So sieht der Alltag einer Beamtin im Gefängnis aus

Arbeit hinter Gittern: JVA-Beamtin Kim Stracke mit ihrem Kollegen Christian Balkenhoff.
Arbeit hinter Gittern: JVA-Beamtin Kim Stracke mit ihrem Kollegen Christian Balkenhoff.

Hunderte von Zellen auf- und wieder zuschließen. Drogendealern, Einbrechern oder Betrügern gegenübertreten: Das ist Alltag für die Beamtin Kim Stracke in der Jugendvollzugsanstalt Iserlohn. Sie erzählt von einem Beruf, bei dem Nähe und Distanz zu den Gefangenen dicht beieinander liegen.

Versteckt in einer Vorortsiedlung liegt das Jugendgefängnis Iserlohn. Hinter den grauen, etwa fünf Meter hohen Mauern befindet sich der Arbeitsplatz von Kim Stracke. Es ist noch dunkel draußen, als sie um Viertel vor fünf die Treppen zur JVA hochläuft. Mit einem Summen öffnet sich die Tür an der Eingangspforte. Hinter einer dicken Glasscheibe wartet ein Beamter, der ihr die Schlüssel für die Frühschicht überreicht. Durch den hellen, weißen Hauptgang in Haus 1 der JVA läuft die Beamtin zu Trakt B. Zu der dunkelblauen Uniform trägt sie schwarze Turnschuhe, an ihren Ohren baumeln mehrere kleine silberne Ringe.

Es ist ruhig auf dem Korridor, einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen Stracke entgegen. Sie grüßen und tauschen sich kurz aus. Stracke schließt eine dicke, rote Eisentür auf und gelangt auf einen Nebengang, dorthin, wo die Häftlinge in ihren Zellen leben. Rechts von ihr liegt ein verglaster Raum mit Blick auf rote, gelbe und blaue Zellentüren. Um bis zu diesem Punkt zu gelangen, hat die Beamtin mehrere schwere Türen hinter sich gelassen. Nach 20 Metern wartet eine weitere verschlossene Eisentür mit einem Glasfenster auf sie. Jede einzelne Tür muss Stracke gewissenhaft wieder verschließen, nachdem sie hindurchgegangen ist.

180 Gefangene zwischen 14 und 24 Jahren sind an diesem Tag im März in der JVA Iserlohn untergebracht. Sie sitzen wegen Körperverletzung, Drogenhandels, manche auch wegen Vergewaltigung. Seit März 2018 leben auch weibliche Gefangene in Iserlohn. Die Häftlinge wohnen in Haus 1 der JVA, dem geschlossenen Vollzug, oder in Haus 2, dem Wohngruppenvollzug. Darüber hinaus gibt es mit Haus 3 noch den offenen Vollzug.

Um sechs Uhr wird kontrolliert, ob die Insassen vollzählig sind. Stracke schließt in Haus 1 eine der gelben Zellentüren auf und schiebt auf dem Türriegel einen dicken schwarzen Knauf zur Seite. Ein Schrank, ein Bett und ein Schreibtisch mit einem Stuhl, mehr steht nicht in dem etwa zehn Quadratmeter großen, weiß gestrichenen Raum. Vor dem Fenster sind dicke silberne Gitterstäbe angebracht. Der Gefangene sitzt bereits aufrecht im Bett.

„Guten Morgen“, sagt Stracke, geht hinein und reicht dem Mann sein Frühstück. Zwei Scheiben Brot, Butter und Käse. Ein genuscheltes „Morgen“ und „Danke“ kommen zurück. Der Häftling schaut verschlafen hinterher, als sie durch die Zellentür geht und diese wieder verschließt. Freundlich wird Stracke nicht immer begrüßt. Es gebe einige Häftlinge, die ihr Sprüche an den Kopf werfen und anfangen zu meckern. „Auch eine Frau kann mal das Sagen haben, damit müssen die Gefangenen leben.“

Auf dem Gang schallt laute Musik aus einer Zelle heraus. Deutschrap. „Das ist noch harmlos“, sagt Stracke und fährt sich durch ihre kurzen blonden Haare. „Abends drehen manche hier richtig auf, schreien rum und schlagen gegen die Türen.“

Einige der Häftlinge befinden sich manchmal 23 Stunden am Stück in ihren Zellen. Da sei der Freiheitsdrang besonders groß. In der Regel komme das nur vor, wenn die Gefangenen neu sind, noch keinen Arbeits- oder Schulplatz in der JVA haben oder noch nicht in Freizeit- oder Therapiegruppen eingeteilt sind. „Wir versuchen, so gut es geht zu vermeiden, dass den Insassen die Decke auf den Kopf fällt. Voraussetzung ist die entsprechende Mitarbeit der Häftlinge.“

Allein unter Männern

Bereits seit zehn Jahren arbeitet Stracke in der Iserlohner JVA. Wenn sie in ihrer Uniform mit großen Schritten durch die Gänge läuft und den Gefangenen gegenübertritt wirkt die 35-Jährige selbstbewusst. 140 Vollzugsbeamtinnen und -beamte arbeiten in dem Gefängnis, 30 davon sind weiblich. Die JVA in Iserlohn stellt bei diesem ungleichen Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen JVA-Bediensteten keinen Einzelfall dar.

Insgesamt sind von den 8.680 Mitarbeitern in Gefängnissen in NRW lediglich 27,2 Prozent weiblich. „Ich habe schon immer in typischen Männerberufen gearbeitet. Da gewöhnt man sich an vieles“, sagt Stracke. Ihr Traumberuf war Polizistin, doch den hat sie irgendwie aus den Augen verloren. „Aber Justiz kommt ein wenig dran.“

Nach dem Frühstück müssen einige der Häftlinge zu ihren Ausbildungsorten innerhalb der JVA gebracht werden, beispielsweise in einen Malerbetrieb. Stracke läuft dicht hinter der Gruppe, bis nach etwa 30 Metern die erste verschlossene Tür auftaucht.

Angst habe ich nicht, wenn ich allein mit so vielen Gefangenen bin. Dann bräuchte ich diesen Job hier nicht machen.

„Mit der Zeit entwickelt man einen Gefahrenradar. Dann merken wir, wie die Gefangenen drauf sind.“ Während Stracke die Inhaftierten durch den langen Gang zur Ausbildungsstätte bringt, unterhalten sich die Häftlinge lautstark. Redebedarf besteht bei vielen, auch mit den Beamtinnen und Beamten. „Ganz Privates müssen die Jungs von mir nicht wissen, das hat sie einfach nichts anzugehen. Ich bin hier sehr vorsichtig mit dem, was ich preisgebe“, sagt Stracke. Aus dem Nichts heraus dreht sich ein junger Mann mit Glatze um und fragt Stracke, ob sie eigentlich verheiratet sei. „Ja, das bin ich“, sagt die Beamtin. Der Ring an ihrem Finger ist den Gefangen nicht entgangen.

Stracke versucht in der JVA nicht die harte und strenge Beamtin zu sein. „Dafür hatte ich in der Ausbildung den falschen Praxisleiter“, sagt sie und lacht. Sie sei eher locker und den Insassen gegenüber freundlich gestimmt. Bis ihr die Hutschnur reißt, dauere es sehr lange. „Es gibt eine ganz einfache Regel: So wie die Gefangenen zu uns sind, so behandeln auch wir sie.“

Bezugsperson für die Häftlinge

Falls doch einmal eine Situation zu eskalieren droht, hat Stracke ein Paar schwarze, schnittfeste Handschuhe dabei, um sich vor möglichen Angriffen der Häftlinge zu schützen. Waffen trägt sie nicht. „Das ist für mich ein viel größeres Risiko, falls die Gefangenen sie entdecken“, erklärt sie. Bei Gefahr hilft ein Funkgerät, das sofort Alarm auslöst. Mit einem kleinen Knopf werden die Kolleginnen und Kollegen verständigt. „Da stehen schnell 20 Mann zur Verstärkung da.“ Erst vor kurzem ist ein Beamter in der JVA von einem Häftling mit heißen Wasser übergossen worden.

Auch eine Geiselnahme eines Beamten hat es schon gegeben. „In solchen Momenten wird einem wieder richtig bewusst, wo man gerade ist. Und dass die Häftlinge eben nicht in der JVA leben, weil sie die liebsten Jungs sind.“ Wenn es zu solchen oder ähnlichen Ausschreitungen zwischen Bediensteten und Häftlingen kommt, versuchen die Männer, die weiblichen Mitarbeiterinnen möglichst rauszuhalten, sagt Stracke. Dafür ist sie oft sehr dankbar.

„Manche Häftlinge sehe ich bereits zum zweiten oder dritten Mal im Gefängnis. Manche kommen nie wieder“, sagt Stracke und schließt die nächste Verbindungstür auf dem langen Gang auf. Für die Beamtin sind manche Gefangenen so etwas wie ihre Ziehkinder.

Ich bin manchmal wie eine Mama für sie. Ein 14-Jähriger könnte ja wirklich mein Sohn sein.

Ihre „lieben Jungs“, wie die Beamtin die Gefangenen nennt, würden emotional schnell an den Bediensteten hängen und haben vor allem zu Beginn viele Fragen. „Wann und wie kann ich meine Familie sehen? Wie bekomme ich Benachrichtigungen von draußen?“ Man baue eine gewisse Beziehung zu den Häftlingen auf, wenn man bereits lange mit ihnen arbeitet. „Wir betreuen sie, kennen ihre Geschichte und auch ihre Taten“, sagt die Beamtin. Bei ihr gibt es klare Regeln. Keine Umarmungen, kein Händeschütteln mit den Häftlingen. Sie selbst duzt die Gefangenen. Diese müssen die Beamtinnen und Beamten jedoch siezen.

Zu viel Nähe macht kaputt

41 Stunden arbeitet Stracke pro Woche in Früh- und Spätschichten. Kümmern muss sie sich in der Zeit um circa 25 bis 40 Häftlinge. Die Zahl schwankt stetig, immer abhängig davon, wie stark eine Abteilung ausgelastet ist. Der psychische Druck sei das wirklich Harte an dem Job. „Einige Geschichten der Häftlinge gehen einem schon nah“, sagt Stracke. Ein Junge sei ihr mit den Worten im Kopf geblieben: „Ich will nicht wieder Müll essen.“

Stracke muss Belastbarkeit und Härte mitbringen. „Wir dürfen uns die Schicksale nicht zu sehr zu Herzen nehmen.“ Die Vorgeschichten der Gefangenen prägen die Sichtweise der Beamtinnen und Beamten. „Ich denke anders über die Person, möglicherweise habe ich sogar Mitleid“, sagt Stracke. Sie sei unbefangener, wenn sie nicht wisse, warum genau die Häftlinge in der JVA sind. Freiwillig reden die Insassen ungern über das, was sie an diesen Ort gebracht hat.

Die Beamtin könne sich keinen anderen Job vorstellen. „Alten- oder Krankenpflegerin wäre überhaupt nichts für mich“, sagt Stracke. „Die Menschen im Gefängnis sind zwar schwierig, aber in ihrem Leben kann noch etwas passieren und ich kann mithelfen, etwas zu ändern.“ In diesem Lebensabschnitt versuchen JVA-Bedienstete wie Stracke die Häftlinge zu begleiten.

Wir sind nicht hier, um die Gefangenen zu bestrafen. Es ist schon Strafe genug, dass sie im Gefängnis sitzen müssen.

Gegen elf Uhr betritt die Beamtin den Wohngruppenvollzug in Haus 2 der JVA. In einem Gemeinschaftsraum sitzen die Gefangenen um einen großen Tisch herum und essen zu Mittag. Sie begrüßen die Beamtin freundlich. Stracke lächelt und hebt ihre Hand zu einem Hallo. Gegen einige der stattlichen, großen Männer wirkt sie fast schon klein und zierlich. Doch das macht die Beamtin mit ihrer aufrechten Körperhaltung und dem dynamischen Gang wieder wett.

Im Wohngruppenvollzug sind maximal 15 Häftlinge auf einer Etage in ihren Zellen. „Hier habe ich ein intensiveres und engeres Verhältnis zu den Gefangenen“, sagt Stracke. Lockere Gespräche oder auch mal eine Runde am Kicker sind keine Seltenheit. Bei 40 Gefangenen pro Abteilung in Haus 1 bleibe dort dafür keine Zeit. Tagsüber bekommen die Häftlinge in Haus 2 die Schlüssel für ihre Hafträume und dürfen sich eine bestimmte Zeit lang innerhalb eines Bereiches im Haus aufhalten. Das suggeriert zumindest ein bisschen Freiheit innerhalb der Mauern.

Draußen ist Freiheit

Um 13.30 Uhr endet die Schicht von Stracke und sie übergibt an den Spätdienst. Wenn sie den Schlüssel wieder an der Eingangspforte abgibt, versucht die Beamtin, gleichzeitig alles Erlebte und Erzählte hinter sich zu lassen. „Manche Geschichten und Gedanken nehme ich mit“, sagt Stracke. Die Beamtin ist im Laufe der Jahre durch ihre Arbeit in der JVA misstrauischer geworden. Vor allem, wenn sie sich außerhalb des Gefängnisses aufhält. „Was ich gar nicht mehr haben kann, sind Räume mit extrem vielen Menschen. Oder wenn jemand hinter mir herschleicht.“

Freiheit ist für Stracke die Möglichkeit, außerhalb des Gefängnisses etwas zu tun, ohne dass jeder Schritt überwacht oder bestimmt wird. Drinnen bedeutet, eingesperrt zu sein. Auch für die Beamtinnen und Beamten der JVA. „Wir können nicht einfach vorne an der Pforte sagen, lass mich raus.“ Das Gefängnis ist Strackes Arbeitsplatz, wo sie während ihrer Schicht auch bleiben muss. „Am Ende des Tages bin ich doch froh, rauszukommen.“

Teaser- und Beitragsbilder: Lukas Wilhelm

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