Interview: Wie Sprachensterben Identitätskrisen auslösen kann

Weltweit gibt es rund 6500 Sprachen – mehr als die Hälfte werden in naher Zukunft aussterben. Mit jeder Sprache stirbt auch ein Stück Kultur und Geschichte, etwa 600 Sprachen könnten schon in den nächsten Jahren verschwinden. Jean Rohleder versucht, eine von ihnen zu retten.

Vamale – so heißt die Sprache, die der 25-jährige Doktorand in Sprachwissenschaft seit zwei Jahren erforscht. Sie wird von Teilen der Kanak, der Urbevölkerung Neukaledoniens gesprochen. Zur Zeit der Kolonialisierung der Pazifikinsel sank die Zahl der Sprecher von etwa 2000 auf 180 Sprecher. Seit den 60er Jahren ist sie sehr stark vom Aussterben bedroht. Wenn Jean Rohleder nicht gerade dort ist, erreicht man ihn via Skype in seinem Büro in Basel. Mit zusammengebundenen Haaren und einer runden Brille sitzt er vor einer an der Wand befestigten Inselkarte mit verschiedenen Haftnotizen und Markierungen und grinst breit in die Kamera.

Wie bist Du auf das Sprachensterben in Neukaledionen aufmerksam geworden?

In Neukaledonien werden noch etwa 30 Sprachen gesprochen. Damit spiegelt es gewisser Maßen den linguistischen Urzustand wieder – die Menschen haben in der Jungsteinzeit viel mehr verschiedene Sprachen gesprochen als heute, man geht von zehn- bis hunderttausenden aus. In Neukaledonien ist diese Vielfalt in Teilen erhalten geblieben: Innerhalb von 30 Kilometern werden dort vier verschiedene Sprachen gesprochen. Die Leute aus den verschiedenen Dörfern verstehen sich untereinander nicht, es sei denn ihre Dörfer stehen in engem Kontakt. Das hängt auch immer davon ab, wie die Stämme der Kanak zueinander stehen.

Vier ganz unterschiedliche Sprachen auf engstem Raum und Stammesstrukturen – das klingt nach einer anderen Welt. Was sollte man über Neukaledonien wissen, um deine Arbeit zu verstehen?

Neukaledonien ist eine zu Frankreich gehörende Inselgruppe im Südpazifik. Etwa 1850 haben die Franzosen sie kolonialisiert und viele Ureinwohner vertrieben, in Reservate gesperrt und getötet. Der erste richtige Kontakt mit dem Westen kam aber erst in den 40er bis 50er Jahren. Deshalb gibt es eine Schere zwischen jungen Kanak, die sich westlich orientieren wollen, und den alten, die sich noch daran erinnern können, was es hieß ein „richtiger Kanak“ zu sein, bevor die Weißen kamen. Ihr traditioneller Lebensstil unterscheidet sich nämlich stark vom westlichen. Bis vor drei Generationen war Kannibalismus nach einem Kampf beispielsweise nicht ungewöhnlich. Man isst Herz und Leber des Feindes, da dort sein Geist und seine Stärke wohnen, um zu verhindern, dass er dich als Geist heimsucht.

Das klingt ziemlich wild. Ist die Kultur auch heute noch so traditionell?

Menschen werden natürlich nicht mehr gegessen. Aber die Kultur der Kanak ist auch heute noch sehr stark mit Magie, dem Land und dem Stammessystem verbunden. Wenn Du geboren wirst, hast Du zwei Verbindungen fürs Leben. Zum einen eine Blutsverbindung zum Clan deiner Mutter, das ist die stärkere. Diesem Clan gehört dein Körper – wenn Du also zum Beispiel eine Operation machen oder dich zum ersten Mal rasieren willst, dann fragst Du jemand Ranghohen aus dem Clan um Erlaubnis.

Hausbau bei den Vamale. Bild: Jean Rohleder

Die Verbindung zum väterlichen Clan gibt dir Magie, Name, Land und Totem. Damit ist auch Landbesitz verbunden – allerdings gehört das Land dann nicht dir, sondern Du verwaltest es für das Totem und alles, was das Land dir gibt, gehört dem Clan. Je größer der Clan wird, desto stärker seine Magie. Und die Leute glauben daran. Es gibt Liebeszauber, Wettermagie, Kriegsmagie und so weiter. Da bekomm ich schon mal sowas zu hören wie: „Jean, wir haben dich gern. Aber geh uns bitte nicht auf die Nerven, sonst verfluchen wir dich und das würde böse enden“.

Wie hängt das mit dem Sprachensterben zusammen?

Sprache ist sehr stark mit Identität verbunden. Als ab den 40er Jahren immer mehr Weiße nach Neukaledonien kamen, gab es starke Eingriffe in das Stammessystem und damit auch in die Identität der Kanak. Man hat nach Herrschern gesucht und den Häuptlingen Macht und Geld gegeben, damit sie Steuern erheben und Freiwillige für Arbeitsdienste auftreiben. Das hat Konflikte in den Stämmen ausgelöst, weil die Häuptlinge gar nicht dazu legitimiert waren. Sie sind traditionell mehr Verwalter als Herrscher. Durch die Kooperation haben sie ihre Legitimität in den Stämmen verloren und einst komplizierte Ernennungsverfahren sind einer einfachen Erbfolgeregelung gewichen. Ohne Respekt funktioniert das System mit seinen Traditionen nicht mehr und der Häuptling ist ein Symbol für das Veraltete. Und da besteht der Zusammenhang: Traditionssterben und Sprachensterben gehen Hand in Hand.

Mit der Kultur stirbt also auch die Sprache? Das musst Du näher erklären.

Sprachensterben ist ein kontroverses Thema. Es gibt verschiedene Definitionen, ab wann eine Sprache tot ist. Viele sind der Ansicht, solange es zwei Sprecher gäbe, lebe die Sprache. Das sehe ich anders: Sobald es keine Kinder gibt, die in der Sprache sprechen, liegt sie eigentlich im sterben. Es bringt nichts, wenn fünf alte Knacker noch in der alten Sprache Karten spielen, aber die Weitergabe gefährdet ist. Und genau das ist in Neukaledonien der Fall – in den 60er Jahren, als sich die Clanstruktur veränderte, stieß sie auf Ablehnung und damit auch die Sprache.

Der Verlust der Sprache endet sehr oft in einer Identitätskrise

Aber wenn du  aus der Stammeskultur ausbrechen willst, brauchst du Französisch. Die Leute brachten ihren Kindern die Lokalsprache deshalb nicht mehr bei. Außerdem gehen fast alle Kanak-Kinder auf Internate, da die Dörfer zu klein für eigene Schulen sind. In den Internaten wird natürlich Französisch gesprochen, da es die Amstssprache ist, aber auch, weil die Kinder sich untereinander sonst teilweise nicht verständigen könnten. Kanak-Sprachen haben dort keinen Platz – Dialektsprecher an deutschen Schulen werden ja zum Beispiel auch oft gemobbt. Da passt man sich eben an.

Ist das Traditionssterben der Einzige Grund für den Rückgang der Sprecher?

Es gibt noch andere Einflüsse, die sich aber auch durch die westliche Orientierung begründen lassen. Zwischen den Stämmen wird beispielsweise viel geheiratet. Alle sprechen eine eigene Sprache, aber das war nie ein Problem – die Kinder lernten dann einfach mehrere Sprachen. Heute gibt man ihnen das Gefühl, dass die lokalen Sprachen nichts wert sind. Nicht nur aus Bequemlichkeit spricht man dann in der Familie einfach Französisch, man sieht das auch als die Sprache der Zukunft und möchte seinen Kindern bessere Chancen bieten.

Gesprochenes Vamale: Ausschnitt aus einer Legende

Du hast gesagt, die Stämme verstünden sich untereinander oft nicht und Französisch sei die Amtssprache. Ist es da nicht sinnvoll, statt einer Lokalsprache die Landessprache zu lernen?

Natürlich ist Französisch für die Kanak wichtig – Mehrsprachigkeit wäre wohl die beste Lösung. Aber mit der Lokalsprache verlieren die Menschen besonders in dieser Kultur ihre Identität. Kanak setzen sich in der Stadt oft nicht durch und kehren dann in ihre Dörfer zurück, wenn nicht direkt nach der Schule. Aber die Gesellschaft in Neukaledonien ist ziemlich rassistisch. Wenn Du die Sprache nicht mehr kannst, dann weißt du auch nicht mehr, wie dein Name lautet, welches dein Totem oder wo dein Land ist und du kannst nicht zaubern. Damit bist du wie ein Weißer, also in den Augen der anderen Kanak schlechter. Die Leute fangen dann an, Drogen zu nehmen und ab etwa 30 Jahren steigt die Selbstmordrate massiv an, da man feststellt, dass man seinen Kindern all das verlorene Wissen nicht weitergeben kann und ihnen vermutlich Ähnliches bevorsteht. Der Verlust der Sprache endet sehr oft in einer Identitätskrise, da man zu den Weißen nicht richtig dazu gehört und den Anschluss zu seinen Leuten verloren hat.

Du versuchst, die Sprache wieder zu beleben. Wie machst Du das?

Die Sprache wird nur gesprochen. Es gibt weder ein Wörterbuch noch eine Grammatik. Daran arbeite ich gerade. Deshalb sammele ich alle Wörter, an die man sich noch erinnert und schreibe sie auf. Ich mache aber auch viel kulturelles Zeug – Memories mit Kanaksprache, Kartenspiele und klassische Übungen, wie Wörter im Bild finden oder Kreuzworträtsel.

Jean Rohleder mit seinem Team. Bild: Jean Rohleder

Besonders erfolgreich bin ich aber damit, die Sprache den ganzen Tag zu sprechen. Die Kanak denken sich dann: „Wieso spricht der eigentlich meine Sprache besser als ich?“. Ich mache dabei auch Fehler und das ist wichtig, denn davor haben die Leute am meisten Angst. Außerdem erzähle ich den Menschen immer, wie geil die Sprache ist. Und die Jugendlichen entdecken langsam die Vorteile der Lokalsprache – sie benutzen sie zum Beispiel bei Treffen mit anderen Clans als Geheimsprache. Insgesamt versuche ich einfach den Leuten den Wert ihrer Sprache zu zeigen, und ihnen mit Grammatik und Lexikon dabei zu helfen, sie jederzeit unabhängig lernen zu können.

Was sind die größten Herausforderungen Ihrer Arbeit?

Zunächst war es sehr schwer, in der Kultur akzeptiert zu werden. Als ich vor zwei Jahren ankam, konnte ich die Sprache auch noch gar nicht. Für ihre Erforschung ist man auf Integration angewiesen – als Weißer nicht einfach, denn die Kanak sind es leid, von ihnen gesagt zu bekommen, was sie tun sollen. Ich kam an und dachte ich werde gemeinsam mit den Leuten diese Sprache retten und sie werden Freude daran haben. Aber gut Integrierte wollen nichts mit dir zu tun haben, man arbeitet eher mit sozial schwachen Leuten zusammen. Und zu Anfang wollen dich sowieso erstmal alle ausnehmen – da verschwinden dann deine Sachen oder man führt dich in die Irre. Wenn dir dann noch den ganzen Tag nur gesagt wird, dass deine Arbeit sowieso nichts bringt, kann das schon sehr deprimieren. Heute trägt die Arbeit allerdings Früchte, ich habe eine Sonderstellung im Stamm als der junge weiße Wissenschaftler, der unsere Sprache erforscht und die Leute erkennen so langsam den Sinn meiner Arbeit.

Denkst Du, dass sich die Sprache Vamale wieder etablieren wird?

Ich glaube nicht, dass sie überlebt. Ich hoffe es, ich denke es wird herausgezögert, aber langfristig wird sie sterben. Klar, man spricht seitdem ich da bin, jeden Monat nach dem Clanrat über Angelegenheiten der Sprache und sie ist wieder angesehener geworden – es ist aber ein ewiger Kampf, da jedes Kind, das geboren wird, sich die Sprache aneignen muss. Auf der einen Seite stehen Kultur und Tradition. Auf der anderen Seite hat man das Internet und Fernsehen, für beides braucht man Französisch. Außerdem kostet es Zeit und Energie, die Sprache aufrecht zu erhalten. Das muss nur einmal absacken, und dann ist niemand da, der ihnen sagt, dass sie das weiter sprechen sollen, und davor habe ich Angst. Denn wenn wir Sprachen verlieren, dann verlieren wir auch Geschichten.

 

Beitragsbild: Jean Rohleder

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