“Ein IQ von 130 macht dich nicht zu etwas Besserem”

Jede*r fühlt sich irgendwann mal anders als alle anderen. Henri Voth geht diesem Gefühl mit 18 Jahren auf den Grund. Dabei bestätigt ihm ein Test seine Hochbegabung. Wie sich die lange Ungewissheit angefühlt hat, erzählt er im Interview.

Wann wurde deine Hochbegabung entdeckt?

Irgendwann kam mir der Gedanke, dass es etwas in die Richtung bei mir sein könnte. Ich habe relativ früh angefangen, mich mit psychischen Krankheiten auseinanderzusetzen, da war ich ungefähr 12, 13 oder 14. Ich habe vier Geschwister und mich im Vergleich zu ihnen sehr untypisch entwickelt. Es gab immer wieder Situationen, in denen die Frage aufkam: “Warum weiß der Junge sowas?” Oder: “Warum versteht er das und das?” Ich hatte immer eine gute Auffassungsgabe und mochte in der Schule vor allem Mathe und Physik. Das waren meine besten Fächer, ohne dass ich etwas dafür machen musste. An allem, wofür ich hätte lernen müssen – Erdkunde, Geschichte und sowas – bin ich komplett gescheitert. Dadurch, dass ich mich mit Hochsensibilität beschäftigt habe, bin ich schließlich auf das Thema Hochbegabung gekommen und das hat gepasst: das logische Denken, die Fähigkeiten in Mathe und Physik und das technische Verständnis. Ich hatte aber auch den Gedanken, dass es genau andersherum sein könnte, weil Menschen, die, vorsichtig gesagt, nicht so “smart” sind, oft dazu neigen, sich selbst zu überschätzen. Mit 18 Jahren habe ich einen Test bei Mensa e.V. gemacht und das Ergebnis bekommen: Hochbegabung.

Mensa e.V.

Mensa ist das größte Netzwerk für hochbegabte Menschen weltweit. In Deutschland wurde der Verein 1979 gegründet und zählt mehr als 17.000 Mitglieder. Der Dachverband Mensa International besteht bereits seit 1960. Mitglied kann nur werden, wer in einem standardisierten Intelligenztest einen IQ von über 130 aufweisen kann. Diesen Test bietet Mensa in zahlreichen deutschen Städten an, wo ihn geschulte Ehrenamtliche durchführen. Über “Mensa Youth”, die Interessenvertretung für junge Hochbegabte, spricht der Verein besonders Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene an und vernetzt sie in ihrem Alltag.

Wie hat sich die Hochbegabung darauf ausgewirkt, wie du dein Leben gestaltest?

Ich muss beschäftigt sein, Langeweile tut mir nicht gut. Einen wesentlichen Unterschied macht da auch meine ADHS-Diagnose, die erst vor zwei Jahren kam. Danach habe ich angefangen, mich mehr darauf zu konzentrieren, das auszubauen, was ich gut kann und weniger den Fokus auf Schwächen zu legen, die ich ausbessern muss. Eine typische Woche könnte so aussehen: Montags spiele ich meistens mit ein paar Jungs Poker. Dienstags habe ich Klavierunterricht und versuche, wenn ich Zeit habe, ins Fitnessstudio zu gehen. Mittwochs habe ich Bandprobe – ich spiele in einer Metalband. Donnerstags treffe ich mich mit Freunden zum Dungeons & Dragons spielen. Soweit ich weiß, ist das unter “Mensanern” relativ verbreitet. Ich glaube, weil der Fantasie dabei keine Grenzen gesetzt sind. Freitags Gesangsunterricht und sonntags meistens Bouldern. Wenn noch Zeit ist, versuche ich vor allem, Sport unterzubringen. Es kann sein, dass ich diese Taktung schon früher gebraucht hätte. Hochbegabt war ich ja schon immer, ich wusste es nur nicht.

Henri Voth entdeckt mit 18 Jahren seine Hochbegabung. Foto: Jasmin Stasker

Du hast drei ältere Geschwister und eine jüngere Schwester. Wie ist deinen Eltern deine „untypische Entwicklung“ aufgefallen?

Durch Gespräche ist herausgekommen, dass sie immer den Gedanken hatten, bei mir könne so etwas wie Hochbegabung vorhanden sein. Ich wurde mit fünf Jahren eingeschult und war immer der Jüngste in der Klasse. Meine Eltern haben erzählt, dass ich mich schon vor meiner Einschulung immer mit meinen älteren Geschwistern an den Tisch gesetzt habe und Buchstaben und Zahlen lernen wollte. Aber der Hauptverdacht kam von mir. Als ich den IQ-Test gemacht habe, war mein Vater gar nicht begeistert. Er hat sich vor allem Sorgen darüber gemacht, dass mich das Ergebnis arrogant oder hochmütig machen könnte. Ich bin in einem sehr konservativen Haus groß geworden, meine Eltern sind streng christlich. Durch den religiösen Hintergrund sind sie auch etwas skeptisch der Wissenschaft gegenüber. Ich glaube, das hat mich zunächst gehemmt, diesem Gefühl von Anderssein auf den Grund zu gehen.

Religion hat also in deiner Kindheit und Jugend eine große Rolle gespielt. Wie hat dich das beeinflusst?

Ich habe mich mit 15 Jahren aus eigener Entscheidung taufen lassen und habe das ganze Thema Religion, bis ich 17 Jahre alt war, ziemlich ernst genommen. Zum Beispiel war mein Traumberuf früher Bibelschullehrer. Je älter ich wurde, desto mehr habe ich mich eingelesen und mich damit beschäftigt. Und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr habe ich mich innerlich davon distanziert – bis hin zum kompletten Atheismus. Ich war auf einer christlichen Privatschule, habe mich aber relativ früh für Philosophie interessiert. Ein bisschen kam das Kritische der Religion gegenüber wohl auch daher.

Mit dem IQ-Test kam für dich eine große Selbsterkenntnis. Viele würden von einer Diagnose sprechen – warum distanzierst du dich von dem Begriff?

Ich weiß nicht, ob es per Definition keine Diagnose ist, aber der Begriff ist stark assoziiert mit Krankheit. Das hat einen negativen Beigeschmack, finde ich. Deswegen mag ich persönlich das nicht. Ich stimme aber zu, dass die Hochbegabung Nachteile mit sich bringt, weil viele immer denken: “Okay, wenn jemand richtig intelligent ist, dann ist er ein richtiger Überflieger und hat es leichter im Leben.” Hinzu kommen Probleme, abseits vom Akademischen. Zum Beispiel im sozialen Bereich, weil es weniger Leute gibt, die die eigenen Gedanken richtig verstehen und bei denen ich das Gefühl habe, zugehörig zu sein und die gleichen Interessen zu teilen.

Was ist Intelligenz?

Intelligenz (von lat. intellegere = verstehen) lässt sich nur schwer genau definieren. In der Wissenschaft gibt es verschiedene Theorien. In der westlichen Kultur bedeutet Intelligenz, eine immense Denkfähigkeit und -schnelligkeit zu haben. Außerdem ist die Auffassungsgabe meist besonders gut ausgeprägt. Es gibt zwei Theorien in der Wissenschaft, die für die weitere Forschung von besonderer Bedeutung : Der amerikanische Professor für Kognition und Bildung Howard Gardner entwickelte in den 1980er-Jahren die Theorie der multiplen Intelligenz. Sie unterteilt Intelligenz in acht Arten: sprachlich-linguistisch, musikalisch-rhythmisch, körperlich-kinästhetisch, bildlich-räumlich, naturalistisch, logisch-mathematisch, intrapersonal und zwischenmenschlich. Dagegen steht die Forschung des britischen Psychologen Charles Spearman und sein „genereller Faktor“ (“g-Faktor”) von 1904. Spearman beobachtete, dass Kinder, die zum Beispiel mathematisch begabt waren, auch in anderen Disziplinen gut abschnitten. Diesen g-Faktor sollte ein Intelligenztest seiner Meinung nach erfassen. Spearman entwickelte dafür einen Test, mit dem Forscher*innen im Nachhinein den Intelligenzquotienten (IQ) berechnen konnten. Heutzutage wird Intelligenz anhand moderner, standardisierter Intelligenztests gemessen. Sie bestehen aus verschiedenen Aufgaben, die unterschiedliche Bereiche von Intelligenz ansprechen sollen und den Intelligenzquotienten (IQ) ermitteln. Dadurch soll eine möglichst gute Annäherung an den g-Faktor ermöglicht werden.

Du hast die Vorurteile angesprochen, die viele in der Gesellschaft Hochbegabten gegenüber haben. Welchen bist du begegnet?

Ich glaube, das Markanteste ist: Hochbegabte halten sich für etwas Besseres. Solche Leute gibt es, aber die sind eher die Seltenheit. Hinzu kommt der Glaube, jemand mit Hochbegabung habe es leichter im Leben oder sei ein Überflieger. Die Leute überschätzen das. Wenn jemand mit einem IQ von 130 oder höher hochbegabt ist und wir 100 als den Durchschnitt ansehen, klingt das erstmal viel, aber das ist es eigentlich nicht. Eine leicht erhöhte Auffassungsgabe, ein etwas besseres Textverständnis, logisches Denken – da gehen die Fähigkeiten in unterschiedliche Richtungen. IQ ist nicht gleich IQ. Ich war zum Beispiel nicht der Überflieger in der Schule. Nach der Grundschule hatte ich eigentlich eine Hauptschulempfehlung und nach der Realschule habe ich keine Empfehlung für den Besuch der gymnasialen Oberstufe bekommen. Deswegen habe ich nach der zehnten Klasse eine Ausbildung gemacht, weil ich keine Lust mehr auf Schule hatte. Ich war zu dem Zeitpunkt 15 Jahre alt und wollte Geld verdienen. Am Anfang der Ausbildung dachte ich, ich werde nie in meinem Leben studieren gehen wollen. Nach der Ausbildung habe ich aber das Fachabitur hinterhergeschoben.

Wolltest du dann doch nochmal studieren?

Ich habe zwischenzeitlich versucht, Ernährungswissenschaften zu studieren. Das hat offiziell aber nur ein Semester lang geklappt. Ich habe nicht viel für das Studium gemacht. Ich habe Ende 2020 angefangen, zu studieren und die Uni kaum von innen gesehen. Das wäre aber das gewesen, was ich gebraucht hätte. Deswegen habe ich mich gegen ein Fernstudium entschieden. Ich brauche die Rahmenbedingungen und ein passendes Umfeld, um lernen zu können. Ich wollte das soziale Umfeld, Leute um mich herum und die Lernmöglichkeiten an der Uni, weil ich überhaupt nicht der Typ dafür bin, zuhause zu lernen … oder überhaupt zu lernen. Mittlerweile glaube ich, dass Studieren nichts für mich ist. Dafür braucht es eine enorme Selbstdisziplin und sehr viel Eigeninitiative. In der Schule und der Ausbildung habe ich das nie benötigt, da bin ich so durchgerutscht. Aber bei einem wissenschaftlichen Studium funktioniert das nicht. So bin ich unter meinen Kontakten bei MENSA ohne Studium eher eine Ausnahme.

Eins von Henris vielen Hobbys: Bouldern. Foto: Jasmin Stasker

Du besuchst in deiner Freizeit den Stammtisch von Mensa e.V. Wie handhabt ihr das da mit dem IQ?

Unter “Mensanern” reden wir selten bis gar nicht über unseren IQ. Es gibt kein offizielles Verbot, dass wir darüber nicht reden dürfen oder sollen, aber es ist fast wie ein ungeschriebenes Gesetz. Wir wissen alle, dass wir da sind, weil wir diesen Test gemacht haben. Wir wissen aber auch, dass es gar nicht so viel bedeutet, wie die Leute denken. Bei Mensa ist es mehr Networking, Leute finden, mit denen wir uns gut verstehen und Aktionen machen. Ich gehe zum Beispiel viel Bouldern mit den Leuten, die ich da kennengelernt habe. Boulder-Routen sind für mich kleine Rätsel, die mich auch körperlich fordern. Mir gefällt dabei total gut, dass es nicht so kompetitiv ist. Klar, ab und zu ein bisschen mit meinen Freunden untereinander, aber es gibt keine Gewinner und Verlierer.

Was ist der IQ?

Der IQ ist der Intelligenzquotient. Er wird durch einen standardisierten Intelligenztest gemessen. Da es keine unabhängig gültige Definition von Intelligenz gibt, beschreibt der Test die Intelligenz einer Person im Verhältnis zu einer Gruppe, deren Durchschnitts-IQ bei 100 liegt. Dabei wird der eigene Test mit den Tests der Kontrollgruppe verglichen und so der eigene IQ ermittelt. Streng genommen ist der IQ damit heutzutage kein Quotient mehr, da er eine Abweichung vom Durchschnitt darstellt. Als durchschnittlich begabt gilt man mit einem IQ zwischen 70 und 130. Je ein Prozent der Gesellschaft gilt als über- oder unterdurchschnittlich begabt – weist also einen IQ von über 130 beziehungsweise unter 70 auf.

Wie planst du dein Leben weiter mit dem Wissen, dass du hochbegabt bist?

Ich plane nicht direkt mit der Hochbegabung und denke maximal fünf Jahre weiter. Ich möchte mein Leben so gestalten, wie es für mich richtig und gut ist. Darunter fällt zum Beispiel: Ich glaube, ich werde nie ein Haus besitzen, weil mich das zu sehr binden würde. Sonst habe ich keine klassischen, großen Lebensziele. Ich möchte besser werden und Zeit in das investieren, auf das ich Lust habe, also momentan zum Beispiel Klavier spielen und Songs mit meiner Band schreiben. Und ich möchte einen Job haben, der mir Spaß macht. Generell finde ich die Devise interessant: Du solltest im Leben drei Hobbys haben. Eins, das dir Geld bringt, eins, das dich kreativ hält und eins, das dich fit hält. Und die habe ich.

Bist du froh, dass du die Hochbegabung bestätigt bekommen hast oder hat das noch mehr Fragen aufgeworfen?

Ich fand das sehr positiv. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Vorher hatte ich das Gefühl, mit mir sei irgendetwas falsch oder kaputt. Jetzt ist das nicht unbedingt besser, aber es ist anders. Es ist faktisch belegt, dass ich nicht wie die meisten bin. Ich meine, ich bin jetzt auch kein Alien. Aber das sorgt für Verständnis. Zum Beispiel denke ich zurück an Situationen aus der Schulzeit und verstehe auf einmal, wieso ich mich so verhalten habe oder dass Mitschüler mich nicht verstehen konnten. Das ist für mich ein fast hundertprozentig positives Ding. Aber mir ist wichtig, dass der IQ nicht so hochgehalten wird, weil es so viele andere Skills gibt, die jemand haben kann. Deswegen heißt ein IQ von 90 nicht, dass jemand ein schlechter Mensch ist und ein IQ von 130 macht dich nicht zu etwas Besserem.

 

 

Beitragsbild: Adobe Stock/78art

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