Gegen die Scham: Wenn Erwachsene nicht lesen und schreiben können

Bild: Carolin Enders

Völlig unbekümmert betritt Bernd Frohn den Raum – doch bald nimmt er das Geflüster um sich herum wahr. Eigentlich möchte Bernd seinen guten Freund zum Geburtstag beglückwünschen, doch als er den festlich geschmückten Saal betritt, zeigen die Gäste mit dem Finger auf ihn. Plötzlich weiß er, dass sie es wissen. Die Gäste tuscheln. „Der kann ja nicht mal schreiben und lesen, warum lädst du den denn ein?“, fragt einer von ihnen empört. Seitdem sind einige Jahre vergangen. Bernd erinnert sich dennoch genau, während er erzählt.

Bernd Frohn

Bernd Frohn ist 48 Jahre alt und funktionaler Analphabet. Das sind Menschen, denen schriftsprachliche Kompetenzen fehlen, um gesellschaftliche Anforderungen zu erfüllen. So die Definition von Dr. Birte Egloff, Prof. Dr. Michael Grosche, Peter Hubertus sowie Jascha Rüsseler.

Tuscheln oder ausgelacht werden – Bernd Frohn aus Aachen kennt viele solcher Situationen. „Ich bin früher sehr stark gehänselt worden”, sagt er. Während der Aachener sich damals für Hänseleien noch geschämt hat, ist er heute stärker und offener. Das erspart ihm einige unangenehme Fragen. Aber selbst in der eigenen Familie erlebt Bernd weiterhin Ausgrenzung. Doch er ist selbstbewusst. „Vorwürfe wie ‚du bist dumm‘, gehen bei mir links rein und rechts wieder raus“, erklärt er stolz. Bernd sagt, dass er gekämpft hat. Nun will er anderen Betroffenen helfen: Vor zwei Jahren gründete er deshalb sogar eine Selbsthilfegruppe.

Offensive statt Angst

Sprache und Schrift sind im Alltag oft Voraussetzungen. Das führt bei Analphabetinnen und Analphabeten häufig zu Verunsicherung. Viele von ihnen leben unter ständiger Angst, entdeckt zu werden. Bernd weiß, dass er mit seinem Selbstbewusstsein eher die Ausnahme darstellt. „Manche sind extrem verschlossen und ängstlich. Da darf niemand wissen, dass sie Lese- und Schreibkurse besuchen. Selbst die Familie wird angelogen“, sagt Bernd betrübt. In diese Situation wollte er sich nicht begeben – seine Familie wusste früh von Bernds Defizit: „Abgesehen von meinen Eltern sind leider viele nicht gut darauf zu sprechen.” Vor Abneigung oder Spott schützt Offenheit ihn trotzdem nicht immer.

6,2 Millionen in Deutschland

Wer Analphabetin oder Analphabet ist, ist nicht in der Lage, Buchstaben zu identifizieren. Zu den 6,2 Millionen Betroffenen zählen ebenfalls Menschen, die ihren Namen und ein paar Wörter schreiben können. Hier spricht man von funktionalen Analphabeten. Im Alltag bedeutet das, dass Erwachsene schlechter lesen und schreiben können, als es nötig ist, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, heißt es im Werk von Egloff, Grosche, Hubertus und Rüsseler.

Vor etwa sechs Jahren hat sich für Bernd einiges geändert. „Ein guter Freund hatte mir damals gesagt, ich bräuchte Unterstützung“, sagt der Aachener und ließ sich schließlich überreden, Lesen und Schreiben zu lernen. Er meldete sich sofort mit Hilfe des Freundes für seinen ersten Lese- und Schreibkurs in der Volkshochschule (VHS) Aachen an. Laut der AlphaDekade kennen statistisch gesehen fast alle Menschen in Deutschland mindestens eine Person, die Defizite im Lesen und Schreiben hat. Wie auch bei Bernd sprechen Freunde, Familie oder andere Vertraute das Problem an und empfehlen Hilfe.

Heute, sechs Jahre später, kann Bernd fast schon flüssig lesen; nur fehlerfreies Schreiben fällt ihm noch schwer. „Da arbeite ich jeden Tag dran“, sagt Bernd und erklärt, dass er sich deshalb zum Beispiel bei alltäglichen Dingen zwingt, zu schreiben. Während seine Freunde viele Sprachnachrichten verschicken, schreibt Bernd dann stattdessen. Er besucht inzwischen die dritte und letzte Gruppe der VHS-Alphabetisierungskurse. Das gibt ihm ein starkes Gefühl. Während Kollegen sich überwinden müssen, den Kursraum zu betreten, freut sich Bernd auch weiterhin, zweimal wöchentlich zur VHS zu gehen. „Es ist für mich kein großes Problem“, sagt der Aachener. Außerdem hat er in der Volkshochschule einen guten Freund gefunden, mit dem er gemeinsam gegen das Tabu angehen will. 

Fast zwei Drittel der Analphabeten sind berufstätig

An die Schulzeit erinnert sich Bernd ungern. Er hat 1988 seinen Sonderschulabschluss gemacht. Dort sei der heute 48-Jährige trotz schlechter Deutschnoten nie gefördert worden. „Ich habe mich aber auch früher nie um das Lesen und Schreiben gekümmert”, erzählt Bernd. Wer nicht gut lesen und schreiben kann, werde von der Gesellschaft ausgelacht. „Über eine Matheschwäche aber wird nur gelächelt.”

Tim Henning, Projektleiter ALFA-Mobil

Diese Selbstverständlichkeit nimmt auch Tim Henning, Leiter im Projekt ALFA-Mobil, wahr. Das ALFA-Mobil tourt durch Deutschland, um Aufklärungsarbeit für Alphabetisierung zu leisten und Werbung für Lese- und Schreibkurse zu machen. Der Projektleiter erklärt, besonders in Deutschland sei der Analphabetismus stark stigmatisiert. „Das hat viel mit kultureller Tradition in unserem Land zu tun.“ Das fehlerfreie Schreiben und Lesen werde als selbstverständlich beachtet. Von den 6,2 Millionen Menschen, die laut einer aktuellen Grundbildungsstudie (LEO-Studie 2018) funktionale Analphabeten sind, sind 62,3 Prozent erwerbstätig. Außerdem ist Deutsch für die Hälfte der Betroffenen die Herkunftssprache.

Tatsache ist also, dass jeder achte Mensch in Deutschland nicht genug lesen und schreiben kann

Tim Henning

Notlügen waren für Bernd keine Option

Nach der Schulzeit will Bernd lernen: Mit 15 Jahren fängt er an, sich das Lesen Zuhause mit den Zeitungen seines Vaters besser beizubringen. Auch hat er nach der Schule eine Lehre als Metallbauer angefangen. Zwar schämte Bernd sich noch für seine Schwäche, gab aber hier bereits zu, dass er nicht richtig lesen und schreiben kann. Zum Beispiel Rechnungen zu schreiben, war für Bernd noch nicht vorstellbar. Für seinen Ausbilder war das in Ordnung.

Für Notlügen hat sich Bernd nie entschieden. „Typische Tricks, wie ‚Ich habe meine Brille nicht dabei, kannst du das vorlesen‘, habe ich nie benutzt“, sagt Bernd. Im Alltag wurde er durch seine Eltern viel unterstützt: Durch Hausaufgaben, spätere Rechnungen oder Beipackzettel musste er sich nicht alleine kämpfen. „Früher hat man in der Erziehung auch viel mehr durchgelassen als heute”, erinnert er sich an seine Jugend. Heute unvorstellbar, war es damals noch möglich, sich ohne schriftliches Anschreiben für einen Job zu bewerben. So stellt sich Bernd 2015 vor die Tür einer Aachener Autovermietung und legt von Beginn an die Karten auf den Tisch: 

Ich kann nicht schreiben und lesen, ist das ein Problem für Sie?

Bernd Frohn

Sich so transparent und unbedeckt zu verhalten, scheint für Bernd eine Art Grundsatz. „Warum soll ich das verstecken oder ein großes Ding daraus machen?“, fragt er und schüttelt den Kopf. Die Reaktionen der Arbeitnehmer waren respektvoll. „Sie nahmen mich nicht nur einfach auf, sondern förderten mich sogar.” Seit vier Jahren arbeitet er bereits bei der Autovermietung. Autos fand er schon als kleiner Junge faszinierend. Aber Bernd muss in seinem Job Mietverträge abschließen, die für ihn besonders zu Beginn eine große Hürde darstellten. „In den ersten Wochen hatte ich schon mit Scham zu kämpfen.“ Sobald ein Stift in seiner Hand lag, setzte er sich selbst unter Druck und wurde unsicher. Deshalb beschloss Bernd, mit seiner VHS-Dozentin auf den Arbeitgeber zuzugehen, um ein Einzeltraining vorzuschlagen. Sie zeigte ihm zum Beispiel, wie ein Mietvertrag bei der Autovermietung genau zu verfassen ist. Diese Förderung durch seinen Arbeitgeber bedeutet ihm viel.

Jochen Kreutzer

Bernds vorheriger Arbeitgeber war lange nicht so tolerant. Dort hat er ausnahmsweise nicht von seiner Schwäche erzählen wollen: „Der Chef damals war furchtbar”, erzählt Bernd. Sein damaliger Arbeitskollege ist funktionaler Analphabet und verschwieg es. Dass sein Kollege auch nicht lesen und schreiben kann, hat Bernd erst herausgefunden, als er ihn zufällig im selben VHS-Kurs getroffen hat. „Mein Kollege hat sich für seine Schwäche total geschämt”, erinnert der Aachener sich. „Die dürfen nichts wissen, sonst verliere ich vielleicht meinen Job”, habe sein Kollege damals zu Bernd gesagt.

Selbsthilfegruppe: „Wörter Wald“

Mit seinem Freund Jochen Kreutzer, den Bernd in seinem VHS-Alphabetisierungskurs kennengelernt hat, entwickelte er 2017 die Idee zu der Selbsthilfegruppe „Wörter Wald“. Vor Kurzem haben die beiden sogar gemeinsam Urlaubs-Postkarten verfasst. Beide finden, dass Hilfsangebote in der
Öffentlichkeit noch bekannter werden sollten
.

In der Selbsthilfegruppe lesen die Teilnehmer zum Beispiel einfache Text oder üben, einen Einkaufszettel zu schreiben. Während zu Beginn ihrer Selbsthilfegruppe sehr viele Menschen kamen, hat die Gruppengröße in den Wochen abgenommen. Ob sie sich geschämt haben, weiß Bernd nicht. „Die Teilnehmer reden oft nicht viel“, sagt er. Das findet er bedauerlich.

Volkshochschulen helfen

Bernd Frohn und Jochen Kreutzer freuen sich, wenn Betroffene sich bei ihnen über die Volkshochschule Aachen melden (Volkshochschule Aachen, Peterstraße 21-25). Auch die Dortmunder VHS bietet Alphabetisierungskurse an: Volkshochschule Dortmund, Kleppingstraße 21-23, 44135 Dortmund.

Besonders Medien und Politik müssten mehr für die Enttabuisierung tun, findet Bernd. Da er bei Alphabetisierungs-Projekten mitwirkt, wird er öfter zu Veranstaltungen eingeladen. Bernd möchte seine Erfahrungen weitergeben. Zwar steckt er selbst noch im Lernprozess, aber er kämpft für diejenigen, die nicht so weit sind wie er. Erst wenn Analphabetisierung kein Tabuthema mehr ist, ist Bernd zufrieden. „Ich weiß um meine Schwäche. Aber ich weiß auch, was ich kann.“

 

Beitragsbild: Carolin Enders

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