Sie sollen Kostüme nähen, Sponsoren finden und Rollen lernen: Beim Projekt „Theater Total“ müssen junge Schauspielerinnen und Schauspieler hart für ihre Leidenschaft arbeiten. Ein Jahr opfern sie alles für ihren Traum.
„Taka-ti-taka-ta! Weiter! Schneller! Lächeln! Eh-eh-ti-eh-ta!“ Ein paar Minuten später dringt ein Grillen-Zirpen durch die Tür, eine Stunde später lateinamerikanische Rhythmen, begleitet von einem Schnalzen. Wenn man an einem Montagmorgen vor dem Probenraum des „Theater Total“-Hauses am Eickhoffpark in Bochum steht und lauscht, könnte darin alles passieren: ein Indianer-Ritual, eine Entspannungsübung oder Geburtshilfe? Tatsächlich ist es ein Tanzkurs für junge Schauspielerinnen und Schauspieler. Malte Bornemann macht mit.
9 Uhr: Auf Pünktlichkeit kommt es an
Eine Viertelstunde zuvor schlurft Malte durch die Gänge. Tiefe Ringe liegen unter den Augen, eine Mütze bedeckt seine zerzausten Haare. Am Vorabend hatten die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler eine Aufführung. Ohne Pause, ohne Erholung geht am nächsten Tag ihre Ausbildung weiter. Wie die meisten trägt Malte eine Jogginghose.
Die Schultern des 20-Jährigen hängen herunter. Er stapft in den Aufenthaltsraum im Keller des Hauses. Dort legt er seine Tasche ab und murmelt ein “Hallo” zu denen, die schon da sind. Manche ziehen sich um, andere sprechen über den Unterricht in der kommenden Woche. Hastig läuft Malte die Treppe wieder hinauf. Die erste Stunde beginnt um neun Uhr. „Da will ich nicht zu spät sein“, sagt er. Er könnte sonst vom Unterricht ausgeschlossen werden.
Das Projekt ist für junge Erwachsene, die sich fragen: Wer bin ich eigentlich und was steckt in mir drin?
Seit fünf Monaten macht Malte bei „Theater Total“ mit. 30 junge Menschen lernen hier alle Facetten und kreativen Berufe des Theaters kennen. Es ist ein Vollzeit-Job. „Das Projekt ist für junge Erwachsene zwischen Schule und Studium oder überhaupt irgendwo dazwischen gedacht, die sich fragen ‚Wer bin ich eigentlich und was steckt in mir drin’, erklärt Barbara Wollrath-Kramer, die Leiterin des Projekts.
Im Jahr 1996 hat sie „Theater Total“ gegründet. Seitdem bewerben sich jedes Jahr hunderte Bewerberinnen und Bewerber. In einem zweitägigen Workshop werden verschiedene Übungen durchgeführt, die Teil des Theater Total-Projektes sind, so zum Beispiel Improvisation-Übungen oder auch eine Tanzstunde. Am Ende waren dann 30 junge Menschen ausgewählt, die zusammen eine homogene Gruppe bilden. Bei der Auswahl geht es nicht ausschließlich um schauspielerisches Talent, sondern vor allem auch um die Persönlichkeit: Die Nachwuchs-Schauspieler und Schauspielerinnen müssen vor allem zu dem Projekt passen. Der Bewerbungsschluss ist jedes Jahr am 25. Juni.
Nachdem die Schauspieler und Schauspielerinnen ihre Zusage erhalten, dauert das Projekt ein Jahr. Finanziert wird „Theater Total“ unter anderem von Sponsoren und Sponsorinnen, eigenen Einnahmen von den Aufführungen, private Spenden und auch durch Zuschüsse der Stadt Bochum. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bezahlen einen Eigenanteil von etwa 100 Euro pro Monat. 15 Mädchen und 13 Jungs aus ganz Deutschland haben es in den aktuellen Jahrgang geschafft.
9.30 Uhr: Bauchmuskeltraining am Morgen
Tanzlehrer Carlos Sampaio wartet im großen Probenraum im ersten Stock. Der Raum steht komplett leer, durch die großen Fenster scheint die Sonne hinein. Erwartungsvoll blickt der Tanzlehrer seine Studentinnen und Studenten an. Die Stimmen im Raum verstummen und die angehenden Künstlerinnen und Künstler bilden einen großen Kreis.
Carlos klopft mit den Händen auf sein Bein, die Gruppe macht mit – unaufgefordert. Fängt er an zu klatschen, fallen auch da alle mit ein – bis zur nächsten Übung. „Haben wir Lust, Bauchtraining zu machen?“, fragt Carlos. Malte stöhnt. Doch schon liegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf dem Boden. Zwanzig Situps, dreißig Liegestützen, eine Minute in den Unterarmstütz. Und wieder von vorn. „Tsch, tsch! Und eins, zwei, drei! Schneller! Tsch, tsch!“ Durchhaltevermögen und Disziplin sind gefragt. Eigenschaften, die auch auf der Bühne wichtig sind.
Am Anfang wollen die meisten Schauspieler werden, merken dann aber, wie anstrengend das ist und entscheiden sich um.
Viele, so auch Malte, wollen Schauspielerinnen und Schauspieler werden. „Theater Total“ hat einige bekannte Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht. Paul Lux zum Beispiel, der 2017 in der deutschen Netflix-Serie “Dark” „Bartosz Tiedemann“ gespielt hat, oder Lina Beckmann, die häufig im Tatort zu sehen ist. „Am Anfang wollen die meisten Schauspieler werden, merken dann aber, wie anstrengend das ist und entscheiden sich um“, sagt Barbara Wollrath-Kramer. Die Wege der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem einjährigen Projekt sind verschieden. Für diejenigen, die sich weiter für Theater interessieren gilt „Theater Total” bei Bewerbungen als Pluspunkt im Lebenslauf.
Auch die Eigenschaften, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem Projekt mitnehmen sollen, sehen Regisseurinnen und Regisseure sowie Intendantinnen und Intendanten in der Szene hoch an. Zu diesen Eigenschaften zählt unter anderem Disziplin, die vor allem in den “heißen Phasen” vor den Aufführungen benötigt wird. Dann laufen die Proben Tag und Nacht. Malte kennt das, eine Vorstellung hat er schon hinter sich. „Es war heftig. Wir waren morgens um 9 Uhr hier und dann ging das schon bis 1 Uhr nachts“, sagt er. „Ich dachte eigentlich, ich bräuchte meinen Schlaf, aber man gewöhnt sich dran.“
10.30 Uhr: Zeit für Hebefiguren
Selbstdisziplin ist das eine, Vertrauen in die Gruppe das andere, was die angehenden Künstlerinnen und Künstler im Projekt lernen sollen. Im zweiten Teil der Tanzstunde üben sie Hebefiguren. Sechs von ihnen bilden eine Art Fächer. Malte liegt auf dem Boden, auf ihm lastet das Körpergewicht aller anderen, die sich vor ihm positionieren und sich rückwärts auf ihn fallen lassen. Wenn er loslassen würde, würde das Gebilde in sich zusammenbrechen. „Man lernt die anderen Teilnehmer richtig gut kennen“, sagt Malte. „Hier habe ich intensive Freundschaften geknüpft, die ich sonst noch nicht hatte. Dabei kenne ich alle ja erst seit Kurzem.“
Das Theater ist Maltes Leidenschaft, dabei hat er sich selbst nie als Typen dafür gesehen. Er falle nicht besonders auf, sagt der junge Mann mit den kurzen blonden Haaren und Sommersprossen im Gesicht. Auch seine Eltern rieten ihm zunächst vom Schauspiel ab, unterstützen ihn aber bei allem, was er sich vornahm. Trotzdem studierte Malte erstmal Grundschullehramt. Trotzdem: Die Leidenschaft blieb. „Ich wollte etwas machen, wo ich hundertprozentig hinterstehe“, sagt der 20-Jährige. Also bewarb Malte sich beim Projekt – und macht jetzt erstmal Pause mit dem Studium.
Kommende Aufführungen
Am Ende des Projektes „Theater Total“ steht eine dreimonatige Tournee mit einem selbst inszenierten und aufbereiteten Theaterstück an. Die Premiere für Shakespeares „Was ihr wollt“ ist in Bochum für den 29. März 2019 geplant. Ab dem 1. März werden Reservierungen entgegen genommen.Wer sich einmal für „Theater Total“ entschieden hat, sollte sich wirklich sicher sein. Zu viele Opfer müssen die angehenden Künstlerinnen und Künstler für ihren Traum bringen: Freizeit gibt es quasi nicht. Treffen mit Freunden oder der Familie sind nur selten drin. „Wir kommen morgens um 9 Uhr an und sind dann bis abends um 21 oder 22 Uhr hier. Da bleibt keine Zeit, mal eben nach Hause zu fahren“, erklärt Malte.
Theater Total bestimmt einfach unsere Freizeit, unsere Freunde und unser Leben.
Selbst in der verbleibenden Zeit geht es bei ihm fast nur um die große Leidenschaft. Nach dem Projekt soll es in der Branche weitergehen, Malte träumt davon Schauspieler zu werden. In Bochum wohnt er in einer WG mit zwei weiteren Teilnehmern. „Wir reden auch privat viel drüber. Theater Total bestimmt einfach unsere Freizeit, unsere Freunde und unser Leben.“
Obwohl die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den gesamten Tag aufeinanderhängen, gebe es selten Streit: „Höchstens, wenn jemand seine Aufgaben nicht erledigt und andere das ausbaden müssen. Und zu Hause entsteht das größte Theater bei der Frage, wer zuerst morgens duschen geht”, sagt Malte.
11.30 Uhr: Vom Tanzen zum Gesang
Dass Carlos beim Tanzen überzieht, nehmen die Schauspielerinnen und Schauspieler hin. Ohne Pause geht es weiter zur Gesangsstunde. Während zwei Studenten das Klavier in den Raum schieben, verteilt Dozentin Rosani Reis die Liedzettel und unterteilt die Gruppe in die verschiedenen Stimmlagen. Sofort sind alle wieder still.
Rosani begleitet die Lieder am Klavier: „Klasse“, ruft sie immer wieder. Alle singen mit – und niemand schief. Viele haben die Augen dabei geschlossen. Der Gesangsunterricht macht Malte Spaß. Sein Lieblingsfach bei „Theater Total“ ist aber der „Bühnenkampf“. Dort lernen die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler, wie sie Streit- und Kampfszenen so darstellen, dass sie realistisch aussehen.
13.30 Uhr: Endlich Mittagessen
„Ich will Essen. Ich hab Hunger“, sagt Malte leise. Es ist 13.30 Uhr. Mehr als vier Stunden dauerten die ersten beiden Einheiten. Als Rosani den Unterricht eine halbe Stunde später als veranschlagt beendet, stürmen alle an den gedeckten Tisch. Eine Gruppe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat sich ums Essen gekümmert.
Bei „Theater Total“ sollen die Nachwuchsschauspielerinnen und -schauspieler auch Selbständigkeit lernen. Sie übernehmen Aufgaben, die zu jedem Haushalt gehören. Jede Woche gibt es einen Kochdienst. Auch ist klar geregelt, wer Brot beim Bäcker kauft oder den Müll rausbringt. Donnerstags wird das „Theater Total“-Haus geputzt. Dazu gehört neben dem Aufenthaltsraum, dem Speisesaal und der Küche im Untergeschoss, der Probenraum, ein Kostümfundus und ein Nähzimmer im ersten Stock, sowie Büroräume im zweiten Stock.
15 Uhr: Theater ist mehr als Schauspiel
Nach der Mittagspause teilt sich die Gruppe auf. Nun sind alle Bereiche abseits der Bühne dran. Während eine Gruppe an der Bühnentechnik arbeitet, telefoniert eine andere mit Sponsoren für eine anstehende Tournee. Auf dieser Tournee zeigen die jungen Schauspielrinnen und Schauspieler das Stück „Was ihr wollt“ von Shakespeare.
Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer muss sowohl Sponsorinnen und Sponsoren für einen Spielort finden, als auch eine Bühne für die Aufführung organisieren. Malte fühlt sich auf der Bühne wohler als bei den Aufgaben abseits: „Für mich ist alles, was zum Bereich Marketing gehört, eigentlich nichts.” Trotzdem ist der junge Schauspieler stolz, die Verantwortung für einen gesamten Spielort zu tragen.
Eine weitere Gruppe wühlt mit Kostümbildnerin Lena Martin im Kostüm-Fundus nach passenden Outfits für die nächste Show. In dem kleinen Raum hat sich über die Jahre ein buntes Repertoire angesammelt. Es riecht ein bisschen muffig wie in einem Second-Hand-Laden. Ein Kleiderständer steht vollgepackt neben dem anderen. Schillernde Abendkleider, Jacken aus den Achtzigern, Röcke und Hosen in den verschiedensten Längen und Farben hängen daran. In den zahlreichen Kisten stapeln sich Zylinder, Federhüte, bunte Strumpfhosen, und Schuhe in allen Varianten und Größen.
Klamotten und Kostüme interessieren Malte kaum. Doch da muss er durch. Eigentlich weiß er auch, dass die Arbeit an den Outfits zum Theater gehört. “ Wir lernen auch Bereiche kennen, bei denen man sich vorher gedacht hat ‚Das ist jetzt nicht so meins’”, sagt er.
18 Uhr: Kein Feierabend in Sicht
Der letzte Programmpunkt des Tages fordert die Schauspielerinnen und Schauspieler noch einmal alle gemeinsam. Es geht um Dramaturgie, also die Analyse eines Theaterstücks. Auch wenn alle schon mehr als acht Stunden dabei sind, scheinen sie kurz vor Beginn der Stunde noch genügend Energie zu haben. Ein Mädchen springt die Treppe runter, andere üben im Probenraum noch einmal die Choreographie.
„Es gibt eigentlich gar keine Tage, an denen man keinen Bock hat. Es ist selbstverständlich, dass man da ist und es gibt immer etwas, worauf man sich freut“, sagt Malte. „Man entwickelt sich einfach in so vielen Bereichen des Theaters weiter“. Bei allen seien Fortschritte zu sehen. Dann schnappt er sich den Text und geht wieder in den Probenraum. Ein Jahr lang geht das Projekt. Ein Jahr, in dem Malte nur für das Schauspiel lebt.