Zeitschleife Pandemie – Was damals war, kommt heute nochmal

Pandemien sind in der Menschheitsgeschichte nichts Neues. Obwohl es in der Geschichte schon häufiger Pandemien gab, haben wir heute mehr Angst vor Covid-19 als die Menschen damals vor der Spanischen Grippe. Warum das so ist, wie die beiden Pandemien sich unterscheiden und worin sie sich gleichen – eine Analyse.

Mund-Nasen-Schutz tragen, Abstand halten, ja sogar Kontaktverbote: Das Coronavirus hat den Alltag, wie wir ihn kannten, grundlegend verändert. Das, was einer Zäsur gleicht, ist in der Menschheitsgeschichte keinesfalls ein Novum. Vor rund einhundert Jahren wütete die Spanische Grippe und kostete Millionen Menschen das Leben. Welche Parallelen zur Corona-Pandemie gibt es? Welche Unterschiede? Und folgt dieser Zeit vielleicht erneut eine ausgelassene Ära wie damals die Goldenen Zwanziger Jahre?

Es ist der 27. Januar 2020, das Coronavirus hat Deutschland erreicht. Bei einem Mann aus dem Landkreis Starnberg bei Bayern wird das Virus erstmals nachgewiesen. Das Risiko, dass sich das Virus in Deutschland ausbreitet, sei aber nach wie vor gering, teilt das Bundesgesundheitsministerium mit. Knapp zwei Monate später gehört diese Einschätzung der Vergangenheit an: Am 11. März stuft die World Health Organisation (WHO) die Verbreitung des Coronavirus als Pandemie ein. Elf Tage später geht Deutschland in den ersten Lockdown.

Das Coronavirus kam für die meisten unerwartet. Insbesondere sein globales Ausmaß. Doch dass sich das Virus so schnell und weit ausbreiten würde, war gar nicht so unwahrscheinlich. Vielmehr wurde es mal wieder Zeit. Im Schnitt traten in der Vergangenheit nämlich alle 27,5 Jahre Pandemien mit Influenzaviren auf, wie eine Studie des Robert Koch-Instituts ergab.  Dafür haben die Forscher*innen die Erreger der letzten großen Pandemien betrachtet sowie die jeweiligen Sterberaten und Verläufe. „Machen wir uns klar: Seuchen mögen neu für uns sein. Für die Menschheit sind sie es nicht“, erklärte der amerikanische Soziologe und Arzt Nicholas Christakis damals in einem Interview mit der Welt.

Die schwerwiegendste Pandemie des vergangenen Jahrhunderts

 Längst nicht alle Pandemien nehmen ein solches Ausmaß an wie die Corona-Pandemie. Die schwerwiegendste ihrer Art ist sie aber nicht. Diesen Platz hat die Spanische Grippe inne. Von 1918 bis 1920 wütete diese weltweit und gilt als Grippe-Pandemie mit den meisten Opfern. Je nach Schätzung forderte die Spanische Grippe 40 bis 100 Millionen Tote. Zum Vergleich: Nach Angaben der WHO starben bis Anfang Juli 2021 knapp vier Millionen Menschen weltweit an Covid-19.

Malte Thießen leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und ist Experte, wenn es um Pandemien geht. Foto: privat

Trotz höherer Todesrate: „Die Spanische Grippe – und das ist auch ein grundlegender Unterschied zu Corona – spielt in der zeitgenössischen Wahrnehmung eigentlich gar keine Rolle“, erklärt Professor Doktor Malte Thießen. Er ist Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte und ausgewiesener Impf-Experte. Dass die Menschen die Spanische Grippe für weniger bedrohlich gehalten hätten als wir heute das Coronavirus, liege unter anderem an ihrem Namen. „Die Grippe ist eine alte Bekannte“, meint Thießen. Die Menschen hätten damals bereits gelernt, mit ihr zu leben. „Covid-19 hingegen ist in der öffentlichen Wahrnehmung etwas Unbekanntes, etwas Neues“, erklärt der Historiker. Ängste seien sehr viel größer, wenn der Mensch es mit einer unbekannten Bedrohung zu tun habe. Die Folgen des Ersten Weltkriegs seien ein weiterer Grund, weshalb die Pandemie für die Menschen damals nicht so präsent gewesen sei wie für uns heute das Coronavirus. Nach vier Jahren des Krieges seien die Menschen Hunger und Kummer gewohnt gewesen, erklärt Thießen. Die Spanische Grippe sei dann eben noch hinzugekommen. Außerdem sei der Seuchentot im 20. Jahrhundert noch Teil des Alltags gewesen. Hier sieht der Impf-Historiker einen wesentlichen Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung der beiden Pandemien: „Wir leben seit den 60-er, 70-er Jahren im Zeitalter der Immunität. Wir haben die Angst vor Infektionskrankheiten quasi vergessen.“

„Die Seuche ist nicht das Virus, sondern die Seuche sind wir“

Der Unterschied zwischen den Pandemien liege also vor allem darin, wie die Gesellschaft die Bedrohung durch das Virus wahrnimmt. „Das macht sozusagen die Seuche aus. Die Seuche ist nicht das Virus, sondern die Seuche sind wir“, meint Thießen. Die Vorstellung, dass es schlimm ist, wenn Alte und Kranke sterben, sei etwas vollkommen Neues.

Die Angst vor dem Virus hätte die Bevölkerung dazu bewegt, die Schritte der Politik mitzutragen. Wenn auch nicht jede*r mitgezogen hat. „Wir haben heute ein ganz anderes Risikoempfinden“, erklärt Historiker Thießen. Maßnahmen, die das öffentliche Leben so stark beschränken, haben es in der Geschichte der Bundesrepublik bis dahin nicht gegeben. Auch damals, als die Spanische Grippe wütete, wurden Schulen und Behörden geschlossen. Allerdings nicht, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. „Die Leute waren teilweise einfach krank“, beschreibt Thießen die Situation in den 1920-er Jahren. „Da konnten die Schulen häufig überhaupt nicht öffnen, weil keine Lehrer da waren.“ Ansätze, um die Bevölkerung präventiv vor dem sich ausbreitenden Virus zu schützen, habe es nicht gegeben.

Abstand halten und Maske tragen – mittlerweile sind die Schutzmaßnahmen Alltag geworden. Foto: pixabay.com/TRESOR69

Corona, eine alte Bekannte

 Die Schritte zur Eindämmung der beiden Pandemien und ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft unterscheiden sich grundlegend. Die Folgen der Spanischen Grippe und der Corona-Pandemie sind sich aber durchaus ähnlich.

„Die virologische Forschung bekam damals wichtige Impulse durch die Spanische Grippe“, erklärt Impf-Historiker Thießen und spricht von einem Aufblühen der Forschung. Dass in den 30-er und 40-er Jahren Viren entdeckt worden seien, sei eine unmittelbare Folge der Pandemie gewesen. Ähnliches ist heute zu sehen. „Die Forschung hat einen Riesenschritt gemacht“, stellt Thießen fest. Corona habe unglaubliche Ressourcen freigesetzt, durch die beispielsweise die Entwicklung der mRNA-Impfstoffe wesentlich schneller möglich war. Außerdem sieht Thießen positive Entwicklungen in der internationalen Zusammenarbeit: Pandemieforschung sei zwar schon immer international gewesen, Corona habe aber nochmal für einen starken Globalisierungsschub gesorgt. „Das hat uns einen Impuls gegeben, dass wir uns stärker als Weltgemeinschaft verstehen – als Weltverantwortungsgemeinschaft“, merkt der Historiker an. Eine Pandemie lasse sich eben nur global eindämmen.

Auf die Frage, wann mit einem Ende der Corona-Pandemie zu rechnen ist, hat Thießen eine ernüchternde Antwort: „Ich denke, dass Corona wie die Grippe eine alte Bekannte werden wird. Wir werden lernen, damit zu leben.“ Eine Zeit danach wird es also nicht geben, eine Zeit der Erleichterung schon, da ist sich Thießen sicher. „Ich denke schon, dass es nach Corona sozusagen Goldene Zwanziger geben wird“, meint der Historiker, „einfach, weil wir es als eine so große Bedrohung empfunden haben.“ Der amerikanische Arzt Nicholas Christakis prognostiziert, dass etwa Anfang 2024 mit dem Beginn einer ausgelassenen Phase zu rechnen ist.

Doch nicht so golden, das goldene Jahrzehnt

Die goldenen Zwanziger waren nicht so golden, wie es heute häufig heißt. Da ist sich Isabell Heinemann sicher. Foto: privat

 „Neue Goldene Zwanziger – ich wäre vorsichtig, davon zu reden“, meint jedoch Isabel Heinemann. Sie ist Professorin für Neueste Geschichte an der WWU Münster und beschäftigt sich insbesondere mit der Geschichte Deutschlands und der USA im 20. Jahrhundert. „Dieses ,goldene Jahrzehnt‘ ist nur einem bestimmten Teil der Bevölkerung zugutegekommen“, erklärt Heinemann. Die Tochter eines wohlhabenden Unternehmers in Berlin habe damals sicher mehr Möglichkeiten gehabt als eine Bäuerin im Allgäu.

Die Zwanziger Jahre – eine Zeit des Wiederaufbaus, des Wirtschaftsbooms, der kulturellen Vielfalt und Verstädterung, aber auch der politischen Gewalt. Die Gesellschaft in Deutschland muss die Folgen des Ersten Weltkriegs bewältigen und sich gleichzeitig in ein neues politisches System einfinden. Armut und soziale Ungerechtigkeit sind Kennzeichen dieser Zeit.

Den Begriff Goldene Zwanziger würde Heinemann für die 1920er Jahre deshalb nicht wählen – und wenn, dann nur mit genauer Definition. „Es sind mit Sicherheit spannende, aber mit Sicherheit auch spannungsreiche Jahre“, lautet das Fazit von Historikerin Heinemann. Vergleichbar mit heute sind die Zwanziger Jahre also nicht. Die Unterschiede überwiegen: „Unsere Verlusterfahrung erstreckt sich auf eineinhalb Jahre, in denen wir auf vieles verzichten mussten, aber es ist nicht unser ganzes Weltbild, unser Staat, unsere Existenz zusammengebrochen.“

 

Beitragsbild: pixabay.com/fernandozhiminaicela

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