Im Sekundentakt: Wie Saskia zur Uhrmacherin wurde

Mehrere tausend Teile, die ineinanderlaufen. Jedes Zahnrad muss an seinem Platz sitzen, damit eine Uhr am Ende auch das tut, was sie soll: die Zeit anzeigen. Saskia Schweitzer beschäftigt sich damit in ihrer Ausbildung – sie ist angehende Uhrmacherin.

„Ich habe ein bisschen Finger-ADHS“, sagt Saskia Schweitzer und lacht. Immer müsse sie etwas in den Händen haben, sei es beim Serien schauen oder während der Arbeit. Fingerspitzengefühl ist ihr Job: Die 25-Jährige absolviert eine Ausbildung zur Uhrmacherin.

Saskia ist eine schmale Frau mit Brille. Mit ihren mittellangen braunen Haaren, Jeans und olivgrünem Pulli steht sie in der Werkstatt des Max-Born-Berufskollegs in Recklinghausen. Werkstatt heißt in diesem Fall: Ein Raum voller Uhren. Die meisten von ihnen sind schon lange stehen geblieben. Sie hängen an den Wänden, liegen auf den Tischen, in jedem Winkel des Raums und in jedem möglichen Zustand: Manche sind kaum erkennbar als Uhr, manche sind vollständig zusammengebaut, antiquiert oder modern.

Saskia Schweitzer ist Uhrmacherin in Ausbildung.

In einer Ecke steht eine Krimskrams-Kiste mit alten und nicht mehr gebrauchten Uhren, Einzelteilen, Armbändern oder anderen Überbleibseln. Aus dieser Kiste hat sich Saskia eine alte Uhr genommen, sie repariert und poliert. Jetzt trägt sie diese am Handgelenk. Viele Uhren besitzt sie nicht, sagt sie und grinst. „Ich habe die perfekte Uhr für mich noch nicht gefunden.“ Sie zieht ihren weißen Kittel an und setzt sich an die Werkbank. Die Atmosphäre in der Werkstatt ist locker, der Umgang zwischen den Auszubildenden und Lehrerinnen und Lehrern freundschaftlich. Die Sonne scheint durch die großen Fenster in die Werkstatt.

300 bis 400 Uhrmacherinnen und Uhrmacher werden jährlich in Deutschland ausgebildet. Nach Angaben des Innungsmeisters des Uhrmacherhandwerks Alfons Bußkamp könnten allerdings über 1000 Stellen besetzt werden. Warum entscheiden sich junge Menschen für einen scheinbar altmodischen Beruf wie diesen? Die Berufschancen sind im Moment sehr gut, sagt Saskia. Sowohl bei Juwelieren als auch in Manufakturen und bei kleinen und großen Uhrherstellern würden Uhrmacherinnen und Uhrmacher gebraucht. Einerseits, um Uhren zu reparieren und anzufertigen, aber auch, um zum Beispiel Schmuck instand zu halten. Die Auszubildenden in Recklinghausen lernen deshalb zum Beispiel auch, wie man Perlenketten repariert. Auch die Hersteller von sehr teuren Uhren in Deutschland oder der Schweiz sind auf der Suche nach Uhrmacherinnen und Uhrmachern.

In jedem Winkel der Werkstatt hängen Uhren.

Kaffeeduft zieht durch die Werkstatt, in der Saskia arbeitet – an der Seite ist eine kleine Küche. In der Pause nimmt Saskia sich einen Keks aus der Tüte, die dort für alle steht. Derzeit arbeiten in diesem Raum fünf Auszubildende, alle im dritten Lehrjahr. 17 Schülerinnen und Schüler sind es insgesamt in Saskias Jahrgang. Am Anfang werden vor allem Sägen, Feilen und Schleifen unterrichtet. Dann wird es feiner und kleinteiliger. „Am liebsten arbeite ich an kleinen Uhren – das ist einfach faszinierend“, sagt Saskia. Eine Uhr kann aus mehreren 1.000 Teilen bestehen.

Mehr Uhren reparieren als Uhren bauen

Die Haare zum Zopf gebunden, eine Augenlupe vor das linke Auge geklemmt, die Pinzette in ihren Händen. So sitzt Saskia da, auf einem kleinen Hocker ohne Lehne. An den schmalen Fingern trägt sie Gummihandschuhe. Die Werktische sind so eingerichtet, dass Augen und Kopf auf einer Höhe mit dem Uhrwerk sind.

Obwohl der Beruf Uhrmacher heißt, ist das Uhren machen ein zu vernachlässigender Aspekt der Gesellenausbildung. Vielmehr lernen die Auszubildenden, Fehler zu erkennen und diese zu reparieren. „Dafür muss man sich halt mit den einzelnen Teilen auskennen“, sagt Saskia. Sie erklärt ihre Arbeit mit einigen Fachbegriffen, die außer ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen niemand versteht – und strahlt dabei.

Im Moment befindet sich die Klasse in der Praxisphase. Die Theorie wird in Blöcken unterrichtet. „Ich bin nicht die Theoretikerin – deswegen hab‘ ich auch nicht studiert“, sagt Saskia. Heute hat sie ein Uhrwerk bekommen, das sie auseinanderbauen muss. 20 Minuten dauert das. In Plastikdosen mit verschiedenen Fächern legt sie die einzelnen Teile ab. Alles ist beschriftet, jede Schublade, jeder Knopf an der Werkbank. An ihrer Lampe hat sie feine Figuren aus gezwirbeltem Metall befestigt – selbst gemacht natürlich.

Jeder Handgriff an den winzig kleinen Teilen muss sitzen.

Eigentlich wollte sie etwas mit Holz machen. „Was Großes“, sagt sie. „Sowas, wo am Ende des Tages was vor einem steht, was man selbst gemacht hat.“ Bei einem Praktikum in einer Holzwerkstatt merkte Saskia aber, dass ihr Holz zu grob ist. Was Feineres, etwas, das mehr Fingerspitzengefühl braucht, das sollte es sein.

Jetzt liegen winzig kleine Zahnräder vor Saskia auf dem Tisch, sie schimmern silbern oder golden. Die Reinigung der einzelnen Teile steht an. Wie in einem Labor sieht es aus, als die Auszubildende die Teile in eine riesige Maschine legt. Darin wird jedes Teil gewaschen, gespült, gedreht und auch von den letzten Öl- und Schmutzresten befreit. Saskia hat den Fehler gefunden – nun muss sie die Uhr wieder zusammenbauen. Jeder Handgriff muss sitzen, eine zitternde Hand macht die Arbeit schwerer.

Alfons Bußkamp, Landesinnungsmeister des Uhrmacherhandwerks und Saskias Lehrer, sagt: „Man braucht vor allem eine gewisse Frustrationstoleranz.“ Mit winzig kleinen Teilen umzugehen, könne man erlernen, erklärt der Uhrmachermeister. Die Geduld, die man für den Beruf brauche, allerdings nicht. „Die sollte man mitbringen.“ Ohne einen einzigen Ton von sich zu geben sitzt Saskia da, immer noch die Lupe vor dem Auge, und baut das Uhrwerk wieder zusammen. Zwischendurch reinigt sie wieder und wieder ihren Arbeitsplatz: Jeder noch so kleine Span stört sie bei der Arbeit. Was man noch für diesen Beruf braucht? „Man darf kein Problem damit haben, auf dem Boden rumzurutschen. Die klitzekleinen Teile fallen so oft runter“, sagt sie und lacht.

Frühe Liebe: Das Handwerk soll es sein

Zwischen Abitur und Ausbildung hatte Saskia noch keinen Plan, wie es weiter gehen soll. Die Lösung: „Ganz viele Praktika“, sagt sie. Als Zahntechnikerin, Orgelbauerin oder im Büro. Davor in einer Tierhandlung und bei einem Optiker. Nichts davon war das Richtige. Aber eins wusste sie: Das Handwerk hatte es ihr angetan. Damit unterscheidet sie sich von der Mehrheit der Abiturientinnen und Abiturienten: Nur noch wenige entscheiden sich nach dem Abitur für eine Ausbildung im Handwerk. Und das, obwohl Gesellinnen und Gesellen in fast allen Branchen gesucht werden. Der Bedarf wirkt sich zumindest bei den Uhrmacherinnen und Uhrmachern auf die Bezahlung aus. Das Gehalt für Gesellinnen und Gesellen beginnt bei rund 2000 Euro netto und kennt nach oben kaum Grenzen.

„Erst dachte ich, bin ich denn verrückt nach so vielen Jahren Schule nochmal eine schulische Ausbildung zu machen?“, beschreibt Saskia ihre erste Reaktion, als sie von der vollschulischen Ausbildung in Recklinghausen hört. Sie informiert sich trotzdem – und schaut sich das Berufskolleg Ende August 2015 an. Bis zum Auswahlverfahren im Februar erinnert sie den zuständigen Lehrer regelmäßig per WhatsApp an ihr Interesse, sendet ihre Bewerbungsunterlagen ein und bekommt die Zusage. Im August 2016 geht es los. „Das war die richtige Entscheidung.“

Freundinnen, Freude und Familie haben positiv auf ihren Berufswunsch reagiert. „Die haben sich alle gefreut und gesagt, ich solle ihnen dann mal eine Uhr bauen“, sagt sie. Bauen könne sie die zwar nicht komplett allein, aber zumindest zusammenbauen, erklärt Saskia und lacht. Während ihrer Ausbildung verdient sie kein Geld. Ihre Mutter unterstützt sie, anders wäre es nicht möglich, sagt Saskia.

Nach der Prüfung ist vor der Bewerbung

Im Juni stand die Gesellenprüfung an. Abgefragt wurde in den Fächern BWL, Uhrenkunde, Fertigungs- und Prüfverfahren sowie Elektrotechnik. „Ich hasse Elektrotechnik“, sagt Saskia grummelnd. Mathe war schon immer ihr Hassfach. „Ich schiebe manchmal gerne auf“, sagt sie. Sie ist aufgeregt. Schließlich steht gleich die nächste Herausforderung an: Bewerbungen schreiben. Nach der Ausbildung möchte sie endlich mit dem Arbeiten beginnen. Wo es sie hin verschlagen wird, weiß sie noch nicht – denn in ihrer Heimat am Niederrhein gibt es keine Uhrmacher. „Man muss bereit sein, zu wandern. Es wird schon funktionieren.“

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