Die Forschungslandschaft kann wie ein Labyrinth erscheinen, wenn sie einem unbekannt ist. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn wie Rätselraten. Diese Unwissenheit kann gefährlich werden, wenn sie in Skepsis und Misstrauen umschlägt: Morddrohungen gegen Klimaforscher*innen häufen sich. Unsere Autorin fordert: Wir müssen das System der Wissenschaft besser verstehen!
Wir behaupten, eine Wissensgesellschaft zu sein – dabei fehlt uns jegliche Wissenschaftskompetenz. Mal ehrlich: Unser Allgemeinwissen in Bezug auf das System der Wissenschaft ist dünn. Zu dünn. Seit sich die Klimakrise zuspitzt, spätestens aber spätestens seit der Pandemie geht Wissenschaft uns alle an. Alle wollen mitreden. Das ist auch gut so – aber bitte lösungsorientiert! Denn wir können es uns nicht leisten, mit Halbwissen um uns zu schmeißen, während die Erde brennt. Wenn wir über wissenschaftliche Themen reden wollen, müssen wir verstehen, wie Forschende arbeiten und wie die Forschungslandschaft aussieht.
Jemandem, der einen hohen Grad an Wissenschaftskompetenz hat, ist klar, dass „die Wissenschaft“ sich immer nur mithilfe neuer Erkenntnisse Tatsachen annähern kann. Den Anspruch, die unantastbare Wahrheit zu vermitteln, hat sie nicht. Klimaforschende ändern also nicht nach Lust und Laune ihre Meinung, wenn sie sagen, dass wir das 1,5-Grad-Ziel wahrscheinlich schon 2026 und nicht 2030 überschreiten. Die Forschung passt sich schlicht immer wieder den aktuellen Kenntnisständen an und trifft darauf basierend ihre Aussagen.
Zur Wissenschaftskompetenz gehört auch, wissenschaftliches Fehlverhalten zu erkennen und einen Überblick über das Publikationswesen zu haben. Ist die Studie in einer seriösen Fachzeitschrift erschienen oder nicht? Ist das Studiendesign sinnvoll? Sind die Autor*innen wirklich Expert*innen und woran mache ich das fest? So zählen in den Naturwissenschaften beispielsweise viel zitierte Paper, während in den Geistes- und Sozialwissenschaften eher die Veröffentlichungen von Monografien auf eine geeignete Expertise hinweisen. In der Klimaforschung arbeiten von Statistiker*innen bis hin zu Physiker*innen Forschende aus allen möglichen Bereichen. Doch nur, weil sie alle Klimaforschende sind, können nicht alle zu jedem Forschungsfeld etwas Sinnvolles beitragen. Und nur, wenn wir das wissen, können wir einordnen, auf welche Stimmen wir hören müssen.
Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim schreibt in ihrem Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit”, dass wir uns nicht weniger, sondern besser streiten sollen. Bedeutet: Wir müssen uns zumindest darüber einig sein, dass die Erde rund ist, um sie retten zu können. Wissenschaft ist keine Glaubensfrage. Hinter ihr steht ein System mit Institutionen, Publikations- und Prüfverfahren und Regeln. Dieses System müssen wir kennenlernen. Ich würde dafür gerne die Nonplusultra Lösung liefern. Aber wenn wir die schon hätten, würde ich den Text nicht schreiben. Wir könnten in den Schulen über Erkenntnisgewinn sprechen oder mit Lehrfilmen arbeiten, wir könnten in den Medien mehr über das Wissenschaftswesen berichten, wir könnten die Arbeitsweisen der Froschenden versuchen, zu verstehen, bevor wir urteilen. Welchen Ansatz wir auch wählen: (Noch) ist das Wissenschaftssystem für viele ein großes schwarzes Loch und was Menschen fremd ist, lehnen sie bekanntlich ab. Gerade in der Klimakrise können wir uns das nicht mehr leisten, denn die Uhr tickt.
Ein Paradebeispiel für das Missverstehen von wissenschaftlicher Praxis ist die Viruslast-Studie. Sie erschien vor zwei Jahren und ihre Kernaussage war: Kinder übertrügen das Corona-Virus genauso wie Erwachsene. Das Paper wurde auf einem Preprint-Sever veröffentlicht. Jede*r kann also darauf zugreifen. In der Regel kommentieren andere Forschende die Preprints und können auf Fehler hinweisen. Das beschleunigt den Begutachtungsprozess, der Teil der wissenschaftlichen Praxis ist. Im Fall der Viruslast-Studie griffen sowohl Statistiker*innen als auch Medienschaffende die Studie direkt vom Preprint-Server auf. Während die einen verbesserten, ordneten die anderen die Studie bereits als „grob falsch“ ein. Dabei ließen sie in der Berichterstattung aus, dass sich die Studie noch im Begutachtungsprozess befand. Nach der Überarbeitung der statistischen Methoden, blieb die Aussage der Studie unverändert. Das Problem: Kaum jemand interessierte sich mehr für die Neuauflage. Die Folge: Nachdem die erste Fassung den Stempel „falsch“ aufgedrückt bekommen hatte, waren viele Menschen den Ergebnissen gegenüber misstrauisch. Dass es völlig normal ist, dass Studien nochmal überarbeitet werden müssen, ging dabei nahezu unter.
Da Wissenschaftskommunikation nicht immer nur von Profis gemacht wird – sondern auch von ressortfernen Journalist*innen, Unternehmen oder Lai*innen auf Social Media – ist es umso wichtiger, dass die Bürger*innen wissenschaftliche Nachrichten selbst einordnen können. Trotzdem sollten gerade die Medienschaffenden den Umgang mit wissenschaftlichen Texten und dem Wissenschaftssystem gut beherrschen, da sie die Schnittstelle zwischen den Systemen sind. Aber der Punkt ist: Auch ein sauber recherchierter Text nützt nichts, wenn die Fakten bei den Leser*innen auf Ablehnung oder sogar Verleugnung stoßen, weil sie deren Ursprung nicht nachvollziehen können. Menschen mit einer höheren Wissenschaftskompetenz können sich besser auf die Ergebnisse der Wissenschaft einlassen. Das konnten englische Wissenschaftler innerhalb einer Studie zeigen – und es wird Zeit, dass wir uns darauf einlassen. Wir alle sitzen auf heißen Kohlen!
Foto: unsplash.com/s/photos/science/Vlad Tchompalov