Den Körper hinter sich lassen
Der größte Teil der aktuellen BCI-Forschung ist daher anders motiviert: Sie will gezielt einzelnen Menschen helfen, die nach Unfällen oder durch Erkrankungen teilweise oder vollständig gelähmt sind. Einige von ihnen können sich weder durch Sprache noch durch Bewegung artikulieren. Ihr Gehirn ist jedoch noch gesund und funktionsfähig. Die dort ansässigen Nervenzellen senden weiterhin Signale, nur der Körper reagiert nicht mehr darauf. Brain-Computer-Interfaces können diese Signale direkt aus dem Gehirn auslesen und verarbeiten. Sie ermöglichen den Patient*innen, wieder mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten und geben ihnen so zumindest ein kleines Stück Lebensqualität zurück. Sogar einige Körperfunktionen ließen sich außerhalb des Körpers künstlich ersetzen, erklärt Neurowissenschaftler Klaes.
Die größten Fortschritte auf dem Gebiet machen aktuell Wissenschaftler*innen in den USA. Doch auch in Deutschland und NRW sind Brain-Computer-Interfaces zunehmend Inhalt der Forschung.
So erproben Rehabilitationswissenschaftler*innen der Universität zu Köln mit den Expert*innen aus Kleve zurzeit ein Kommunikations-Interface. Dieses erlaubt es den Proband*innen, trotz teils schwerer neurologischer Erkrankungen und starker körperlicher Einschränkungen mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Karolin Schäfer, die Leiterin des Projektes, erzählt: „Wir stellen den Testpersonen alltägliche Fragen, zum Beispiel, wohin der nächste Urlaub gehen soll. Bei einigen kommen ziemlich schnell Wortäußerungen oder sogar kurze Sätze als Antwort.” Hierbei verwenden die Proband*innen ein ähnliches System wie bei der Studie an der Hochschule in Kleve. Obwohl das Verfahren aufwendig und langsam sei, hätten einige der Proband*innen durchaus Spaß daran, mit BCI zu kommunizieren, meint Schäfer.
BCI findet den Weg in die Vorlesung
Mittlerweile ist BCI sogar in der universitären Lehre angekommen: Andrea Finke, Informatikerin an der Universität Bielefeld, bietet die deutschlandweit einzige Lehrveranstaltung zu BCIs an. „Ich glaube, dass BCI in den nächsten Jahrzehnten viel an Fahrt gewinnen wird. Sowohl in der Medizin als auch in der Spieleindustrie.” In dem Seminar lernen jedes Jahr gut 60 Studierende nicht nur die technischen Grundlagen der Interfaces kennen. Sie bekommen auch die Möglichkeit, ihr eigenes, einfaches BCI zu programmieren und selbst zu testen – so auch heute.
In einem kleinen Computerraum der Universität sind gerade gut 20 Bachelor-Studierende dabei, ihren selbst erstellten BCI-Programmen den letzten Schliff zu geben. Die vergangenen zwei Tage haben sie daran programmiert. Aufbauend auf einem Basis-Programm, das Andrea Finke selbst entwickelt hat, durften die Teilnehmer*innen ihre eigenen Ideen umsetzen. Einige haben ein Tic-Tac-Toe Spiel für BCI programmiert, andere haben eine Art Memory daraus gemacht. Vereinzelt sind sogar Speller dabei. Das sind Programme, mit denen Buchstaben geschrieben werden können, wie das in Kleve. Finke erklärt mit einem leichten Schmunzeln: „Als ich vor zwanzig Jahren meine Diplomarbeit gemacht habe, da war ein Speller noch etwas ganz besonders, aber heutzutage kann man damit keinen Blumenpott mehr gewinnen.” Dass Speller trotzdem noch in aktuellen Studien verwendet würden, läge an ihrer vergleichsweise einfachen Struktur. Zudem ließen sich mit ihnen recht einfach die Referenz-Daten sammeln, die dringend benötigt werden, um die BCI-Systeme zu verbessern.
Nur sehr grobe Messungen sind möglich
Markus, ein Informatikstudent, hat sich im Seminar an so einem Speller versucht und darf ihn nun in der Praxis ausprobieren. Wie schon an der Hochschule in Kleve zeigen sich dabei erneut die Schwächen aktueller BCI-Systeme: Bis die EEG-Kappe richtig sitzt und der Computer ein stabiles Signal von allen Elektroden meldet, ist mehr als eine halbe Stunde vergangen. Markus‘ Frisur ist ruiniert und einige der anderen Studierenden haben ihre Aufmerksamkeit lieber auf ihre Handys gerichtet.
Andrea Finke gibt zu: „Selbst wenn alles ideal vorbereitet ist, lassen sich mit dieser Hardware nur sehr grobe Messungen durchführen.” Die Signale aus dem Gehirn würden auf ihrem Weg durch die Schädeldecke zu stark gedämpft. „Wenn wir mit BCI komplexere Bewegungs- oder Handlungsabsichten erkennen und ausführen wollen, führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen mit den Elektroden in den Kopf rein”, sagt sie. Den Nutzer*innen müsste dazu ein kleiner Chip mit hunderten winzigen Elektroden zum Beispiel direkt ins Bewegungszentrum des Gehirns implantiert werden.
Das große Potential dieses Ansatzes stellten Wissenschaftler*innen am California Institute of Technology in den USA bereits 2015 unter Beweis. Nach einigem Training konnte dort ein gelähmter Proband einen Roboterarm über ein Brain-Computer-Interface steuern, damit Gegenstände greifen und sogar eigenständig Schokolade essen. An dem Projekt war auch der deutsche Neurowissenschaftler Christian Klaes beteiligt. Mittlerweile arbeitet er am Knappschaftskrankenhaus in Bochum an der nächsten Version des Roboterarms. „Wir wollen den Patienten eine vier-mal-vier Millimeter große Elektroden-Anordnung auf das Bewegungszentrum des Gehirns implantieren“, erklärt Klaes. Sobald das Implantat auch in Deutschland zugelassen ist, soll eine Studie mit zunächst fünf gelähmten Testpersonen beginnen. „Die Elektroden auf dem Chip sind so fein, dass man damit schon ziemlich nah an einzelne Neuronen im Gehirn kommt. Wir können daher mit unserer BCI-Software sehr genau zwischen einzelnen Bewegungsabsichten differenzieren, je nachdem, welche Neuronen gerade aktiv sind.“
Sehkraft oder Gehör mit BCI widerherstellen
Damit ließe sich in Zukunft nicht nur ein Roboterarm, sondern auch ein ganzes Exoskelett steuern. Ein solcher Roboteranzug würde es den Träger*innen ermöglichen, trotz Lähmung zu laufen. Oder das Interface würde verwendet, um ein Computerspiel zu bedienen oder ein Auto zu steuern. Theoretisch sei es sogar denkbar, Signale von außerhalb in das Gehirn einzuspeisen und so zum Beispiel die Sehkraft oder das Gehör wiederherzustellen. Besonders interessant wäre für Klaes die Möglichkeit, den Proband*innen einen künstlichen Tastsinn zu geben: „Wer einmal versucht hat, mit einem eingeschlafenen Arm eine Tasse zu heben, weiß, wie kompliziert es ist, die Bewegung richtig zu koordinieren, selbst wenn ich sehe, wie ich die Tasse bewege. Die Haptik spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle.”
Für zuverlässige Brain-Computer-Interfaces müssen wir lernen, die Signale aus dem Gehirn besser zu interpretieren.
Für den Massenmarkt seien invasive Systeme aufgrund der notwendigen Operation am Gehirn jedoch ungeeignet, meint Corinna Weber, Geschäftsführerin der Bochumer SNAP GmbH. Diese hat sich auf die Entwicklung von Software zur Auswertung der EEG-Daten spezialisiert: „Ich bin davon überzeugt, dass wir das Potential der EEG-Technologie bei Weitem noch nicht ausgeschöpft haben. Die Software muss nur lernen, die EEG-Signale besser zu interpretieren.“ Für den Alltagsgebrauch müssten unkomplizierte, kostengünstige BCI-Systeme entwickelt werden, die zudem ohne das Elektroden-Gel auskommen. Solche Geräte gebe es bereits. Die seien aber eher Spielzeug und unbrauchbar für ernsthafte Anwendungen, sagt Weber.
Dieser Meinung ist auch Andrea Finke. In ihrem BCI-Seminar ist mittlerweile eine weitere halbe Stunde vergangen und noch immer hat Markus‘ Versuch nicht begonnen. Der Vorführeffekt. Irgendwo in der Software hat sich ein Fehler eingeschlichen. „Willkommen im Forschungsalltag“, sagt Finke und lacht. Schon lange wünscht sie sich ein unkomplizierteres System, das „einfach mal funktioniert“.
Beitragsbild: Karsten Wickern