Prothesen im Wandel: “Das Leben geht weiter, auch wenn es humpelt”

Technik macht mittlerweile vieles möglich, was früher noch undenkbar war. Prothesen sind heute nicht mehr nur leblose Anhängsel, sondern reagieren schon selbstständig auf Bewegungen des Trägers. Und was die Zukunft noch bringen mag, ist ungewiss. Klar ist trotzdem: Auch die beste Technik bringt uns heute nichts, wenn es keine kompetenten Fachkräfte dazu gibt. Denn jede Prothese ist einzigartig und muss auf seinen Träger angepasst werden. Das erfordert ein besonderes Verhältnis zwischen Prothesenträger und seinem Orthopädietechniker.

Fürs Erste sitzt die Prothese gar nicht schlecht bei Stefan.

Nicht jede Prothese passt auch für jeden Patienten. Sie werden ganz individuell angepasst und begleiten den Träger auf Schritt und Tritt. Dafür müssen gut ausgebildete Fachkräfte sorgen. In der Bundesfachschule für Orthopädietechnik (BUFA) in Dortmund werden zurzeit etwa 40 Meisterschüler auf ihre Prüfungen vorbereitet. Sie durchlaufen in Kleingruppen die unterschiedlichen Fachbereiche und sammeln praktische Erfahrungen. Doch wie genau läuft so ein Unterricht ab?

Eine allgemeine Antwort darauf gibt es nicht, denn die Unterschiede zwischen den Fachbereichen sind groß. Ist ein Patient beispielsweise unterschenkelamputiert, hat er noch das eigene Knie und kann die Bewegungen selbst steuern. Für Oberschenkelprothesen muss das Gelenk neu simuliert werden. Ralph Bethmann ist an der BUFA zuständig für das Fachgebiet Prothetik und leitet die Meisterlehrgänge.

Prothesen sind komplex und müssen genau auf ihren Träger angepasst werden.

Bei dieser Unterrichtsstunde zum Thema Oberschenkelprothetik sind Stefan, Thomas, Klaus und Steffi die Probanden für die Prothesen der Meisterschüler. Sie haben sich freiwillig gemeldet, um gegen eine Aufwandsentschädigung Versuchskaninchen zu spielen. „Das ist auch nicht für jeden was”, erklärt Thomas. „Es muss jemand sein, dem es nichts ausmacht, wenn er hier in Unterwäsche vor so vielen Leuten steht und befummelt wird. Ich selbst stehe da mittlerweile drüber.” Nicht nur im Unterricht, sondern auch in der Freizeit machen ihm die Blicke nichts mehr aus. „Im Freibad zum Beispiel schauen die Leute auch manchmal seltsam. Das ist ja meistens gar nicht böse gemeint, sondern nur Neugier. Am unkompliziertesten ist es da mit Kindern, die fragen einfach: Wo ist denn das Bein geblieben?“

„Wenn der Schaft nicht passt, hat alles keinen Sinn mehr“

Besonders wichtig beim Prothesenbau ist der Schaft. Das ist der Teil, der die noch gesunde Gliedmaße mit dem Rest der Prothese verbindet. Er umfasst den Stumpf des Patienten und leitet die Energie weiter in die Prothese. „Wenn der Schaft nicht passt, hat alles keinen Sinn mehr. Das kann man vergleichen mit super guten Schuhen, die einfach zwei bis drei Nummern zu klein sind“, erzählt Thomas.

Auf der Werkbank wird aus den Einzelteilen die fertige Prothese gebaut.

Heute ist die erste Anprobe der selbst gebauten Schäfte. Dadurch können die Schüler mögliche Schwachstellen erkennen und anschließend verbessern. „Die erste Anprobe ist meistens ziemlich unangenehm für die Patienten“, erzählt Bethmann. „Obwohl die Schüler für ihre Gesellenausbildung schon längere Zeit in einem Betrieb gearbeitet haben, haben etwa 80 Prozent von ihnen noch nie eine Oberschenkelprothese gebaut. Das ist der größte Mangel, mit dem wir im Moment arbeiten müssen.“ Die Ausbildung zum Gesellen sollte zwar möglichst alle Bereiche abdecken, aber in der Praxis konzentriere sie sich meistens auf einen Schwerpunkt.

Während der Anprobe arbeiten jeweils zwei Schüler mit einem Probanden zusammen und besprechen gemeinsam die Vorteile und Schwachstellen ihrer Prothesen. Weil die Zeit in der Oberschenkelprothetik nur so kurz ist, dienen die selbstgebauten Prothesen in der Regel nur zu Übungszwecken. Ab und zu komme es aber vor, dass den Patienten die Prothese so gut gefällt, dass sie sie auch im Alltag tragen möchten. „In diesem Fall geben wir sie den Probanden mit, damit ihr Techniker sie ausbauen kann“, erklärt Bethmann. „Die Bundesfachschule darf selbst nämlich keine Patienten versorgen, das gäbe Probleme mit der Versicherung.“

Ralph Bethmann (rechts) erklärt den Schülern und Probanden, was man an ihren Prothesen noch verbessern kann.

Ob Schaft, Fuß oder Kniegelenk – jeder Teil ist individuell

Ein Schrank voller Füße – für unterschiedliche Patienten braucht man eine große Auswahl.

Für den Schaft wird zunächst ein Gipsabruck von dem noch vorhandenen Stumpf gemacht. Dieser wird ausgegossen, um eine möglichst genaue Kopie zu erstellen. Ein spezieller Ofen erhitzt die Kunststoffplatten bei über 600 Grad. Anschließend werden die Platten um den Gips gelegt und es wird ein Vakuum erzeugt. Dadurch ziehen sie sich um den Abdruck und nehmen seine Form an.

Diese bearbeiten die Schüler per Hand noch genauer, um sie an ihre Patienten anzupassen. Mit einem speziellen Föhn kann das Material erneut erhitzt werden, um den Schaft bei möglichen Schwachstellen zu verbessern. Die Arbeit mit Kunststoff ist nur für die erste Formfindung wichtig, die richtigen Prothesenschäfte werden später aus Carbon gefertigt.

Der Schaft ist zwar ein wichtiger Teil, aber nicht alles an einer Prothese. Um Ober- und Unterschenkel miteinander zu verbinden, braucht sie ein künstliches Kniegelenk. „Da gibt es ganz viele verschiedene Modelle. Viele Kniegelenke sind mittlerweile elektronisch gesteuert, aber es gibt auch noch manuelle.“ Dabei kommt es darauf an, wie mobil die Person ist. Wie oft und wofür nutzt der Betroffene sein neues Bein? Muss es zum Beispiel eine schwere Belastung im Berufsalltag tragen?

Als nächstes kommen spezielle Rohre, die die Verbindung zwischen Kniegelenk und Fuß darstellen. Sie sind der unkomplizierteste Teil im Prothesenbau. Wichtig ist dabei vor allem, dass die Länge zu der des gesunden Beines passt. Zuletzt wird der Fuß ausgewählt. Dafür ist eine Tabelle mit Gewicht und Schuhgrößen eine erste Hilfe.

Probieren geht über studieren – und ist Teil davon

Mit unterschiedlichen Mitteln versuchen die Schüler, die Lücke zwischen Schaft und Stumpf zu füllen.

Die Unterrichtsstunden an der BUFA haben für die Schüler einen besonderen Vorteil: Sie können vieles ausprobieren, was später im Unternehmen vielleicht nicht mehr möglich ist. „Wir haben hier die aktuellen Standards, damit die Schüler auch die neuere Technik selbst ausprobieren können“, erklärt Bethmann. „Durch den ständigen Fortschritt wird die Versorgung in der Praxis immer ein wenig hinter dem Fortschritt zurückhängen. Allerdings ist die Frage, was davon der Patient wirklich braucht. Wir kommen auch mit älterer Technik meist ganz gut zurecht.“

Stefan steht einer neuen Methode noch etwas skeptisch gegenüber.

Denn die Versorgung ist immer auch eine Frage des Geldes. „Laut Gesetz haben die Patienten zwar einen Anspruch auf den neusten Stand der Technik. Aber es bleibt immer eine Diskussion mit den Krankenkassen.” Dafür müssten sie unter anderem mit Videobeweis jedes Mal neu argumentieren, warum die Versorgung für den Patienten nötig sei. Da käme es auch schon mal vor, dass ein Patient die 20.000 Euro für seine Prothese selbst zahlt. „Das ist zwar eine Menge Geld, aber es gibt auch Menschen, die das für ein neues Auto ausgeben würden”, ergänzt ein Schüler.

Mit Alginat bearbeitet passt die Prothese schon besser.

Aber nicht nur neue, sondern auch ungewöhnliche Technik(en) können die Schüler hier ausprobieren. Zwei der Testprothesen sind zu lang, sodass der Stumpf unten keinen Kontakt mehr zum Schaft hat. Um die Form für einen neuen Gipsabdruck anzupassen, versuchen die Schüler, die Lücke mit Alginat zu füllen. „Das Material wird zum Beispiel von Zahnärzten für einen Abdruck des Kiefers genutzt“, erzählt Bethmann. „Man benutzt es zwar gelegentlich auch in der Prothetik, aber in einer so großen Menge ist das sehr unüblich. Prothesen, die auf lange Zeit genutzt werden sollen, könnte man so nicht mehr retten.“ Stefan wird nun am eigenen Leib erfahren, ob diese neue Technik geeignet ist. „Ich bin schon seit Jahren dabei, aber das habe ich auch noch nicht erlebt. Da bekomme ich hoffentlich noch extra Schmerzensgeld“, sagt er lachend, während sein gesundes Bein mit einem Müllsack umwickelt wird, um es vor Schmutz zu schützen.

Den richtigen Techniker finden – mehr als nur gute Noten

Für eine gute Zusammenarbeit muss es zwischenmenschlich passen.

Den richtigen Techniker zu finden ist gar nicht so einfach, denn er braucht mehr als nur theoretisches Wissen und Erfahrung. „Mit das Wichtigste ist, ob man mit der Person auch menschlich klarkommt“, erzählt Steffi. Dafür müsse er nicht zwangsweise besonders sympathisch sein. Aber vor allem direkt nach der Operation brauche man jemanden, der mit Feingefühl an die Sache herangehe.

„Meine erste Erfahrung ist ein gutes Beispiel dafür, wie es nicht sein sollte. Er kam herein und hatte schon direkt eine unsympathische Ausstrahlung auf mich. Die einzigen Worte zu mir waren: ‘Sie kriegen das hier’. Wie in einem Katalog, er hat mich gar nicht als Menschen gesehen. Und das war eine Woche nach der Operation. Da habe ich mir direkt einen neuen Techniker gesucht.“

Stefan hat da bessere Erfahrungen gemacht. „Das ist eben immer anders. Mein erster Techniker war mir direkt so sympathisch, dass ich bei ihm geblieben bin.“ Am Anfang sei es auch nicht immer leicht für die Techniker. Nach der Operation sei das Bein meist noch länger angeschwollen. Außerdem komme hinzu, dass es der Person psychisch oft nicht gut gehe und das wirke sich auch auf den Tragekomfort aus.

Ein Bein farblich passend zum Auto

„Ich habe da mal einen passenden Spruch gelesen”, erzählt Steffi: „Das Leben geht weiter, auch wenn es humpelt.” Und weil es eben nicht nur darum geht, dass es weiter geht, sondern vor allem, wie es weiter geht, hat sich die Prothetik nicht nur auf praktischer Ebene weiter entwickelt.

Stefan will, dass das Design seiner Prothese etwas Besonderes ist.

„Das war früher mal ein T-Shirt“, erklärt Stefan und zeigt auf seinen bunt gemusterten Prothesenschaft. „Da wurde dann Flüssigkeit rüber gestrichen und so ist ein ganz individuelles Design entstanden. Da gibt es schon eine Menge Möglichkeiten. Mein Schienbein zum Beispiel passt farblich zu meinem Auto. Wenn ich im Sommer in kurzer Hose herumlaufe, dann soll das ja auch was hermachen.“ Das Schienbein wurde im 3D-Drucker gefertigt und ist ein Stück breiter als andere Prothesen. Das hat den Vorteil, dass es unter der Hose noch mehr wie ein normales Bein aussieht.

„Manchmal treten die Menschen in meinem Umfeld immer noch in Fettnäpfchen. Da kann es dann schon mal vorkommen, dass jemand mal einen drüber bekommt, obwohl er es gar nicht verdient hätte“, erzählt Steffi. Es käme immer darauf an, wie sie gerade drauf ist. „Ich mache mir da auch öfter einen Spaß draus“, fügt Stefan grinsend hinzu. „Mir hat zum Beispiel mal jemand eine Standpauke gehalten, als ich auf einem Behindertenparkplatz geparkt habe. Da habe ich meine Prothese nach oben geklappt und gesagt: Wenn man das kann, dann darf man auch auf einem Behindertenparkplatz parken. Das war ihm dann ziemlich unangenehm. Ich hab mich aber trotzdem bei ihm bedankt, denn es ist ja an sich eine gute Sache, dass er darauf achtet.“

Noch keine Profis, aber auf dem Weg dahin

Das hautfarbene Plastikstück soll die Füße realistisch aussehen lassen.

Am Ende der Unterrichtsstunde in der BUFA wird noch ein wenig an den letzten Stücken herumgeschraubt. Wie haben sich die Techniker von morgen gemacht? „Das war eine gute Stunde”, verkündet Bethmann zufrieden. “Das offizielle Ziel ist, dass in der zweiten Anprobe alle Probanden auf ihren Prothesen laufen können. Heute in der ersten Stunde sind schon zwei Patienten gelaufen, das ist ein sehr gutes Ergebnis.“

Auch die Probanden sind zufrieden mit den Schülern. “Es wird zwar noch viele Dutzend Prothesen dauern, bis sie Profis in dem Gebiet sind”, erklärt Thomas. “Wenn man mit diesen Übungsschäften raus gehen würde, wäre alles nach ein paar Stunden wund. Aber für den ersten Versuch war das schon gar nicht schlecht.”

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3 Kommentare

  1. Vielen Dank für den ausführlichen Beitrag über Prothesen. Es hat mich schockiert die zu lesen, dass manche Techniker die Patienten nicht wie Menschen behandeln. Das ist sicher nicht der richtigen Weg mit Leute umzugehen, die unter dem Verlust eines Gliedes leiden. Um sich nach einer solchen Operation wieder wohl fühlen zu können, muss man den Menschen vertrauen können, von denen man Betreut ist.

  2. says: Martin Lobinger

    Mein Opa trägt bereits seit mehreren Jahren eine Knieprothese. Ich wusste zugegebenermaßen dennoch ganz wenig über Prothesen, bevor ich diesen Beitrag gelesen habe. Ich habe erst jetzt erfahren, dass der Schaft der wichtigste Teil einer Prothese ist. Eigentlich macht dies Sinn – der Schaft muss ja die Energie aus dem Stumpf des Patienten in die Prothese weiterleiten und damit Prothese mit Körper fest verbinden.

  3. says: Holger Tresemer

    hallo als anfrage von mir an euch brauch ihr noch probanden für gipsabdrücke ??? und wie könnte man euch als versuchskanninchen sonnst noch zu verfücung stehen??? Hierbei geht es mir nicht um in erster linie ums geld zuverdienen

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