Enorme Inflation in der Türkei: Preise rauf, Stimmung runter

Die türkische Bevölkerung ächzt unter immer höheren Preisen, die Luft für Präsident Erdoğan wird langsam dünner. TU-Studentin Magda erzählt uns, wie ihre Familie in der Türkei mit der hohen Inflation klarkommt. Zwei Experten erklären die wirtschaftliche und politische Lage.

In Deutschland steigen die Preise. Das statistische Bundesamt verzeichnet für November einen Anstieg der Verbraucherpreise um 5,2 Prozent im Vergleich zum November des vergangenen Jahres. Das ist eine relativ hohe Inflation. „Und das muss man sich jetzt zehn mal so krass vorstellen. So ist die Lage in der Türkei gerade.” TU-Dortmund-Studentin Magda weiß wovon sie spricht. Sie hat eine besondere Verbindung zur Türkei. Der mütterliche Teil ihrer Familie lebt dort – in Didim, an der türkischen Ägäisküste. Im Moment schaut sie mit Sorge auf die Entwicklung in dem Land, denn die Preise in der Türkei steigen gerade in schwindelerregende Höhen. Um 21,3 Prozent ist das Leben dort zwischen November 2020 und 2021 teurer geworden – so die offiziellen Zahlen des türkischen Statistikamtes.

Grafik: tradingeconomics

Das bedeutet: Die Währung Lira wird schleichend entwertet – eine Abwärtsspirale, die den Menschen in der Türkei immer mehr zu schaffen macht. Auch Magdas Familie: „Vor kurzem haben 30 Eier noch neun Lira gekostet. Inzwischen sind es 200 Lira. Das erzählt mir meine Familie. Und wir haben noch Glück: Wir besitzen ein Restaurant und einen Blumenladen. Aber wir sind jetzt nicht gerade wohlhabend, müssen hart arbeiten für unseren Lebensunterhalt. Umso schlimmer ist es dann, wenn das Geld, das man verdient, nichts mehr wert ist.”

Erste Proteste gegen hohe Preise

Wie Magdas Verwandten geht es vielen Türk*innen. In den Großstädten wie Istanbul regt sich bereits Unmut. Dort schlägt die Inflation besonders heftig zu – in Istanbul liegt die Inflationsrate laut Stadtverwaltung sogar bei 50 Prozent. Am Wochenende gab es in der Stadt Proteste von Gewerkschaften. Bis zu 5000 Menschen protestierten gegen die hohen Preise. Sie fordern eine deutliche Anhebung des Mindestlohns, um zu verhindern, dass die Menschen verarmen.

Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan lasse sich davon bislang allerdings wenig beeindrucken. Die Regierungspolitik der niedrigen Zinsen werde fortgesetzt und trage maßgeblich zur rasanten Preisentwicklung bei, erklärt Yunus Ulusoy von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler analysiert das Kalkül der Regierung: „Erdoğan will durch die niedrigen Zinsen Anreize für Investitionen setzen. Dadurch erhofft er sich bessere Bedingungen für Unternehmen und dadurch wiederum mehr Wirtschaftswachstum.”

Jens Hübner von der Frankfurter Dekabank beschäftigt sich mit Volkswirtschaften in Asien, auch mit der türkischen. Foto: Hübner

Dieses Kalkül geht teilweise auch auf. Laut Medienberichten ist die türkische Wirtschaft im zweiten Quartal 2021 um 21,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gewachsen. Doch die ähnlich hohe Inflation frisst diese Erfolge nahezu vollständig auf. Der Volkswirt Janis Hübner von der Frankfurter Dekabank hält wenig davon, dem angestrebten Wirtschaftswachstum alle anderen Ziele unterzuordnen: „Erdoğan behauptet immer wieder, dass hohe Zinsen die Inflation verstärken. Mit dieser Theorie steht er allerdings alleine dar. Ich weiß von keinem ernstzunehmenden Ökonomen, der das je so vertreten hätte.”

Erdoğans Wachstumsorientierung habe noch eine weitere Konsequenz: Die Währung Lira befinde sich im freien Fall. Weil die Zinsen so niedrig seien, werde viel investiert und die Menge an Geld steige immer weiter. Dadurch nehme der Wert des Geldes jedoch ab. Ein US-Dollar ist momentan fast 15 Lira wert, vor einem Jahr waren es noch knapp acht. Die Folge des Lira-Absturzes: Importe werden teurer, was die Inflation weiter anfacht, erklärt Wirtschaftsexperte Hübner.

Was jetzt passieren muss

In Zeiten einer Währungskrise müsste die Notenbank eigentlich den Leitzins erhöhen, meint Hübner: „Auch wenn das Wachstum dadurch kurzfristig nicht mehr so hoch ausfällt, würde das doch dazu beitragen, die Lira zu stabilisieren und die Inflation in Schach zu halten.” Das sei in nächster Zeit allerdings nicht zu erwarten. Am wahrscheinlichsten sei es, dass die Türkei auch in den nächsten Jahren ein Hochinflationsland mit zweistelligen Inflationsraten bleibt.

„Erdoğan müsste eine komplett neue Vorstellung davon entwickeln, wie Wirtschaft funktioniert.”

Die Stimmung könnte kippen

Erdoğan hat sich mehrfach offensiv in die eigentlich unabhängigen Entscheidungen der Notenbank eingemischt: Dreimal hat er deren Chef seit 2019 ausgetauscht. Die Rolle des türkischen Präsidenten ist in der aktuellen Wirtschaftskrise also zentral. Das könne Erdoğan aber auch gefährlich werden, sagt Yunus Ulusoy von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung. 2023 sind die nächsten Präsidentschaftswahlen. Wenn die wirtschaftliche Krise bis dahin weiter außer Kontrolle gerate, könnte es für Erdoğan eng werden: „Nach 20 Jahren an der Macht wirkt die Regierung abgenutzt. Hinzu kommt die wirtschaftliche Lage. Die Wahl ist wirklich offen und die Vorzeichen für Erdoğan sind eher schlecht.”

„It’s the economy, stupid”, war einst das Mantra der Wahlkampagne von Ex-US-Präsident Clinton und sollte bedeuten: Die wirtschaftliche Lage bestimmt über den politischen Erfolg. Schenkt man dem Glauben, sieht es für Erdoğans Machtbasis im Moment düster aus.

Abseits aller politischen Erwägungen kämpfen die Menschen weiter ums wirtschaftliche Überleben. Für TU-Studentin Magda und ihre Familie in der Türkei bleibt nur die Hoffnung, dass sich die Lage bald stabilisiert: „Wenn die Preise sich weiter so entwickeln, werden die Leute das nicht mehr lang aushalten können.”

Beitragsbild: GuidesGlobal / Pixabay

Ein Beitrag von
Mehr von Maurice Prior
Scholz im Bundestag: Weitere Waffen für die Ukraine
In der Generaldebatte im Bundestag kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwochvormittag...
Mehr
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert