111 Millionen. Die Anzahl an Streams, die die Netflix-Serie “Squid Game” innerhalb der ersten vier Wochen verzeichnete. Damit stellt die koreanische Produktion Streaming-Hits wie “The Crown”, “Haus des Geldes” oder den amtierenden Rekordhalter “Bridgerton” in den Schatten. Aktuell grüßt “Squid Game” in 90 Ländern von der Spitze der Netflix-Charts und ist zusätzlich im Social Media in aller Munde. Für den Erfolg gibt es einige Erklärungsansätze.
Eine überdimensionale, kindliche Mädchenpuppe steht mit dem Kopf zur Wand. Auf der anderen Seite des Raumes hat sich eine Gruppe von einheitlich gekleideten Menschen versammelt, die sich vorsichtig in Richtung der Puppe begeben. Es ertönt eine niedlich singende Kinderstimme: “Rotes Licht, grünes Licht”. Die Puppe dreht sich um. Die Menschenmenge steht still. Bloß eine Hand voll Menschen zuckt noch. Die Folge: Disqualifikation.
Was im ersten Moment wie die spektakuläre Ausführung eines harmlosen Kinderspiels wirkt, entpuppt sich binnen weniger Sekunden als brutales Massaker. Die Mädchenpuppe erschießt die disqualifizierten Menschen mit beängstigender Erbarmungslosigkeit. Nach einigen Runden liegt ein schockierend großer Teil der Teilnehmer leblos am Boden. Der Rest hat das erste Spiel überstanden. Das erste Spiel von “Squid Game”.
In der Serie “Squid Game” spielen 456 Teilnehmer*innen um Leben und Tod. Das geheimnisvolle Unternehmen, das hinter der Organisation des Spiels steckt, lockt verarmte, verzweifelte Menschen aus kleinen Orten in Seoul mit dem Gewinn von umgerechnet 33 Millionen Euro. Die Teilnahme ist freiwillig. Hauptcharakter Seong Gi-hun ist einer der Teilnehmer*innen. Um mit dem Gewinn des Geldes sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, muss er sich in sechs Spielen gegen die anderen Kandidaten behaupten. Das Geld erhält allein der letzte Überlebende. Das Konzept von “Squid Game” ist nicht revolutionär, aber hinterlässt trotzdem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.
Handlung lässt sich einfach nachvollziehen
Im Gegensatz zu Serien wie “Game of Thrones” und “The Walking Dead”, bei denen die andauernden Ortswechsel Verwirrung stiften könnten, oder “Dark”, dessen verworrene Handlung den Zuschauer*innen sämtliche kognitive Fähigkeiten abverlangt, hält es Regisseur Hwang Dong-hyuk bei “Squid Game” simpel. Beim “Tintenfisch-Spiel”, so die Übersetzung des Titels, geht es bloß um die zentrale Frage: Wer gewinnt das Spiel und damit das Geld?
Diese Einfachheit lässt sich auf weitere Elemente innerhalb der Serie übertragen. Die Handlung springt allein zwischen zwei Schauplätzen umher. Die Begrenzung der Orte auf Ssangmun-dong, dem Stadteil von Seoul, aus dem die Protagonist*innen kommen, und die unbekannte Insel, auf der die Spiele ausgetragen werden, erleichtert den Zuschauer*innen das Verständnis. Auch die Spiele vermeiden komplexe Regeln. Dadurch, dass es sich um simple Kinderspiele handelt, müssen die Regeln nicht ausschweifend erklärt werden.
Ungewöhnliche Kontraste wecken Interesse
So simpel die Kernelemente der Serie sind, so besonders ist ihre Umsetzung. Für Serien-Liebhaber Ren Kühn, Inhaber des YouTube-Kanals SerienFlash, macht gerade das den Erfolg aus: “Die Serie liefert etwas Unübliches, was nicht zwingend etwas Neues sein muss”. Dazu wählt Regisseur Hwang eine spezielle Optik und lässt dadurch immer wiederkehrende ungewöhnliche Kontraste entstehen. “Man könnte darüber spekulieren, dass das Publikum die Serie also allein schon aufgrund ihrer Aufmachung düsteren dystopischen Szenarien vorzieht”, merkt Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München, an.
Die Spielorte wirken wie die analoge Version eines Computerspiels. Überdimensionale Puppen und Spielplätze, Brücken aus quadratischen Glasblöcken und ein unübersichtliches, neonfarbenes Treppenhaus stehen dem tristen, verregnetem Heimatort der Protagonisten gegenüber. Serienkritiker Robert Hofmann hebt außerdem den häufig absurd wirkenden Kontrast von Bild und Musik positiv hervor: “Die Schlachtung von Menschen wird mit klassischer Musik gepaart. Das hat eine gewisse Ästethik.”
Zuschauer*innen hinterfragen eigenes Denken und Handeln
Was “Squid Game” von gewöhnlichen Torture-Filmen wie “Saw” oder “Hostel” abgrenzt, ist für die meisten Fans die Message, die über einfache Kapitalismuskritik hinweg geht. Tiefgründige Handlungsstränge heben die Serie aus der Masse an gewöhnlichen Thrillern hervor und geben ihr einen philosophischen Ansatz. Für Ren Kühn ist das ein weiterer Grund für den Erfolg: “Es ist wie eine Traumwelt, in der Dinge geschehen, die man nicht für möglich hält. Dabei werden die eigenen inneren Werte getriggert.” Zuschauer*innen würden immer wieder mit der Frage konfrontiert werden: “Wie würde ich in der Situation handeln?”
Für Medienethik-Professorin Claudia Paganini ist das Narrativ entscheidend. “Es setzt sich kritisch mit der konkreten Situation vieler Menschen auseinander. […] Eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich einerseits, […] und die Unbarmherzigkeit einer leistungsorientierten Gesellschaft andererseits”, erklärt Paganini. Moralisch verwerfliche Entscheidungen der Charaktere werden dadurch nachvollziehbar. Die Identifikation mit den Figuren nimmt zu.
Bei “Squid Game” handelt es sich um ein klassisches fiktionales Szenario, das im Kern recht simpel gestaltet ist. Allerdings verleiht Hwang der Serie mit einer besonderen Optik und kuriosen Kontrasten eine eigene Note. Dieser Aspekt ist wohl auch der Grund, warum der Thriller in Social Media so präsent ist. Um sich aber ein finales Urteil darüber zu bilden, ob der Hype um die Serie gerechtfertigt ist oder nicht, sollte man sie sich selbst anschauen.
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