich Zweitliga-Schiedsrichterin, darf aber in dieser Saison Probespiele in der Bundesliga leiten. Wenn ich in diesen Spielen und in meinen weiteren Zweitligaspielen sehr gute Leistungen bringe, werde ich zur neuen Saison hoffentlich als Erstliga-Schiedsrichterin gemeldet.“
Timo: „Ich bin durch meinen Opa darauf gekommen. Auch meine Schwester und mein Onkel waren Schiedsrichter, haben aber relativ früh wieder aufgehört. Fußball habe ich im Dorfverein gespielt. Mein Opa hat mir damals gesagt, ich solle es mal als Schiri versuchen, vielleicht könne ich da ja was erreichen. Ich hatte aber vorher schon Interesse, also habe ich den Vorsitzenden meines Vereins hier angesprochen. Im November 2011 habe ich den Schiedsrichterschein gemacht. Aktuell pfeife ich in der Regionalliga, also in der vierten Liga. Jetzt ist der Punkt, an dem es mit der dritten Liga klappen müsste, damit ich weiter aufsteigen kann. Diese Saison ist für mich relativ entscheidend. Es besteht immer noch die Hoffnung auf den Profifußball.“
… besondere Spiele in ihrer Karriere
Annika: „Bei weitem mein bestes Spiel war das Frauen-Pokalfinale 2020, da war ich Assistentin. Man weiß, dass Millionen das Spiel medial verfolgen werden. Das ist was Besonderes. Und wir hatten da einen Sahnetag. Für einen selbst ist es schon toll, nominiert zu werden. Wenn man das mit einer sehr guten Leistung als Linienrichterin bestätigt und von allen Seiten Gratulationen bekommt, dann ist das einfach ein ganz besonderes Spiel.“
Timo: „Ich habe mal ein Spiel als Assistent von Bundesliga-Schiedsrichter Sören Storks gewunken, das war Rot-Weiß Essen gegen Rot-Weiß Oberhausen. Da waren 11.000 Zuschauer im Stadion an der Hafenstraße. Das war von der Stimmung her wirklich ein Traum, mit einer Choreographie auf den Rängen. Das sind Highlights, die ich gern mitnehme. Daher hole ich meine Motivation als Schiedsrichter.“
… persönliche Erfolgserlebnisse und Fehlentscheidungen
Annika: „Ich habe meine Erfolgserlebnisse meistens im Nachgang. Im angesprochenen DFB-Pokalfinale der Frauen gab es für mich zwei schwierige Szenen im Abseitsbereich. Da konnte hinterher aufgeklärt werden, dass ich richtig lag. Das sind Erlebnisse, die wahnsinnig gut tun. In einem Herren-Verbandsligaspiel hatte ich als Assistentin aber auch eine große Fehlentscheidung. Ich hatte eine andere Perspektive auf die Situation und habe meinem Schiedsrichter gesagt, dass es eine Notbremse war. Es war aber keine, wie die Kamerabilder im Nachhinein klar gezeigt haben. Die Mannschaft hat das Spiel verloren, daher gehen wir davon aus, dass die Szene spielentscheidend war. Sowas tut mir natürlich unendlich leid.“
Timo: „Wenn ich ein Spiel ohne großen Fehler über die Bühne bringe, akzeptiert bin und mit den Spielern eine gute Kommunikation habe, dann bin ich zufrieden. Als Schiedsrichter freue ich mich auch, wenn ich dem Spiel zuträglich bin. Ein Beispiel für Erfolgserlebnisse sind Vorteilsituationen: Ich gebe einen schwierigen Vorteil und daraus fällt ein Tor. Aber man kann kein Spiel leiten, ohne einen Fehler zu machen. Vor kurzem habe ich im Verbandspokal im Halbfinale ein Foulspiel nicht erkannt und hätte den Spieler mit Gelb-Rot runterwerfen müssen. Das war einfach nervig. Gerade, weil der gefoulte Spieler danach ausgewechselt werden musste. Der hat sich richtig aufgeregt, dem musste ich sogar noch Gelb geben. Und eigentlich hätte der Gegner Gelb-Rot kriegen müssen. Das tut schon weh als Schiri, wenn es alle außer dir erkannt haben.“
… Kritik und Druck auf und neben dem Platz
Annika: „Wenn jemand sagt, er kann alles von außen komplett ausblenden: Respekt! Ich kann das in den wenigsten Fällen. Ich nehme das Geschehen neben dem Platz des Öfteren wahr, von den Trainerbänken zum Beispiel. Und von den Zuschauern, ja, mein Gott … Ich wurde schon so oft an den Herd geschickt oder mir wurde gesagt, dass ich auf dem Platz nichts zu suchen habe. Da schmunzle ich drüber, das ist mir egal. Wichtig ist nur, dass ich mich nicht umdrehe. Dann fühlen sich die Leute bestärkt in dem, was sie sagen. Drüberstehen, weiter geht’s.“
Timo: „Bei mir ist es so, dass ich die Kritik von außen nicht mehr wahrnehme. Die Schiedsrichter im Amateurfußball sind einer heftigen Kritik ausgesetzt, die anders funktioniert als in den höheren Klassen. Nicht über die Medien, sondern wirklich über die Leute am Platz. Da fehlt mir von Außenstehenden manchmal ein bisschen das Verständnis für Schiedsrichter. Bei den Hallen-Stadtmeisterschaften in Dortmund habe ich mal jemanden Bekanntes aufgrund eines blöden Spruchs rausgeworfen. Da habe ich ein mediales Echo bekommen, auch in den sozialen Medien mit Bedrohungen. Das, was auf dem Sportplatz passiert, sollte dort bleiben. Ärgerlich wird es, wenn man Zuhause noch eine Nachricht bekommt. Solche Menschen würden mich aber nie dazu bringen, aufzuhören. Dass Kritik kommt, ist von Anfang an klar, wenn man Schiedsrichter wird. Mindestens elf Leuten tut man immer weh mit einer Entscheidung. Und wenn du Pech hast, haben die anderen elf auch keinen Bock auf dich.“
… Psychologie in der Ausbildung
Annika: „Inhaltlich gesehen waren psychologische Themen kein Schwerpunkt. In unserem Anwärter-Lehrgang war aber die höchstpfeifende Schiedsrichterin aus dem Kreis Iserlohn da. Die konnten wir mit Fragen löchern und sie stand uns immer zur Seite. Da haben wir auch Antworten auf psychologische Fragen bekommen. Also, was auf uns zukommen könnte, wenn wir Männerspiele pfeifen. Es war ganz gut, dass sie das aus Frauensicht erklären konnte. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass darauf mehr eingegangen wird. Die Spiele werden immer schneller und die Gesellschaft verändert sich. Ich habe auf einem DFB-Lehrgang jetzt wieder mitbekommen, dass der Schiedsrichterinnen-Nachwuchs schwindet. Manche jungen Schiedsrichterinnen sagen: ‚Ich brauch das einfach nicht, dass ich da schon mit Wörtern mit S oder F beleidigt werde.‘ Hätte ich das gewusst, hätte ich auch nicht angefangen. Und jetzt versuchen wir, mit Verbandsarbeit die aktiven Schiedsrichterinnen zu stärken und wollen, dass dahingehend auch in Lehrgängen der Fokus stärker gesetzt wird.“
Timo: „In der Ausbildung werden psychologische Inhalte gar nicht gelehrt. Dabei wäre das ein wichtiger Aspekt. Es ist eher so, dass nur erzählt wird, dass Kritik kommt. Aber eben nicht, wie man damit umgeht. Für mich ist das wirklich ein großer Punkt der Schiedsrichterei. Mein erstes Spiel als Schiedsrichter war ein F-Jugend-Spiel in Hörde im Kreispokal. Und irgendein Trainer hat direkt rumgekackt und gesagt ‚Such dir ein neues Hobby.‘ und so weiter. Damit muss man erstmal umgehen können. Nicht alle Schiedsrichter sind direkt die Selbstbewusstseins-Monster. Viele lernen das erst durch den regelmäßigen Einsatz.“
… Unterschiede zwischen Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern
Annika: „Ich würde nicht pauschal behaupten, dass es für eine Schiedsrichterin auf dem Fußballplatz schwieriger ist. Was sich die Männer gefallen lassen müssen, ist fast identisch. Die Problematik in den unteren Ligen ist eher: Die Männer können besser kontern. Aber in den wenigsten Fällen ist es so, dass eine Frau gut kontert. Die lässt das eher über sich ergehen. Gerade Frauen werden in ihren ersten Männerspielen, vor allem in den Kreis- & Bezirksligen, geprüft: Wie weit kann ich bei ihr gehen, was erlaubt sie, wie kann ich mit ihr sprechen? Ich selbst habe auch erst von Spiel zu Spiel gelernt, stilvoll zu kontern. Männerschiedsrichter lassen das vielleicht kurz wirken und drücken dem Spieler im Spiel nochmal einen coolen Spruch. Aber wenn eine Frau das macht, dann ist er womöglich hochgradig beleidigt, weil ihm eine Frau mal was gesagt hat. Die Schiedsrichterinnen-Generation, die jetzt gerade in den Spielen unterwegs ist, das sind ganz junge Mädels, die sind noch ganz, ganz lieb. Wenn dann ein Mann mit 25 Jahren aufwärts einen blöden Spruch drückt, dann sind die noch kleiner. Die Männer sind da insgesamt einfach cooler.“
… Persönlichkeitsentwicklung durch Schiedsrichterei
Annika: „Ich habe eineinhalb Jahre in New Orleans gelebt. Da war es nicht so einfach, Spiele zu leiten. In dieser Zeit der Schiedsrichter-Abstinenz habe ich gemerkt, dass das zu meinem Leben gehört. Vorher bin ich zu den Spielen gefahren und habe mir nichts dabei gedacht, was ich für mich als Schiedsrichterin mitnehmen kann. Aber zu der Zeit hat sich wirklich alles geändert, auch meine Persönlichkeit auf dem Platz. Was mich seitdem ausmacht, ist mein Team. Mit den Mädels schon vor dem Spiel unterwegs zu sein, die Fahrten zu haben. Sich nicht nur übers Spiel auszutauschen, sondern auch über Privates, das ist sehr wichtig. Und auf dem Platz gilt für mich: Freundlichkeit, aber auch eine direkte Art und Weise, wenn es mal lauter werden muss. Das kann ich, glaub ich, ganz gut und ich hoffe, dass ich bisher alle ganz gut erreicht habe.“
Timo: „Schiedsrichterei hat mir in meinem Leben sehr viel gebracht, was Kommunikation und den Umgang mit Menschen betrifft. Ich bin hauptberuflich Polizist und würde behaupten, dass mir der Beruf wahrscheinlich schwerer fallen würde, wäre ich nicht vorher schon Schiri gewesen. Man wächst an den Spielen. Je mehr Spiele man hat, desto mehr merkt man, wie man in Situationen reingehen kann. Das eignet man sich an. Wenn du viele Konflikte lösen musst, dann findest du für dich den perfekten Weg, der zu deinem Charakter passt. Der wird im Endeffekt auch von den Leuten drumherum akzeptiert. Ich habe schon junge Schiris gesehen, die als kleine Würmchen angefangen haben und jetzt eine ganz veränderte Persönlichkeit haben. Das ist was, was man nicht schulen kann. Das passiert einfach mit den Spielen, den Situationen, den Konflikten.“
… Aufstiegschancen und Finanzen
Annika: „In den letzten Jahren zählt zu hundert Prozent nur noch die Leistung, um aufzusteigen. Man wird in jedem Spiel beobachtet. Es steigen die Schiedsrichter oder Schiedsrichterinnen auf, die die besten Noten haben. Da kann keiner sagen, dass Frauen bevorzugt werden. Von der Kreisliga bis zur Bundesliga im jeweiligen Bereich verdienen Frauen und Männer gleich viel. Es sind die Spesen, die von Liga zu Liga unterschiedlich sind. Die Spesensätze sind klar geregelt und unabhängig vom Geschlecht. In der Frauen-Regionalliga verdienen Schiedsrichter*innen nicht ansatzweise so viel wie in der Herren-Regionalliga. So ist es auch bei der Herren- und Frauenbundesliga. Wenn ein Mann ein Spiel in der Frauenbundesliga pfeifen würde, dann würde er ganz klar den Spesensatz der Frauenbundesliga bekommen.“
Timo: „Auf dem Weg in den Profibereich startet man in der Kreisliga B und kann über die Prüfungen in jedem Jahr in die Kreisliga A aufsteigen. Da wird man das erste Mal vom Kreis angeschaut. Der kann eine bestimmte Anzahl Schiris für die Bezirksliga melden. Ab der Bezirksliga ist man im Verband. Der Kreis hat jedes Jahr die Möglichkeit, fünf Schiedsrichter zur Beobachtung zu melden. In der Bezirksliga wird man in acht Spielen benotet. So geht das bei Aufstiegen immer weiter. Grundsätzlich sind die Chancen für junge Schiedsrichter aktuell sehr gut, schnell hochzukommen. Wenn man ein bisschen Ausstrahlung und Talent hat, geht das relativ schnell. Dann sind die Chancen gut, in die vierte oder dritte Liga zu kommen. Der Sprung von der vierten in die dritte Liga, das ist der schwierigste. Da merkt man, dass der Weg nach oben immer enger wird. In die dritte Liga steigt nur noch ein Schiri pro Saison auf. Wenn man tatsächlich den Traum hat, Bundesliga zu pfeifen, muss es in den unteren Klassen schnell gehen. Finanziell ist die Schiedsrichterei der schönste Nebenjob, den ich machen kann. Für ein Herren-Kreisligaspiel bekomme ich 25 Euro. Und wenn ich 100 Spiele pro Saison gepfiffen habe, ist das ein guter Nebenjob. Es bringt Spaß, man macht Sport und ist mit dem Fußball verbunden. Das ist für junge Leute eine coole Nebeneinnahme, neben der Schule oder dem Studium. Mit den oberen Spielklassen wird es immer mehr Geld. Also, ich kann die Schiedsrichterei definitiv empfehlen!“
Teaser- und Beitragsfoto: pixabay