Ein gemütlicher Einkaufsbummel durch die Stadt oder eine kleine Bestellung über Amazon – das ist für Hannah undenkbar geworden. Für sie wurde der Shopping-Spaß zu einem ernsten Problem. Hannah ist nämlich kaufsüchtig. Wie die Abhängigkeit ihr Leben verändert hat und wie sie ihrer Abhängigkeit entkommen will.
Es gibt diesen einen Moment, da kann Hannah nichts mehr stoppen. Sie scrollt auf ihrem Smartphone durch die Apps von H&M oder Amazon und fügt Klamotten und Bücher dem Warenkorb hinzu. Jetzt nur noch den Kauf bestätigen und in ein paar Tagen kommt ein neues Paket an. Ein Paket von vielen, die der Postbote Hannah wöchentlich nach Hause bringt. „Danach geht es mir ziemlich schlecht, weil ich weiß, dass die Bestellung ein großer Fehler war“, sagt sie.
Hannah hat die Kontrolle über ihr Shopping-Verhalten verloren. Hannah heißt eigentlich anders. Um Ihre Privatsphäre zu schützen, trägt sie hier einen anderen Namen. Wenn sie einkaufen geht, befindet sie sich im Rausch. „Ich schmeiße Sachen in den Warenkorb und schicke dann meine Bestellung ab. Ich bekomme eigentlich gar nicht mehr mit, was ich da mache“, beschreibt die 22-Jährige den Moment, in dem sie dem Kaufrausch verfallen ist. In diesem Augenblick empfindet sie Glück und Befriedigung, ähnlich wie bei anderen Süchten.
Leere und Traurigkeit sind Entzugserscheinungen
Doch Hannah ist nicht alkohol- oder zigarettenabhängig. Bei ihr schüttet die Kaufhandlung Glückshormone aus. „Wenn ich längere Zeit mal nichts kaufe, dann fühle ich mich leer und traurig“, sagt sie. Beim Kauf selbst sei es egal, ob sie das Produkt benötigt oder nicht. „Dann kaufe ich ein Buch, obwohl ich 30 andere im Regal stehen und nicht mal das erste zu Ende gelesen habe. Das kann ich alles gar nicht benutzen.“
Nicht nur Onlineshopping ist für Hannah ein Problem. In ihrer Heimat in der Nähe von Magdeburg stellt sie allein der Gang in den Supermarkt vor eine Herausforderung. „Dann kaufe ich noch eine Tafel Schokolade, obwohl wir schon zehn Stück zu Hause haben.“ Vor dem Einkaufen muss sie sich eine ausführliche Einkaufsliste mit genau den Produkten und Marken schreiben, die sie mitbringen möchte. „Sonst gehe ich noch woanders hin und sehe etwas anderes. Ohne eine Liste funktioniert es nicht“, berichtet sie.
Schuld und Scham als Hemmschwelle
Wie Hannah ergeht es vielen Menschen in Deutschland. Laut Expert*innen leiden hierzulande mehr als 600.000 Personen an Kaufsucht. Die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher. „Das liegt daran, dass die Betroffenen oftmals an schweren Schuld- und Schamgefühlen leiden, die dazu führen, die Suchtproblematik nicht sehen zu wollen und Kaufexzesse zu verheimlichen“, sagt Michael Semeraro, Diplom-Psychologe aus Düsseldorf. In seiner Praxis für Psychotherapie behandelt er Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen.
Die Kaufsucht ist eine Verhaltenssucht und zählt zu den Impulskontrollstörungen. Bei den Betroffenen besteht ein intensiver Kaufdrang. Ihre Gedanken kreisen in zwanghafter Weise um dieses Thema. Oftmals komme es dann zu Kaufattacken, bei denen sie unnötige und sinnlose Dinge kaufen und zu Hause horten, sagt Semeraro. Bei den Betroffenen werden bestimmte Hirnareale aktiviert, die unter dem Begriff Belohnungssystem bekannt sind. Beim Einkaufen schüttet das Gehirn bestimmte Botenstoffe aus, die der betroffenen Person Glück und Zufriedenheit vermitteln. Ein Ungleichgewicht des Systems löse die Kaufsucht aus. Denn Kaufsüchtige brauchen immer mehr Botenstoffe und kaufen dadurch immer unkontrollierbarer, um ein Wohlgefühl zu empfinden, sagt der Experte. „Es entwickelt sich ein süchtiger Teufelskreis, der nur schwer zu unterbrechen ist.“
Kaufsucht ist ein schleichender Prozess
In diesen Teufelskreis ist Hannah geraten. Seit sie bei ihren Eltern ausgezogen ist, wurde das Shopping schleichend zum Problem. „Ich hatte mein eigenes Konto und konnte selbst verfügen. Keiner hat mehr geguckt, was ich mit meinem Geld mache“, sagt sie. Hannah wirkt ruhig und gefasst, wenn sie erzählt, wie ihre Kaufattacken mit der Zeit immer mehr wurden. Besonders Werbung auf Instagram hat Hannah dazu verleitet, neue Sachen im Internet zu bestellen. „Bei Instagram habe ich gesehen, was andere Leute für Klamotten haben und ich nicht. Und da wurde es mehr.“ Niemand habe bemerkt, dass sie eine Abhängigkeit vom Shopping entwickelte. Auch sie selbst nicht. „Ich habe immer positives Feedback für meine neuen Sachen bekommen“, erzählt sie. Nur ihrem Freund sei der zunehmende Shopping-Wahnsinn nach einiger Zeit aufgefallen. Er machte sie auf das Problem aufmerksam. Ihre Beziehung ist daran nicht zerbrochen – anders als bei vielen anderen Betroffenen.
Ihrer Mutter falle es heute schwer, sich bewusst zu machen, dass die Sucht ihrer Tochter krankhaft ist. „Es fällt ihr schwer ‚nein‘ zu sagen, wenn ich etwas möchte.“ Dennoch unterstütze sie Hannah in ihrer Situation. Hannah selbst sieht die Gründe für ihre Sucht in ihrer Kindheit. Ihre Familie habe immer viel bestellt, sagt sie. „Sobald Geld da war, wurde es auch ausgegeben. Das fand ich immer normal.“ Außerdem leidet Hannah seit vielen Jahren an einer Depression, die durch Selbstwertprobleme hervorgerufen wurde. „Dadurch vergleiche ich mich fast nur mit anderen“, sagt sie.
Corona kurbelt Kaufsucht an
Dass psychische Beschwerden wie Ängste oder Depressionen eine Ursache der Kaufsucht sein können, bestätigt Psychologe Michael Semeraro. Auch Menschen die sich verschulden, Geld klauen oder Partnerschafts- und familiäre Krisen haben, können abhängig werden. Weil die Kaufsucht eine eher unauffällige Sucht sei, sei sie für Außenstehende nur schwer erkennbar, sagt der Experte. „Oft spielt der Betroffene selbst sein pathologisches Kaufverhalten herunter, verharmlost und verleugnet es.“ Erst, wenn der Leistungsdruck der betroffenen Person unerträglich sei, werde die Problematik ersichtlich. „Das können zum Beispiel äußere Umstände sein, wie finanzielle Schulden oder eine Privatinsolvenz.“
Betroffene leben häufig über ihre Verhältnisse, sodass Rechnungen oder Ratenkäufe schnell zur Schuldenfalle werden können. Mehr als 14 Prozent der Überschuldungen in Deutschland sind dem Statistischem Bundesamt zufolge auf unwirtschaftliche Haushaltsführung zurückzuführen. Auch die Corona-Pandemie sieht Semeraro als möglichen Auslöser, der zu einem stärkeren Kaufverhalten beitragen kann. „Die sozialen Kontakte sind eingeschränkter, was für manche Betroffene zu einer starken sozialen Isolation führen und erneut in Kaufexzessen münden kann.“
„Hauptsächlich waren Amazon und H&M das Problem“
Auch Hannahs Kaufverhalten hat sich während der Corona-Pandemie verstärkt. Sie macht zurzeit eine berufliche Reha und arbeitet während des Lockdowns im Homeoffice. „Da ich oft zu Hause war, war ich auch mehr am Handy. Im Internet habe ich dann viel gesehen, was ich eigentlich nicht brauche, aber haben wollte“, erzählt sie. Dadurch war ihr Bankkonto meistens bereits am zehnten Tag des Monats leer. Verschuldet habe sich Hannah durch die Sucht aber noch nie. Ihre Mutter habe sie den Rest des Monats über die Runden gebracht und ihre Lebensmittel bezahlt.
Jetzt muss sie ihr Geld bereits am Monatsanfang abheben und zur Seite legen, damit sie es nicht direkt ausgibt – ein Teil für die Haushaltskasse, ein anderer, um zu sparen. „Da ich dann kein Geld mehr auf der Karte habe, gebe ich es auch nicht aus.“ Bargeld gebe sie ohnehin eher seltener aus. Ein Haushaltsbuch soll ihr dabei helfen, einen Überblick über all ihre Einkäufe und Ausgaben zu bekommen. Hannah will ihr Leben ab sofort ändern, um einen Weg aus ihrer Sucht zu finden. Dafür hat sie alle Shopping-Apps auf ihrem Smartphone gelöscht. „Hauptsächlich waren Amazon und H&M das Problem“, sagt sie. Auf Instagram ist sie jedoch weiterhin aktiv – trotz zahlreicher Werbeanzeigen. „Die Werbung auf Instagram ist schon krass. Jeder Influencer macht da Werbung. Das ist sehr schwierig für mich.“
Neben Haushaltsbüchern und ausführlichen Einkaufslisten, die den Betroffenen im Alltag helfen können, empfiehlt Psychologe Michael Semeraro professionelle Hilfe. Eine Suchtberatungsstelle oder niedergelassene Psychotherapeut*innen können als Anlaufstelle dienen. „Zum Beispiel können im Rahmen einer ambulanten Psychotherapie auf tiefenpsychologischer Grundlage Motive und Konflikte behandelt werden, die für die Kaufsucht unbewusst ursächlich sind“, sagt er. In einer Therapie können Betroffene am besten unterstützt werden, um die Ursachen ihrer Kaufsucht aufzuarbeiten und nach Lösungen für das Problem zu suchen. Außerdem könne es Betroffenen helfen, Selbsthilfegruppen oder Schuldnerberatungsstellen zu besuchen, sagt Semeraro.
Offenheit als wichtigstes Mittel
Auch Hannah schaut sich nach einer Selbsthilfegruppe um. Sobald der Lockdown vorbei ist, möchte sie ihre Sucht mit anderen Betroffenen aufarbeiten, erzählt sie. Offenheit ist für sie der Schlüssel, um ihre süchtige Verhaltensweise zum Stillstand zu bringen. „Wenn es andere wissen, dann können die auch besser damit umgehen. Und auch helfen.“ Sie selbst spricht seit einiger Zeit mit Freund*innen und Familie viel über ihre Kaufsucht. „Meine beste Freundin hält mir zum Beispiel den Spiegel vor: ‚Was machst du hier gerade?‘ Mit ihrem Freund hat Hannah Pläne für die Zukunft – ein gemeinsamer Urlaub oder auch ein Umzug in eine neue Wohnung. Dafür möchte Hannah kämpfen und ihr Geld sparen, um mit ihrer Sucht leben zu lernen und eines Tages wieder ohne Kaufdrang durch die Einkaufsstraßen schlendern zu können.
Beitrags- und Teaserbild: Pixabay, unsplash und Michael Semeraro