An der TU Dortmund laufen die Wahlen zum Studierendenparlament. Hier zeichnet sich im Kleinen ab, was auch in der Bundes- und Europapolitik ein Problem ist: die geringe Wahlbeteiligung. In den vergangenen Jahren schaffte sie es an der TU selten in den zweistelligen Bereich. Brauchen wir eine Wahlpflicht, damit sich mehr Menschen mit der Politik auseinandersetzen?
Eine Wahlpflicht würde dazu führen, dass mehr Menschen wählen und Parlamente deswegen demokratischer würden, meint Pia Stenner.
Wir haben wieder einmal die Qual der Wahl. Durchquälen lohnt sich, denn wählen ist eigentlich ein Privileg. Und doch wird das bei den StuPa-Wahlen in der kommenden Woche voraussichtlich nur ein kleiner Bruchteil der Studierenden tun. Denn vor der Wahlentscheidung selbst steht noch eine andere Entscheidung: Die, ob der Gang zum Wahllokal überhaupt gemacht wird.
Entscheidungen sind nicht immer bequem und ihnen aus dem Weg zu gehen ist manchmal einfacher, als sich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Doch nur aus Bequemlichkeit nicht zu wählen, ist egoistisch. Man könnte meinen: Wer nicht wählen geht, hat keine Probleme, dem geht es zu gut, als dass er oder sie sich mit Politik auseinandersetzen müsste.
Ein genauerer Blick in die Statistiken zeigt, dass das eigentlich anders ist. Die Gruppe von Nichtwählern setzt sich überproportional aus Menschen zusammen, die geringer gebildet, arbeitslos sind und sich eher unteren gesellschaftlichen Schichten zuordnen.
Wahlpflicht verstärkt die Legitimation der Parlamente
23,8 Prozent der Deutschen werden somit nicht durch den Bundestag repräsentiert. Jeder dieser Nichtwähler macht das demokratische System ein Stück weit undemokratischer. Eine Wahlbeteiligung von sieben Prozent für das Studierendenparlament führt das Problem auf die Spitze: Wie kann so ein Parlament die gesamte Studierendenschaft vertreten? Wo hört die demokratische Legitimation auf?
Eine Wahlpflicht würde Menschen dazu zwingen, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Viele würden sicherlich in letzter Konsequenz doch eine Entscheidung treffen können. Und wer Parteien oder das politische System grundsätzlich ablehnt oder sich einfach für keine Partei entscheiden kann, kann immer noch beispielsweise ungültig stimmen.
Sobald es Sanktionen gibt, ist Wählen gehen plötzlich nicht mehr schwer
Einige Staaten auf der Welt, darunter Demokratien wie Australien und Belgien haben die Wahlpflicht bereits eingeführt. In Belgien gibt es mit etwa sieben Prozent deswegen mehr ungültige Stimmen als in Deutschland, doch die Wahlbeteiligung liegt insgesamt bei 90 Prozent, etwas höher noch ist sie in Australien. Wer dort nicht wählen geht, muss Geldstrafen von 20 Dollar zahlen. Sobald es an den eigenen Geldbeutel geht, ist es plötzlich offenbar gar nicht mehr so schwer, sich am Wahltag von der Couch zu erheben.
So traurig diese Erkenntnis auch ist: Solche Ergebnisse würde es selbst bei den spannendsten politischen Debatten und lautesten Wahlkämpfen nicht geben, solange die Wahl eine freiwillige bleibt. Durch die Wahlpflicht könnten die Parteien zusätzlich Geld für Wahlwerbung sparen: Bei der vergangenen Europawahl erinnere ich mich kaum an parteipolitische Inhalte auf den Plakaten, sondern eher an die Aufforderungen, überhaupt wählen zu gehen. Die würden durch eine Wahlpflicht überflüssig.
Für manche Dinge braucht es einfach eine Verpflichtung
Wird eine Entscheidung zur Pflicht, dann ist es meist gar nicht so schwer, sich zu entscheiden. Niemand hat Spaß daran, stundenlang bei Ämtern zu sitzen, um dem Staat Umzüge, Geburten oder Sterbefälle zu melden. Doch die allermeisten tun es trotzdem – ihrer Pflicht bewusst. Es gibt Bürgerpflichten, die sogar Jahre unseres Lebens bestimmen: Durch die Schulpflicht habe ich mich nie in meinen persönlichen Grundfreiheiten eingeschränkt gefühlt. Und auch das Steuern-Zahlen ist so eine Pflicht, um die früher oder später niemand von uns herumkommen wird.
Das ist auch gut so. Wir sind Teil einer Gesellschaft, die nur funktionieren kann, wenn sich jeder einbringt. Für manche Dinge muss es dabei dann auch eine verbindliche Verpflichtung geben. Die, wenn sie nicht eingehalten wird, auch bestraft werden kann.
Nein, ich fordere keine Exmatrikulation als Strafe für Nichtwähler bei der StuPa-Wahl. Hier bleibe selbst ich bei dem Appell: Nutzt euer Privileg, wählen zu dürfen, einfach freiwillig. Aber wenn solche Apelle auf Landes-, Bundes- oder Europaebene – auf den politische Ebenen, die unser ganzes Leben umfassen – bei etwa einem Viertel der Bevölkerung nicht ankommen, dann sollte ernsthaft über eine Wahlpflicht nachgedacht werden.
Silja Thoms findet, eine Wahlpflicht schränkt die persönlichen Freiheiten des Einzelnen ein und ist deswegen eher ein Verlust von Demokratie.
Bis das Wahlrecht endlich zu seiner berechtigten Existenz gefunden hatte, musste es einen langen Weg gehen. 1871 führte Otto von Bismarck das Wahlrecht für Männer ein. Das tat er zwar eher, um die Sozialdemokratie zu schwächen, aber immerhin; ein erster Schritt. 1919 waren in der Weimarer Republik die Frauen an der Reihe. Danach spielten demokratische Wahlen in der nationalsozialistischen Diktatur erstmal keine wichtige Rolle mehr.
Doch das Kriegsende brachte das Wahlrecht zurück. Die Verfassung von 1949 besiegelte das Recht auf freie, demokratische und geheime Wahlen. Das Wort „Recht“ sollte auch beibehalten werden, denn es bedeutet, dass wir die Möglichkeit haben wählen zu dürfen, aber was wäre dieses Recht, wenn wir gezwungen würden wählen zu gehen? Dann wäre es nämlich kein Recht mehr, sondern eine Pflicht oder aber auch ein Zwang.
Wahlpflicht wäre Zwang
In einer Demokratie bedeutet es mitzuentscheiden, wer im Bundestag sitzt, wer tägliche politische Entscheidungen fällt und unsere Gesellschaft damit elementar mitgestaltet. Es sind die Vertreter des Volkes, die uns als Gesellschaft leiten, es sind die, die wir uns ausgesucht haben. Wenn wir verpflichtet wären zu wählen wäre das keine freie Entscheidung mehr, sondern Beraubung der persönlichen Freiheit und des Rechts auf eine freie Wahl. Aber freie Wahl heißt eben auch: eine nicht-verpflichtete Wahl. Jemanden rechtlich zu bestrafen, wenn er nicht bei der Wahlurne antritt (wie es in Australien gehandhabt wird) ist weder demokratisch noch frei.
Mehr Wahlbeteiligung führt nicht zu einer besseren Demokratie
Möglicherweise haben wir es hier mit einem fehlgeleiteten Bild zu tun. Mehr Wahlbeteiligung führt nicht unverzüglich zu dem glänzenden, idealen Bild einer Demokratie, die wir uns wünschen mögen. Auch müssen wir sehen, dass Demokratien aus einem unterschiedlichen Kontext heraus entstanden sind. Wie eine Form von Demokratie auftritt hat immer etwas mit einer historischen Vergangenheit zu tun. Funktioniert die Wahlpflicht in einem Land, heißt das nicht, dass dies in einem anderen Land mit anderem gesellschaftlichen Hintergrund und einer anderen Form von Demokratie auch funktionieren kann.
Wichtig ist, dass Menschen die Bereitwilligkeit aufbringen sich zu informieren. Das kann aber nicht mit einer Pflicht erreicht werden.
Politisch aufklären? Geht auch anders
Zu mündigen Bürgern heran erziehen; das müsste doch auch ein Ziel der Schulen in Deutschland sein. Mündigkeit heißt Eigenverantwortung und Mündigkeit heißt auch Selbstbestimmung. Beides würde bei einer Wahlpflicht fehlen. Unsere ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth sagte einmal, dass „unsere Demokratie den mündigen Bürger braucht. Der mündige Bürger ist aber vor allem der lesende Bürger“. Bildung spielt beim Heranwachsen eines mündigen Bürgers also eine große Rolle und dafür müssen sich vor allem Schulen verantworten, die einen sehr viel größeren Fokus auf politische Bildung legen müssten, so dass sich Schülerinnen und Schüler auch in der Lage sehen können sich über das politische Geschehen umfassend zu informieren. Keineswegs ist das durch eine Wahlpflicht erreicht, sondern eben durch Bildung und durch das Motivieren durch kompetente Lehrerinnen und Lehrer.
Eine Wahlpflicht würde vor allem Politikern nutzen
Eine Wahlpflicht würde nicht dem Volk, sondern vor allem den Politikern nützen, denn sie sind es, die bei einer höheren Wahlbeteiligung von Stimmen profitieren und damit auch dem Idealbild einer Demokratie nahekommen. Viele Wähler = demokratische Legitimität? Doch der Sinn der Wahlen liegt vor allem darin eine handlungsfähige Regierung zu bilden, ob sie nun mit 40% Wahlbeteiligung zustande kommt oder mit 90% spielt hier vielleicht eher eine marginale Rolle.
Eine Wahlpflicht für die Bürger würde den Politikern aber die Verantwortung nehmen sich stärker in den Fokus zu rücken, Standpunkte vehement zu vertreten, Präsenz für Themen zu schaffen, auf sich aufmerksam zu machen; immer und immer wieder. Doch es liegt gerade an den Politikern um Stimmen zu werben und eine demokratische Diskussionskultur beizubehalten, und dadurch vielleicht sogar den ein oder anderen Nichtwähler doch noch zu überzeugen, dass er mit der Abgabe seiner Stimme viel erreichen kann.