Der Platz, um in Deutschland Gemüse anzubauen, wird immer knapper. Um nicht alles aus dem Ausland zu importieren, müssen neue Ideen her. Der Dortmunder René Papier will mit Hilfe eines kleinen Superfoods die Situation in den Großstädten verbessern.
Mitten in der Dortmunder Innenstadt, im Kreuzviertel, befindet sich in einem unscheinbaren Hinterhof im Keller der außergewöhnliche Arbeitsplatz von René Papier. Feuchte, warme Luft erfüllt den ungefähr 45 Quadratmeter großen Raum. Das einzige Geräusch kommt von den surrenden Lichtröhren, die den Raum in lila-bläuliches Licht tauchen. Ab und zu unterbricht von draußen ein aufheulender Motor oder die Sirene eines Martinshorns die Ruhe. Ansonsten ist es still. In der Mitte des Raumes steht ein weißes Regal, das bis zur Decke reicht. Übereinander wachsen darin diverse Salatköpfe. Rundherum an den Wänden stehen weitere, ebenfalls deckenhohe Drahtgitter-Regale. Auf ihnen sprießen unzählige kleine Pflanzen.
An einem Tisch stehen René Papier und seine Praktikantin Christine Kirchmann. Die beiden bereiten die heutige Ernte vor. Denn das ist es, was in diesem Kellerraum mitten in Dortmund passiert: Landwirtschaft auf 45 Quadratmetern. Vertical Farming mit verschiedenen Arten von Microgreens.
Was sind Microgreens?
Microgreens gibt es als Mini-Brokkoli, Mini-Radieschen, Mini-Kohlrabi und viele weitere Sorten. Dieses kleine Gemüse ist aber nicht einfach eine Miniaturversion der bekannten Gemüsesorten. Stattdessen handelt es sich um junge Keimpflanzen, auch bekannt als Grünkräuter. Sie sehen Sprossen ähnlich, zum Beispiel Kresse, sind aber nicht das gleiche. Während Microgreens etwa 8 bis 20 Tage bis zum Verzehr wachsen, werden Sprossen oft schon nach gut einer Woche geerntet. Außerdem werden Sprossen meist ohne Substrat gezogen. Sie wachsen zum Beispiel auf feuchtem Küchenpapier oder keimen in mit Wasser befeuchteten Behältern.
Microgreens werden dagegen in Anzuchterde ausgesät. Die jungen Pflanzen bilden Chlorophyll, also Blattgrün, und sind somit Minipflanzen mit meist zwei bis drei Blättern. Und auch, wenn sie nicht wie die ausgewachsenen Gemüsesorten aussehen, schmecken sie wie diese. Außerdem enthalten sie in ihrem frühen Stadium viele Vitamine, Eiweiße und Mineralien. Laut dem AOK-Gesundheitsmagazin liefern 100 Gramm vieler der Minipflanzen mehr Vitamine und Mineralstoffe als ausgewachsenes Gemüse. Dadurch gelten sie als Superfood. Aufgrund ihrer Größe reicht für den Anbau schon ein wenig Platz auf der Fensterbank, eine freie Wand im Wohnzimmer oder ein Regal im Keller.
Der Platz ist rar und teuer
Laut Umweltbundesamt dient die Hälfte der Fläche in Deutschland der Landwirtschaft. Viel Platz, könnte man meinen.
Doch der Kampf um diese Fläche ist groß. Die Agrarflächen schrumpfen zum Beispiel dadurch, dass Städte neue Siedlungen und Straßen bauen, betont das Amt. Ökologische Ausgleichsflächen, die als Ersatz für bebautes und versiegeltes Land dienen sollen, würden diesen Platz außerdem begrenzen. Die Konsequenz daraus sei, dass mehr aus dem Ausland importiert werden müsse.
Neue Lösungsansätze müssen her
Dieses Problem hat auch der 57-jährige René Papier erkannt und es sich zur Aufgabe gemacht, eine Lösung zu finden. „Wenn es keinen Platz mehr in die Breite gibt, warum dann nicht in die Höhe bauen?“, fragt Papier. Dieses Prinzip ist als Vertical Farming bekannt.
Mittlerweile ist Vertical Farming vielen Menschen ein Begriff. So einfach, wie es sich vielleicht anhört, in die Höhe zu bauen, ist es aber nicht. Dahinter steckt viel Technik. Denn die Wurzeln der meisten Pflanzen wachsen beim Vertical Farming nicht in Erde, sondern auf Wasserbasis, in hydroponischen Systemen. Das sind Behälter oder Rohre, durch die mit Nährstoffen angereichertes Wasser fließt. Dadurch ist es möglich, den Einsatz von Wasser und Mineralien genau auf den Bedarf der Pflanzen abzustimmen – ein großer Vorteil gegenüber der herkömmlichen Landwirtschaft, bei der Düngemittel und Pestizide großflächig ausgetragen werden und zu Umweltschäden führen können.
Kleine Pflanzen, große Technik
Auch bei Papier steht ein solches hydroponisches System im Keller. Das verdunstete Wasser fängt Papier mit einem Luftentfeuchter auf und nutzt es zum Gießen oder führt es wieder in den Kreislauf des Systems ein. Papier nutzt dieses System ausschließlich für seine Salate. Die Microgreens selbst baut er nicht auf Wasserbasis an. Sie wachsen auf Erde. Trotzdem benötigen auch sie technische Ergänzungen.
Papier musste beispielsweise Klimaanlagen in den Keller einbauen lassen, damit die Temperatur möglichst gleichbleibend bei 20 bis 23 Grad liegt. An jedem Regal hängt ein Thermometer. Immer wieder wirft Papier einen Blick auf die Anzeigen. Meistens passt die Temperatur, doch wenn ein Fenster oder eine Tür zu lange offenstehen, dann muss Papier die Klimaanlage anpassen. So stellt er sicher, dass für alle Pflanzen die optimalen Bedingungen herrschen.
Zudem muss die Belichtung stimmen. Die jungen Pflanzen, die gerade keimen, brauchen Dunkelheit. Auf diese Weise wachsen sie, getrieben auf der Suche nach Sonnenlicht, möglichst schnell in die Höhe. Alle anderen Pflanzen bestrahlt Papier mit Kunstlicht. So sichert er ein gleichmäßiges Wachstum aller Pflanzen und kann das Lichtspektrum auf deren Bedürfnisse anpassen. Das Lichtspektrum der Sonne bietet ein breites Mischverhältnis aus blau, grün, gelb und rot. Die meisten Pflanzen können jedoch nur die blauen und roten Bestandteile verwerten. Deshalb verwendet Papier für den Anbau der Microgreens nur dieses Licht.
Microgreens im Einsatz
Papier hat sich Anfang 2022 mit seiner Greenspace Manufaktur selbständig gemacht. Nun verdient er sein Geld mit dem Verkauf der Microgreens. Dabei macht er alles selbst: Er baut die Pflanzen an, erntet sie und liefert sie an Kund*innen. Von der Saat bis zur Ernte dauert es ein bis zwei Wochen. In dieser Zeit muss Papier die Pflanzen jeden Tag gießen.
Für die Ernte benutzt Papier ein langes, dünnes Messer. Er nimmt eine Palette der Microgreens und platziert sie vor sich auf seinem metallischen Arbeitstisch. Möglichst nah am Boden schneidet er die ganze Palette Pflanzen auf einmal ab. Seine Messer seien eigentlich Lachs- oder Dönermesser, erklärt Papier. Er komme damit besser zurecht als beispielsweise mit einer Schere.
Papier nimmt eine Handvoll der abgeschnittenen Pflanzen und legt sie auf die Waage. Die Kund*innen seien hauptsächlich Restaurants und Unternehmen und wüssten genau, wie viele Microgreens sie von welcher Sorte brauchen. Mittlerweile hat Papier so viel Erfahrung, dass er die Menge meist perfekt abschätzt.
Microgreens sorgen für Arbeitspätze
Papier legt die bestellten Sorten in Mehrwegkisten. Um Verpackungsmüll zu sparen, bringt er die Microgreens in diesen Kisten zu den Restaurants. Beim Verpacken hilft Papiers Praktikantin Christine Kirchmann. Sie notiert außerdem, wie viel von welcher Sorte Papier und sie geerntet und verpackt haben.
Festangestellte Mitarbeiter*innen könne sich Papier für sein junges Start-Up noch nicht leisten. Doch wenn es so weit ist, hat er genaue Vorstellungen, wie er auch in dieser Hinsicht Menschen unterstützen kann. Papier möchte gerne Langzeitarbeitslose oder sozial beeinträchtigte Menschen anstellen, denen es schwerer fällt, einen Job zu finden. Denn: „Da sehe ich eine Chance im Vertical Farming. Es entstehen viele Arbeitsplätze, die auch für zum Beispiel nicht Studierte geeignet sind.“
Ein Blick in die Zukunft
Auch sonst hat Papier viele Ideen, wie er die Zukunft etwas besser machen will. Er plant zum Beispiel, irgendwann einen Hofladen in der Innenstadt zu eröffnen. Dahin könnten neben seinen Microgreens auch lokale Bäuer*innen ihre Produkte bringen, die sie zum Beispiel beim Supermarkt nicht loswerden.
Eine weitere Idee, die Papier verfolgen will, sind Schiffscontainer mit Regalen zum Vertical Farming von Microgreens oder anderen Pflanzen. Diese Container könnten sich zum Beispiel Firmen für ihre Kantine aufs Gelände stellen und so manche ihrer Zutaten selbst anbauen.
Es wird nichts verschwendet
In seinem Kellerraum im Kreuzviertel erntet Papier mehrere Paletten Microgreens ab. Die Erde mit den verbliebenden Schnittresten sammelt er in einem großen Eimer. Zwar würden die Microgreens nachwachsen, die Qualität sei allerdings nicht dieselbe. Die Nachwüchse enthielten weniger Nährstoffe und Vitamine. Da Papier seinen Kund*innen immer die gleiche Qualität anbieten will, verwende er die abgeernteten Paletten nicht erneut. „Es gibt nur zwei Dinge, wie du dich zu deiner Konkurrenz unterscheiden kannst: Qualität und Service.“ Und Papiers Konkurrenz hat sich in den vergangenen Jahren deutlich vergrößert. Als er sein Start-Up gegründet hat, habe es nur sieben andere Unternehmen in Deutschland gegeben, die Microgreens verkauft haben. Mittlerweile habe sich die Zahl mit 15 Unternehmen etwas mehr als verdoppelt.
Papier wirft die Erde mit den Schnittresten nicht weg. Alles, was übrigbleibt, bekommt ein regionaler Bauern für seine Schweine. Und wenn Papier zu viele Microgreens erntet, bringt er sie zu dem Unverpacktladen Frau Lose. Auf diese Weise gehe so gut wie nichts verloren.
Ab zu den Kund*innen
Sobald Papier alles verpackt und ins Auto geladen hat, geht es los zu den Kund*innen. Die 14 Restaurants, die Papier versorgt, sind ganz verschieden. Darunter befinden sich Sternerestaurants, die die Microgreens einzeln mit Pinzetten auf den Tellern platzieren und gut bürgerliche Restaurants, die eine gute Handvoll aufs Gericht geben.
Dabei ist es laut Papier wichtig, zu beachten, dass nicht jede Sorte Microgreen zu jedem Gericht passt. Auch wenn viele der Restaurants sie hauptsächlich als Deko nutzen, sollen sie das Gericht gut ergänzen. Papier ist ausgebildeter Koch und hat viele Jahre auf Kreuzfahrtschiffen als Küchenchef gearbeitet. Er kann also aus eigener Erfahrung sagen, welches seiner Microgreens zu welchem Gericht passen könnte. Hat Papier kein passendes Microgreen, kommt es vor, dass er die Samen einer weiteren Sorte kauft und anbaut. Findet das Microgreen bei anderen Kund*innen Gefallen, erweitert sich Papiers Repertoire.
Papiers Kund*innen sind zufrieden
Genau dieses Engagement wissen seine Kund*innen zu schätzen. Küchenchef Aleks Dymek vom Gasthaus Agethen aus Unna schätzt besonders die Frische der Microgreens. „Was René macht: Er schafft Bewusstsein. Heutzutage gibt es alles in Pulverform und davon müssen wir wegkommen.“
Dymeks Gästen falle häufig auf, dass „die Kresse“ einen ganz besonderen, eigenen Geschmack habe. Dann klärt Dymek sie auf, dass es sich gar nicht um Kresse, sondern um Microgreens handelt. Und erklärt ihnen, was genau das ist. Denn viele Menschen haben von Microgreens noch nie etwas gehört und können es auf ihrem Teller nicht richtig zuordnen.
Fotos: Eske Haverkamp