Dass die Ernährung Einfluss auf unsere körperliche Gesundheit hat, ist klar. Wie genau wirkt sie sich auf unsere psychische Gesundheit aus? Betroffene mit Depressionen erzählen von Geschmacksverlust und Frustessen. Eine Expertin erklärt.
Leere Verpackungen von Kinderriegeln, Keksen und Salamisticks. Dort, wo eigentlich die Herdplatten zu sehen sein müssten, liegt ein Berg aus Verpackungsmüll. Marvin zeigt Fotos aus seiner Küche. „Ich habe quasi nie gekocht. Und ich muss sagen: So richtig viel besser mache ich es heute auch nicht.“
Marvin heißt eigentlich anders. Er möchte seinen richtigen Namen lieber nicht nennen. Seit vielen Jahren ist er depressiv, seit 2019 klinisch bestätigt. Marvin weiß, dass es ihm guttut, wenn er sich gesünder ernährt. Es gelingt ihm nur nicht so richtig. „Das ist wie ein Kartenhaus, das ich mühselig aufbaue und das immer wieder zusammenbricht.“
Ein Betroffener erzählt
16 Stunden am Stück habe Marvin teilweise geschlafen, erzählt er. Sei dennoch jahrelang müde gewesen. „Nach dem Gymnasium wurde es immer schlimmer, ich habe mich völlig isoliert.“ 16 Jahre sei das so gewesen, er habe keine sozialen Kontakte gehabt. Dann versucht Marvin zurück ins Leben zu finden. Er achtet auf seine Ernährung und merkt, dass Zucker und Fastfood ihm viel Energie rauben. „Die Wirkung kommt nicht sofort, also nach dem Motto: Ich esse ein Stück Schokolade und mir geht es direkt schlecht. Es ist eher ein dauerhaftes Gefühl, was einsetzt, wenn ich mich so über Wochen ernähre.“
Marvin merkt, dass ihm Omega-3 guttut. Er isst Haferflocken mit Milch, Walnüssen und Leinsamen. Dazu auch Fischöl-Kapseln. Dass Omega-3 die Stimmung heben kann, ist wissenschaftlich erwiesen. Untersucht haben dies zum Beispiel Forschende der Harvard University. In Ländern, in denen viel Fisch gegessen wird, der sehr reich an Omega-3-Fettsäuren ist, scheinen Depressionen deutlich seltener aufzutreten. Auch Nahrungsergänzungsmittel hatten in Studien eine positive Auswirkung. Eine unzureichende Zufuhr von essenziellen Nährstoffen, wozu Omega-3 zählt, kann sich wiederum negativ auf die Gehirnfunktion und die Synthese von Neurotransmittern auswirken. Diese Nährstoffe spielen eine entscheidende Rolle für die Gehirngesundheit und bei der Regulierung der Stimmung.
Auch gibt es Studien, die Marvins positive Auswirkung des Zuckerverzichts untermauern. Eine sehr zuckerhaltige Ernährung kann zu einem schnellen Ansteigen und Abfallen des Blutzuckerspiegels führen. Diese Schwankungen können sich negativ auf die Stimmung und das Energieniveau auswirken. Zudem kam eine Langzeitstudie in England zu dem Ergebnis, dass Personen mit hohem Zuckerkonsum ein höheres Risiko hatten, an Depressionen zu erkranken.
Der Teufelskreis
Marvin erzählt, dass er leider nie das Durchhaltevermögen hatte, die gesunde Ernährung lange durchzuziehen. „Je besser es mir geht, desto mehr gehe ich raus, desto mehr bewege ich mich und desto gesünder ernähre ich mich. Aber wenn ich total erschöpft von der Arbeit komme und überhaupt keine Lust zu kochen habe, dann greife ich zu Schokolade oder Eiscreme. Dadurch geht es mir auf Dauer noch schlechter.“ Beides beeinflusse sich gegenseitig, er sei so immer tiefer in eine Abwärtsspirale geraten. Je länger dieser Zustand andauerte, desto schwieriger war es für Marvin, etwas zu ändern. „Das war bei mir teilweise so krass, dass mein einziges Tagesziel war, Duschen zu gehen“, sagt er.
Lösen konnte er dieses Problem bis heute nicht. Er erzählt: „Ich schaffe es selten, mir mal etwas Gesundes zu kochen oder einen Salat zu machen. Ich habe mir vor acht Jahren eine Salatschleuder gekauft. Die ist immer noch originalverpackt. So vergeht halt die Zeit. Jeden Tag denkt man sich: „Morgen mach ich das!“ Und dann sind Jahre um.“
Dabei weiß Marvin viel über gesunde Ernährung. Er verfolgt die Arbeit von Forscher*innen und hat einige Bücher über das Thema gelesen. „Aber ich kann das Wissen einfach nicht anwenden“, sagt er. „Ich habe ein grundsätzliches, psychisches Problem, Dinge in die Tat umzusetzen. Nicht nur wenn ich etwas kochen oder einen Salat machen will.“ Warum, weiß er nicht. Das müsse er noch herausfinden. Die Depression ist für ihn dabei weniger die Ursache, sondern eine Folge davon. Marvin erinnert sich an ein Wochenende, an dem er nur im Bett lag. Er war durstig. Neben ihm auf dem Nachttisch stand eine Flasche Wasser. Er sagt: „Ich hätte nicht mal aufstehen müssen. Aber ich habe es nicht hinbekommen, mich umzudrehen und zu trinken.“
Die Darm-Hirn-Achse
Von der Wirkung der Ernährung auf den mentalen Zustand ist auch Dr. Isabella Heuser überzeugt. Sie ist die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin und beschäftigt sich wissenschaftlich hauptsächlich mit Hormonen und Depression.
Sie erklärt: Es gibt eine Verbindung vom Darm zum Gehirn. Im Darm wird fast das gesamte Serotonin vom Darm-Microbiom, der Gesamtheit aller im Darm vorhandener Viren, Pilze und Bakterien, hergestellt. Auch entsteht dort ein Teil des Dopamins. Beides sind Neurotransmitter, die im Gehirn unter anderem für die Regulierung der Stimmung und unser Glücksempfinden verantwortlich sind. Was wir essen, beeinflusst die Art der Bakterien, die wir im Darm haben. Denn sie ernähren sich von den Nährstoffen in unserem Essen. Je nachdem welche Arten vermehrt sind, kann das den Serotonin- und Dopaminhaushalt verändern und damit gute oder eben schlechte Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit haben. Eine ausgewogene Zusammensetzung der Bakterien ist hier wichtig. Dafür empfiehlt Dr. Heuser fermentierte Lebensmittel wie Joghurt oder Sauerkraut. Auch Ballaststoffe sind gutes Futter für die Bakterien.
Die „Glücksdiät“
Viele Studien empfehlen die mediterrane Ernährung. Auch Dr. Heuser spricht von Vorteilen für die körperliche und geistige Gesundheit. Dabei werden fettiger Fisch, frisches Obst, buntes Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte empfohlen. Besonders ausschlaggebend ist hierbei der Fisch, da er wertvolle Fettsäuren enthält. Sie schützen das Gehirn, die Neurone und Nervenzellen und sorgen nachweislich für eine bessere Stimmung. Die mediterrane Ernährung beinhaltet dazu viele Ballaststoffe, die den Darm unterstützen.
Eine ungesunde Ernährung besteht vor allem aus vielen gesättigten Fettsäuren und hochverarbeiteten, nährstoffarmen Lebensmitteln. Dies hat laut Heuser vor allem körperliche Folgen, wie Herz-Kreislauf-Krankheiten. Sie sagt: „Die mentalen Folgen wie die Auswirkung auf Depressionen sind, trotz einiger Erkenntnisse, noch nicht allgemeingültig nachgewiesen.“
Adipositas und Depression
Durch seine ungesunde Ernährung nahm Marvin 30 Kilogramm zu. „Mein Körper sah schlimm aus. Das hat dazu geführt, dass ich mich überhaupt nicht wohl gefühlt habe, jahrelang war ich nicht schwimmen. Oft stand ich nackt vorm Spiegel, habe mich angeguckt und selbst beleidigt.“
Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Übergewicht und Depression, erklärt Dr. Heuser. Wissenschaftler*innen aus Großbritannien zeigten beispielsweise bei einer Untersuchung an über 360.000 Personen, dass Depressionen häufiger sind, je höher der BMI ist. Der BMI beschreibt das Verhältnis von Körpergewicht zur Körpergröße. Je übergewichtiger eine Person ist, desto höher ist das Risiko, an einer Depression zu erkranken.
Die Gründe dafür sind verschieden und noch nicht vollständig erforscht. Zum einen sollen Hormone sich verändern und so depressive Zustände hervorbringen können. Zum anderen soll die verminderte körperliche Aktivität häufig mit depressiven Symptomen verbunden sein. Außerdem sind übergewichtige Menschen oft unzufrieden mit ihrem Aussehen und tendieren zu einem niedrigeren Selbstbild. Das kann auf die Stimmung schlagen. Deswegen wird in Kliniken für Depressive meist auf eine Ernährung gesetzt, die der Adipositas entgegenwirken soll.
Essen ist auch Kontext
Es geht auch andersherum. Katrin ist seit zwölf Jahren an einer Depression erkrankt und erzählt vom genauen Gegenteil. Auch sie möchte ihren echten Namen nicht nennen. Katrin hat mit Appetitlosigkeit zu kämpfen. Ihr scheint nichts mehr zu schmecken, essen wird Mittel zum Zweck.
Katrin erzählt: „Ich kenne das noch von früher, dass Essen mit Genuss verbunden war. Mit Freude und mit Geschmack. Je tiefer ich in der Depression war, desto weniger habe ich empfunden. Ich habe gegessen und nichts geschmeckt.“ Sie ärgert sich. Es sieht lecker aus, sie hat sich Mühe gegeben beim Einkaufen und Zubereiten. „Und dennoch empfinde ich nur eine trockene, innere Leere. Obwohl ich weiß, dass es mir eigentlich schmecken und guttun müsste.“
Dennoch versucht Katrin, frisch und gesund zu essen. „Ich merke, meinem Körper tut es gut, ich fühle mich wacher. Auch wenn es nur für eine kurze Zeit ist. Essen hilft mir auch als Event, also wenn ich zum Beispiel mit Freunden essen gehe. Da kann ich das Leben kurz genießen. Und das heißt schon etwas. Ich empfinde selten Freude.“
Dass Ernährung auch abseits von Nährstoffen Einfluss nimmt, sieht auch Psychologin Dr. Heuser so. Freund*innen und ein gutes soziales Umfeld, sowie geistige und körperliche Aktivität können vor Depressionen schützen.
Heuser erklärt: „Essen ist mehr, als nur sich etwas in den Mund zu schieben und zu verdauen. Essen ist auch Kontext. Wenn wir gute Erinnerungen haben an ein Lebensmittel, kann es uns guttun, auch wenn es nicht besonders gesund oder empfehlenswert ist. Pizza zum Beispiel.“ Häufig haben wir gute Erinnerungen an das Lieblingsessen aus unserer Kindheit. Auch in Gemeinschaft essen sei wichtig. „Das alles nimmt Einfluss darauf, wie die Ernährung wirkt.“
„Ich bin vom System enttäuscht.“
Marvin war zweimal stationär in Kliniken zur Behandlung seiner Depression und besuchte mehrere Jahre eine Selbsthilfegruppe in Dortmund. Dabei wurde ihm vor allem auf psychologischer Ebene viel geholfen.
Aber was den Aspekt der Ernährung angeht, übt er große Kritik. „Ich bin vom System enttäuscht. Einerseits von der Lebensmittelindustrie, die wenig Wert auf die Gesundheit der Menschen legt. Andererseits von der ambulanten und stationären Behandlung, wo die Ernährung nicht einmal thematisiert wurde. Lange Zeit hatte ich selbst nicht die Kraft, mich darum zu kümmern oder mich zu informieren. Aber das muss man selbst machen.“
Zu Besuch bei einer Selbsthilfegruppe in Dortmund
Die Teilnehmer*innen einer Selbsthilfegruppe für Depressive in Dortmund beschreiben Ähnliches. Viele in der Runde empfinden die Ernährung als wichtig, aber bei Ärzt*innen oder in der Klinik sei die fast nie behandelt worden. Dr. Heuser hat eine Erklärung dafür: „Es gibt noch keine allgemeingültigen Ergebnisse, wie sich Ernährung speziell zur Depression verhält.“
Ein Mann in der Gruppe meldet sich und sagt, dass er in manchen Phasen tafelweise Schokolade gegessen hat. „Man sagt ja, Schokolade macht glücklich.“ Da ist auch etwas dran, die beliebte Süßigkeit gilt nicht ohne Grund als Stimmungsaufheller. In Schokolade ist Tryptophan enthalten, ein Vorprodukt des Serotonins. Durch den Zucker geht dies schneller ins Gehirn und lässt den Serotoninspiegel ansteigen. Das macht uns kurzzeitig glücklicher. Außerdem steuert der hohe Zucker- und Fettanteil der Schokolade unser Belohnungssystem an, da es viel Energie bringt. Dr. Heuser erklärt: „Der Mensch ist aus seiner archaischen Herkunft auf diese Stoffe geeicht, denn Hochkalorisches war damals wichtig zum Überleben.“
Doch wie so oft ist die Dosis das Gift. Ein übermäßiger Konsum von Süßigkeiten wie Schokolade schadet unserer Gesundheit und soll laut einer britischen Studie auch das Risiko für psychische Krankheiten erhöhen.
Die Menschen in der Selbsthilfegruppe erzählen zudem, dass die Ernährung in sehr extremen Episoden von ihnen selbst nicht wahrgenommen wird. Eine ältere Frau erzählt, dass sie in diesen Episoden nur noch gegessen habe, weil es der Körper braucht. „Sonst wäre ich ja umgekippt.“ Es sei ihr aber egal gewesen, was dabei auf dem Teller lag. Es habe keine Rolle gespielt. Zustimmendes Nicken in der Runde.
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