Lieben wir heute anders als früher?

Paare führen ihre Beziehungen heute anders als noch vor fünfzig Jahren. Es wird nicht mehr so früh geheiratet und von veralteten Rollenbildern wollen viele Paare ebenfalls nichts mehr wissen. Unverbindlich sind ihre Beziehungen deshalb aber nicht.

Die moderne, globalisierte und digitalisierte Welt bietet uns als Gesellschaft schier unendliche Möglichkeiten – in allen Lebensbereichen, auch in der Liebe. Ob Beziehungen deshalb oberflächlicher und unverbindlicher sind als früher? Zwei Paare aus zwei Generationen erzählen.

Günter (84) und Christa (81) treffen Rika (25) und Olli (25) in ihrem Garten in Schüren und tauschen sich über ihre Beziehungen aus. Foto: Ellen Waldeyer

Das Kennenlernen

Es ist 1961. Christa absolviert ihre Lehre zur Buchhändlerin in einer katholischen Buchhandlung. Ihr nächster Stopp ist die Schreibwarenabteilung. Vor ihr im Büro sitzt Günter, 23 Jahre alt und bereits ausgelernter Groß- und Außenhandelskaufmann. Die beiden sehen sich jeden Morgen. Immer mal wieder gibt es ein freundliches Lächeln, ein kurzes Gespräch. Manchmal gehen die Gespräche tiefer als mit anderen Arbeitskolleg*innen. Gründonnerstag geht Christa auf Günter zu. „Ich gehe an Ostern nicht zum Essen bei meiner Tante. Wollen wir vielleicht zusammen essen?“, fragt sie. Günter stimmt zu. Nur eine Woche später, am weißen Sonntag, versprechen sie sich, zusammenzubleiben. Im Jahr darauf verloben sie sich, 1963 heiraten die beiden.

Kennenlernen, verloben, heiraten – das sei typisch für die damalige Zeit, sagt der Soziologe Dr. Michael Wutzler. Er hat das Buch „Paarbeziehung: Kontinuität und Wandel“ verfasst und sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern Beziehungen heute anders sind als früher. „Die Geschwindigkeit, mit der man eine Beziehung eingeht, hat sich ausdifferenziert. Die Zeit vor der Ehe war damals viel kürzer“, erklärt Wutzler . Während Paare vor fünfzig Jahren im Schnitt mit Anfang 20 geheiratet haben, liegt das durchschnittliche Heiratsalter heute bei Anfang 30. Häufig dauert es mehrere Monate, bis zwei Menschen ihrem Zusammensein einen offiziellen Namen geben. Man trifft sich, küsst sich oder schläft vielleicht auch miteinander. Aber ob das eine Beziehung ist?

Dortmund soll nicht ihr letzter Wohnort sein. In Zukunft wollen Rika und Olli Richtung Norden ziehen. Foto: privat

Es ist 2009. Rika und Olli gehen in den gleichen Jahrgang, sind in der Parallelklasse. Die beiden Zwölfjährigen unterhalten sich lieber mit Freund*innen, als im Unterricht aufzupassen. Rika und Olli kennen sich kaum, sind bloß Mitschüler*innen. Neun Jahre später ändert sich das.

Es ist 2018. Das Abitur und die Schulzeit liegen schon drei Jahre zurück. Olli betritt einen Club in seiner Heimatstadt Minden. Es ist dunkel, Lichter flackern durch den Raum, die Musik ist laut. Auf der Tanzfläche treffen sich Rika und Olli wieder, die beiden unterhalten sich und verabreden sich für die nächste Woche. Vier Monate und viele Treffen später sind Rika und Olli offiziell zusammen.

Sowohl Christa und Günter als auch Olli und Rika haben sich persönlich kennengelernt. Das ist heute längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Dating-Apps boomen. Verschiedene Studien zeigen, dass Paare sich heutzutage am häufigsten übers Internet kennenlernen.

Ist Sex heute unverbindlicher als früher?

Dating-Apps wie Tinder haben das Image, nur der Suche nach unverbindlichem Sex zu dienen. Ob es in der heutigen Zeit aber tatsächlich die Regel ist, dass Menschen nur unverbindlich miteinander schlafen und entsprechend viele Sexualpartner*innen haben, kann Wutzler nicht sagen. Eine Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf aus dem Jahr 2020 widerspricht dieser Annahme jedenfalls: Darin geben die befragten Männer im Schnitt 9,8 bisherige Sexualpartner*innen an, bei den Frauen sind es 6,1. Auffällig ist, dass Frauen die Anzahl ihrer Sexualpartner*innen tendenziell nach unten korrigieren. Nach wie vor fürchten sie sich davor, verurteilt zu werden. Genauso wie damals.

Soziologe Dr. Michael Wutzler. Foto: privat

Vor sechzig Jahren war es – zumindest für Frauen – die Norm, bis zur Ehe enthaltsam zu leben. Die Religion spielte dabei eine wichtige Rolle. Das tut sie heute nur vereinzelt. Trotzdem hatten Menschen natürlich auch damals unehelichen Sex und verstießen damit gegen die religiösen Werte. Für Männer sei das unproblematisch gewesen, bei Frauen verpönt, erklärt Michael Wutzler. Darüber gesprochen habe man in jedem Fall allerdings nicht. So offen, wie viele Menschen heute mit ihrer Sexualität umgingen, sei damals undenkbar gewesen. Nur, weil junge Menschen ihre Sexualität heute stärker ausleben würden als früher, müssten sie keine Angst vor Beziehungsunfähigkeit haben, ist sich Familien- und Paartherapeutin Svenja Hübener sicher. Die große Auswahl, die soziale Netzwerke und Dating-Apps bei der Partnersuche liefern, fördere die Suche nach ultimativer Verbindlichkeit, sagt sie.

Die Ehe als Gesellschaftsideal

Es ist 1963. Günter und Christa wollen zusammenziehen. Die Wohnung, die sie in Dortmund finden, steht ab Juni 1963 zur Verfügung, also drei Monate vor der geplanten Hochzeit. Eine Wohnung als unverheiratetes Paar zu bekommen? Unmöglich. Christa macht sich auf den Weg zum Standesamt, um den Termin für die Trauung vorzuziehen. Nur so können sie den Mietvertrag unterzeichnen, als Eheleute. Es funktioniert: Die beiden können den nächsten Termin nur 10 Tage später für die standesamtliche Trauung wahrnehmen und bekommen die Wohnung.

Sich schnell zu verloben und zu heiraten, sei auch ein gesellschaftlicher Zwang gewesen. „Das war damals noch so, auch innerhalb der Familie. Man musste verlobt sein, erst dann konnte man den Partner mitbringen“, erzählt Christa, sie ist mittlerweile 81 Jahre alt, Günter 84. Ihre Ehe empfanden die beiden aber nicht als Zwang, heiraten wollten sie ohnehin. Aus Liebe.

Heiratsboom in den 60er Jahren

1963 haben Christa und Günter geheiratet Foto: Ellen Waldeyer

Nie hat es mehr verheiratete Paare gegeben als in den 60er Jahren. Zwischen 1950 und der Einführung der Antibabypille im Jahr 1968 sind Schätzungen zufolge etwa 90 bis 95 Prozent der Erwachsenen verheiratet gewesen. Das erklärt der Soziologe Til Stefes von der Ruhr-Universität Bochum in einem schriftlichen Statement auf Anfrage der Redaktion. Stefes beschäftigt sich mit Beziehungen von Jugendlichen und Familie.

Die Soziologie spreche vom „Golden Age of Marriage“, sagt er. Der Begriff impliziere allerdings, dass dieses Bild erstrebenswert wäre, weshalb der Name umstritten sei. Zwar heiraten heute weniger Paare als damals – und wenn, dann später –, dennoch steigen die Zahlen der Eheschließungen seit ein paar Jahren. Die Scheidungszahlen gehen leicht zurück. „Da wir später heiraten, haben wir mehr Zeit, eine passende Verbindung zu finden. Das schafft langfristig Stabilität“, erklärt Soziologe Stefes.

Noch heute: Der Mann verdient das Geld

1964 machen sich Christa und Günter mit einem Partyservice inklusive Metzgerei selbstständig. Ein Jahr später werden sie zum ersten Mal Eltern. Christa bleibt nach der Geburt zu Hause, kümmert sich Zeit ihrer Ehe um die Erziehung der Kinder und den Haushalt. „Die Männer waren dafür einfach nicht zuständig.“ Günter sollte das Geld nach Hause bringen. Das sei klassisch für die 60er Jahre, sagen sowohl Michael Wutzler als auch Til Stefes. Sie sprechen vom „Male-Breadwinner-Modell“: Männer waren erwerbstätig, die Frauen blieben zu Hause. „Ich habe mich damals mehr ins Geschäft gekniet, damit wir auf die Beine kommen“, erinnert Günter sich. Trotzdem war Christa auch immer in das eigene Geschäft eingebunden – zusätzlich zu ihren Aufgaben als Hausfrau und Mutter.

Olli und Rika ist Gleichberechtigung im Haushalt wichtig. Zwar erledigt Rika aktuell mehr Arbeit in der gemeinsamen Wohnung im Dortmunder Klinikviertel, das sei aber ihren flexiblen Arbeitszeiten geschuldet. „Wir haben nicht festgelegt, was jeder von uns machen muss. Wir erledigen die Aufgaben eher so, wie sie sich gerade ergeben. Und ich glaube, wir haben beide das Gefühl, dass das ausgeglichen sein sollte“ sagt Olli. Dieses Ideal verfolgen Soziologe Wutzler zufolge viele junge Paare. Problematisch werde es, wenn Kinder dazukämen: Denn immer mehr Väter übernehmen zwar die Kinderbetreuung, viele können sich aber nicht länger als zwei Monate freistellen lassen. Damit bleibt die Care-Arbeit automatisch oft an den Frauen hängen.

„Eine starke Rolle spielt auch, was die Partner vorher verdient haben. Und Männer verdienen im Schnitt immer noch mehr als Frauen. Es ist dann eine rationale Entscheidung: Mehr Geld haben oder auf Egalität setzen?“, stellt Wutzler klar.

Die schönsten gemeinsamen Erinnerungen

Junge Menschen wollen heute also nicht mehr zwanghaften Rollenbildern entsprechen. Gleichzeitig soll die Liebe so romantisch sein wie im Märchen.

Das gemeinsame Segeln gehört für Rika und Olli mit zu den schönsten Erlebnissen in ihrer Beziehung. Foto: privat

Es ist August 2019. Das Wasser platscht sanft gegen den Steg in Schlei. Das Kreischen der Möwen ist zu hören. Vor Rika und Olli schunkelt ein hölzernes Segelboot. Das Boot hat Ollis Großvater gebaut. Erst seit Kurzem hat Olli seinen Segelschein. Der erste Segeltörn ist gleichzeitig Rika und Ollis erster gemeinsamer Urlaub. Es folgen zehn Tage voller atemberaubender Sonnenuntergänge und intensiver Gespräche – isoliert von der Außenwelt. Aber ein Segeltörn ist nicht nur romantisch, sondern fordert ein Paar auch in Stresssituationen. Rika und Olli müssen als Team funktionieren. Die Anlegemanöver fallen Rika schwer. Nach zehn Tagen freut sie sich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und springt aufgeregt vom Boot auf den Steg. Sie verheddert sich im Seil, knickt um und zieht sich einen Bänderriss zu.

Allein, zu zweit auf einem Segelboot. Das, was klingt wie der Beginn eines Liebesromans, sieht in der Realität wesentlich bodenständiger aus. Doch gerade diese Wunschfantasien seien in den Köpfen vieler junger Menschen verankert, denn Social Media vermittele das Bild einer perfekten Welt mit der perfekten Beziehung, stellt Paartherapeutin Svenja Hübener fest. „Auf Social Media hat alles seinen Glanz. Deswegen denken viele junge Menschen, es müsse einen Traumprinzen geben und das Kennenlernen müsse ablaufen wie in einem Hollywood-Streifen“, erklärt die Expertin. Mit der Realität habe das meist nichts zu tun. Laut Hübener können Beziehungen nicht immer perfekt sein.

Damals kamen Geschwister und Eltern zur Hochzeit. Die Diamantene Hochzeit feiern Günter und Christa nächstes Jahr mit Kindern, Enkeln und Urenkeln. Foto: Ellen Waldeyer

Ob Christas und Günters Beziehung stets perfekt war, ist von Außen schwer zu beurteilen. Fest steht aber: Sie war erfolgreich. Im kommenden Jahr feiern die beiden ihre Diamantene Hochzeit mit Kindern, Enkelkindern und Urenkel*innen. Das Paar ist so zusammengeschweißt, dass ein Leben allein unvorstellbar ist. „Dass wir beide noch so gesund sind, dafür sind wir unfassbar dankbar. Das ist ja auch nicht selbstverständlich, wir sind beide über 80“, sagt Günter.

Rika und Olli freuen sich auf das, was noch kommt. Sie sehen sich in der Zukunft ebenfalls mit Kindern und Enkelkindern. Wann für Nachwuchs der beste Zeitpunkt ist, da sind sich die beiden noch unschlüssig. Sie wollen beruflich erstmal vorankommen. Dortmund ist dabei nicht die letzte Station: Rika und Olli wollen in den Norden ziehen, näher ans Wasser, um dort in Zukunft vielleicht sogar mit der ganzen Familie segeln zu können.

 

Beitragsbild: Ellen Waldeyer

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