Auf der Suche nach dem Weihnachtsgefühl

Wie fühlt sich Weihnachten an? Und wo kommt dieses Gefühl her? Um das herauszufinden, hat KURT– Reporterin Henrike mit Studierenden auf dem Campus, einem Pfarrer und einem Psychiater gesprochen.

Anfang Dezember, aus dem grauen Himmel über Dortmund nieselt es auf den Campus. Es sind nur fünf Grad, kein Wetter, bei dem ich mich gerne länger als nötig draußen aufhalte. Hier stehe ich, ein Mikro in der Hand, auf der Suche nach Weihnachten. Oder genauer: dem Gefühl von Weihnachten. Das regnerische Wetter lässt momentan nicht darauf schließen, dass bald Heiligabend ist. Aber in der Eingangshalle vom Hauptbahnhof hängt die Weihnachtsdekoration bereits seit Wochen – Tannengrün, rote Kugeln und Lichterketten in warm-weiß. Eigentlich dieselbe Dekoration wie jedes Jahr, aber trotzdem gibt sie mir ein warmes Gefühl im Bauch. Sie verkündet: Bald ist Weihnachten. Nur warum fühlen sich ein paar Plastikkugeln, Licht und Synthetikgrün warm im Bauch an?

Um das herauszufinden, mache ich mich auf die Suche nach dem abstrakten Weihnachtsgefühl. Sie beginnt vor der Zentralbibliothek mit dem ersten Studenten, der mir über den Weg läuft: groß, blond, gerade dabei, dem Wachpersonal seinen 3G-Nachweis zu zeigen. Maschinenbaustudent, sagt er. „Wie fühlt sich für dich das Weihnachtsgefühl an?“, frage ich. Er sieht kurz überrascht aus, überlegt und sagt schließlich nur ein Wort: „Warm.“ Dann ist er auch schon durch die Glastür verschwunden. Verrückt, er findet Weihnachten auch warm, denke ich. Der Wachmann, der eben noch meinen Impfnachweis kontrolliert hat, ruft mir hinterher: „Nach Kindheit.“

In der Bibliothek empfängt mich stickige Wärme und lautes Stimmengewirr. Während es draußen in Strömen weiterregnet, laufen drinnen Onlinevorlesungen auf Tablets und Laptops. An den Holztischen im Erdgeschoss sitzt eine Gruppe Informatikstudenten. „Entschuldigung, kann ich ganz kurz stören?“

 

„Irgendwie wie Zuhause halt.“

Eine halbe Stunde später weiß ich: Weihnachten kann bedeuten, mit Omas und Freunden Plätzchen zu backen, einen Lichterbogen ins Fenster zu stellen oder Kerzenschein und Kaminfeuer zu beobachten. Auch Gerüche werden immer wieder genannt. „Wenn Weihnachtsmarkt ist, riecht es überall nach Weihnachten.“ Für die meisten, mit denen ich gesprochen habe, ist das Wichtigste an Weihnachten die Zeit mit der Familie. „Das Weihnachtsgefühl ist die Familie. Irgendwie, wie Zuhause halt.“

Aber woher kommt dieses Gefühl und warum fühlt es sich für mich, den Maschinenbau-Studenten und den Wachmann nahezu gleich an?

Mit meiner Umfrage im Gepäck mache ich mich auf den Weg in die Nordstadt zum Pfarrer der Pauluskirchengemeinde. Friedrich Laker schließt das Gemeindezentrum auf, bietet Kaffee, Hafermilch und Kekse an. Ich erzähle ihm von den Umfrageergebnissen. Dass fast alle Teilnehmenden Wärme, Geborgenheit und ihre Familien erwähnt haben, überrascht ihn nicht.

Der Mensch braucht Nähe

„Früher saßen alle gemeinsam ums Feuer. In einer vertrauten Gemeinschaft fühlen wir uns am sichersten, weil es sich heimelig und geschützt anfühlt“, sagt er. Laker erklärt, dass wir in erster Linie zutiefst soziale Wesen seien. Ihm zufolge waren wir  im Laufe der Evolution immer auf die Gemeinschaft angewiesen, darauf, dass man sich aufeinander verlassen konnte und dass alle die Gemeinschaft stärken.

Mein Eindruck ist, dass wir uns in der modernen Welt mehr und mehr zu Individuen entwickelt haben, die zum Überleben nicht mehr zwingend eine Gemeinschaft brauchen. An Nahrung und kurzweilige Beschäftigung kommen wir im Zeitalter von Lieferdiensten und Netflix unabhängig von vertrauensvollen Beziehungen. Trotzdem sehnen wir uns nach Nähe und Sicherheit, zwei Grundbedürfnisse, die in den letzten beiden Jahren durch die Auswirkungen der Coronapandemie an vielen Stellen zu kurz kamen. Viele Menschen empfinden ihren Alltag als überfordernd und stressig. Das, gepaart mit Ängsten, Druck am Arbeitsplatz, in der Uni oder im Homeoffice oder Einsamkeit durch die Beschränkungen verunsichert viele.

Friedrich Laker © Schwalbert/Lokalkompass

Der Pfarrer erzählt mir, dass diese Sehnsucht nach Gemeinschaft besonders an Weihnachten eine große Rolle spielt. „Wir sehnen uns danach, dass die Familie zusammenkommt, sich versteht und nicht streitet“, erklärt Laker. Er weiß auch, dass die Realität oft anders aussieht, weil die Erwartungen an das Fest zu hoch sind. Im Kern geht es aber nicht um das perfekt geplante Weihnachtsmenü oder erzwungene Harmonie. „In einer Gemeinschaft, in der wir nichts leisten müssen und die uns annimmt, wie wir sind, können wir uns an Weihnachten fallen lassen”, meint der Pastor. „Ich denke, ganz entscheidend ist: im Weihnachtsgefühl steckt auch, geliebt werden, für das, was man ist“.

Diese Erkenntnis deckt sich auch mit der Forschung. Im November 2021 gaben in einer Umfrage 67 Prozent der Befragten an, dass sie sich an Weihnachten am meisten auf die Freunde und Familie freuen.

Lichterketten gegen Winterblues

Ich frage Friedrich Laker, was für eine Rolle Wärme und Licht spielen. Beide Elemente wurden in meiner Umfrage zum Weihnachtsgefühl mehrfach genannt. Er meint, das läge vor allem daran, dass Weihnachten im Winter und sehr nah an der Wintersonnenwende liegt, der dunkelsten Zeit im Jahr. Bei vielen drücke die kalte und dunkle Jahreszeit auf die Stimmung. „Man spricht an Weihnachten ja oft von Licht in der Dunkelheit. Licht zu entzünden schafft eine gewisse Sicherheit, die wir in dunklen, metaphorisch gesehen, aber auch schwierigen Zeiten als Hoffnung empfinden“, erklärt mir Friedrich Laker. So wie sich früher in warme Höhlen zurückgezogen wurde, zögen wir nun eben in unsere Häuser und säßen, statt wie früher am Feuer, heute eben am Kamin oder Lichterkranz, erzählt er mir.

Jetzt verstehe ich auch, warum wir Lichterketten aufhängen und Kerzen anzünden, sobald es um vier Uhr nachmittags dunkel wird. Außerdem würden wir mit Licht und Wärme aber auch Nähe verbinden und näher zusammenrücken, fügt Laker hinzu. „Eigentlich ist das Weihnachtsgefühl also eine Umschreibung für ganz wesentliche menschliche Grundbedürfnisse“, resümiert der Pastor der Pauluskirche.

Der Glaube ist nicht entscheidend

Heiligabendgottesdienste sind die meistbesuchtesten Gottesdienste im Jahr. Laut der evangelischen Kirche gingen 2019 an Heiligabend 14 mal so viele Menschen in den Gottesdienst wie an gewöhnlichen Sonntagsgottesdiensten. Darunter sind auch viele Menschen, die nicht Kirchenmitglied sind. Der Kirchgang an Heiligabend ist in vielen Familien Tradition. Ähnlich wie das gemeinsame Singen, Zusammensitzen oder Essen in der Weihnachtszeit, schaffen gemeinsame Aktivitäten, auf die wir uns zusammen freuen, Nähe. Friedrich Laker sagt, Rituale hätten schon unsere Vorfahren verbunden. Was genau in der Predigt gesagt würde, sei nicht so entscheidend, ebenso wenig, dass man besonders gläubig ist. Es gehe eher um die gemeinsame Vorfreude und um die Tradition, sagt mir der Pastor.

Laker sieht auch Parallelen zur Weihnachtsgeschichte. Jesus wird unter widrigsten Umständen in einem kalten Stall in ärmliche Verhältnisse hineingeboren. Für die Hirten, die drei heiligen Könige und das Volk bedeutet er aber Hoffnung und wird mit dem Stern über Bethlehem, dem Licht, umschrieben. Die Weihnachtsgeschichte thematisiert Unsicherheit und Armut aber auch Hoffnung und Wärme. „Sie schafft es, tiefe Sehnsüchte nach Gerechtigkeit und Geborgenheit anzusprechen und zu zeigen, dass es irgendwo Hoffnung und Licht geben wird“, erzählt Laker.

Tipps für mehr Weihnachtsstimmung
Alle Neflix-Weihnachtsfilme gebingt? Lust auf was anderes macht die ziemlich schräge, etwas artsy-vintage angehauchte französische Serie „Nona und ihre Töchter“. Die Storyline dreht sich um die 70-jährige Nona (gespielt von Miou-Miou), die kurz vor Weihnachten aus unerklärlichen Gründen zum vierten Mal schwanger ist. Ihre drei erwachsenen Töchter ziehen daraufhin zu ihr, bringen einen Haufen Probleme mit und feiern dann Weihnachten. Lustig und „mal was anderes“. Besonders die Filmmusik typisch französisch gelungen. Bis zum 14. Januar 2022 auf arte.tv abrufbar.

Ein bisschen Falala und Love gibt´s im neuen Mariah Carey- Song “Fall in Love at Christmas”, mit jugendlicher Unterstützung durch R&B-Star Khalid und Gospelsänger Kirk Franklin. Inklusive Whistlenotes und Gospelchor.

Last-Minute-Tipp: mit Gerüchen in Weihnachtsstimmung kommen. Manche schwören auf getrocknete Orangenscheiben auf der Heizung, andere testen sich durch die gesamte Reformhausproduktpalette. Alles mit Zimt, Kardamom, Sternanis, Lebkuchengewürz oder Nelke zündet. Ebenso Benzoe, das Harz des Benzoebaumes: riecht wie Tanne. Die Marke „Village Candle“ bietet grüne Kerzen an, die nach „Chistmas Tree“ duften. Liegen mit 20,63€ allerdings nicht mehr ganz im Studentenbudget und sind in großen Teilen des Internets vergriffen. Dann vielleicht doch Tannenzweige irgendwo mitgehen lassen. Aber nicht auf die Heizung legen!

Warum riechen Tannenzweige nach Weihnachten?

Zimt, Nelken, Kekse, Anis, Tannenharz – die Liste an Weihnachtsdüften ist lang. Ich möchte herausfinde, warum uns bestimmte Gerüche besonders an Weihnachten erinnern. Vom Gemeindeszentrum aus geht es für mich deshalb jetzt ins Marienhospital nach Hombruch. Dort angekommen bietet mir Dr. Harald Krauß, Chefarzt der Psychiatrie- und Psychotherapieklinik, einen gemütlichen Lederstuhl an einem runden Besprechungstisch an. Außerdem kann er mir sagen, was es mit den Weihnachtsgerüchen auf sich hat. „Die Region im Hirn, die für den Geruchssinn zuständig ist, steuert auch die Verarbeitung von Erinnerungen. Bestimmte Gerüche erinnern uns an unsere Kindheit. Zum Beispiel daran, wie wir mit den Eltern und Geschwister unter dem Tannenbaum saßen, Geschenke ausgepackt haben, uns sehr geliebt und geborgen gefühlt haben.“, erklärt er mir.

Neurowissenschaftler vermuten außerdem, dass die Verknüpfung zwischen dem Erinnerungszentrum und dem Geruchssinn im Hirn in jungen Jahren besonders stark ausgeprägt ist. Demnach würden sich die positiven Erfahrungen, von denen Krauß spricht, besonders gut in unserem Gedächtnis speichern, sodass es nur einen geringen Reiz braucht, um ein warmes, schönes Gefühl in uns auszulösen.

Wie eine heiße Schokolade mit Sahne?

Ein Student hat mir auf dem Campus erzählt, dass Weihnachten sich gemütlich, „wie heiße Schokolade mit Sahne“ anfühlt. Dass das nicht für jeden zutrifft, ist klar. Viele Menschen fliehen vor den Weihnachtstagen in den Süden oder gehen lieber feiern, als den Heiligabend besinnlich in den eigenen vier Wänden zu feiern.

Dr. Harald Krauß © Misha Kovalov

Wer schon beim Gedanken an die Feiertage Angst oder Beklemmung fühlt, ist nicht allein. Krauß meint, er kenne viele Menschen, die sich einsam fühlten, sich zerstritten oder jemanden Nahestehendes verloren haben und aktuell nicht so Weihnachten feiern könnten, wie sie es gerne tun würden. „An Weihnachten herrscht oft der Druck, dass alles perfekt sein muss und alle sich gut verstehen. Das überstrapaziert die wenigen Tage“, sagt Dr. Harald Krauß. Er empfiehlt, nicht zu perfektionistisch an Weihnachten heranzugehen und übermäßig zu planen oder zu hohe Erwartungen zu stecken.

Er wisse auch, dass schon bestehende Einsamkeit über die Feiertage verstärkt wird. Ein erster Schritt sei es, sich darüber bewusst zu werden, dass man sich einsam fühlt und gerne auch in angenehmer Gemeinschaft die Weihnachtstage verbringen würde. Dafür gebe es genügend Angebote von Kirchen oder Vereinen. Außerdem solle man keine Scheu haben, zu fragen, ob man an Weihnachten vorbeikommen dürfe. „Oder man lädt selbst zu sich ein, auch das ist eine schöne Möglichkeit, um selbst zu bestimmen, auf welche Art man Weihnachten verbringt.“, resümiert Krauß.

Für immer Weihnachtsgefühl

Und was tun wir, wenn nach Weihnachten das Weihnachtsgefühl wieder verschwunden ist? Dazu meint Krauß: „Man kann sich fragen: Was hat es eigentlich so schön gemacht? Am Ende war es dann ja oft die gemeinsame Zeit, die man verbracht hat oder kleine Gesten. Wenn man es schafft, sich solche Momente beizubehalten, vielleicht öfter mal das zu machen, wofür man sich an Weihnachten Zeit nimmt, wirkt man gegen den Weihnachtsblues an.“

Ich verabschiede mich von dem Arzt und werde vor dem Klinikdrehkreuz vom Nieselregen empfangen. Ich weiß jetzt, das Weihnachtsgefühl kann man nicht greifen. Für ganz viele fühlt es sich gleich an, aber jeder verbindet etwas anderes damit. Und es bleibt lieber nur kurz und entwischt dann schnell wieder, das macht es wahrscheinlich auch so besonders. An der der Heinrichstraße steige ich aus der Bahn und sehe an den Häuserfassaden hoch in die beleuchteten Fenster. Und da ist es kurz wieder, das warme Gefühl im Bauch. Wie nach Hause kommen. Bald ist Weihnachten.

Beitragsbild und Fotogalerie: Henrike Utsch/KURT

 

 

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