Ausgestochen: Wie eine EU-Verordnung die Tattoo-Szene durcheinander bringt

Die EU hat ihre Chemikalienverordnung überarbeitet – und stürzt die Tattoo-Branche damit ins Chaos. Ein großer Teil der Farben, die bisher verwendet wurden, dürfen ab diesem Jahr nicht mehr benutzt werden, da sie mutmaßlich gesundheitsschädlich sind. Ein Besuch in einem Dortmunder Tattoo-Studio zeigt, wie stark die Situation die Szene belastet.

Die Nadel noch einmal in die schwarze Farbe tauchen. Dann geht es los. Das Geräusch der Tätowiermaschine erinnert an einen Zahnarztbohrer – ein leicht schriller Ton. Die Tätowiererin setzt die Nadel immer wieder kurz ab und wischt die überschüssige Farbe weg. Wenige Minuten später zieren ein Mond und kleine Sterne den Fußrücken der Kundin. Neun Jahre lang hat Britta Krock, Tätowiererin aus Dortmund, die Körper ihrer Kund*innen auf diese Weise tätowiert. Damit ist jetzt Schluss.

Denn: Seit dem 4. Januar 2022 dürfen Tätowierer*innen in der gesamten EU mit einem Großteil der bislang verwendeten Farben keine Tattoos mehr stechen. Der neuen Europäischen Chemikalienverordnung REACH zufolge sind die Stoffe in den Farben nämlich mutmaßlich gesundheitsschädlich: Sie lösen Allergien und Hautirritationen aus und sollen sogar krebserregend sein. Darum hat die Europäische Chemikalienagentur (kurz: ECHA) verboten, die Farben zu verkaufen und zu verwenden. Das soll die Umwelt schonen und die Verbraucher*innen vor gesundheitlichen Risiken schützen, heißt es im Gesetz.

Was ist REACH?
REACH steht für Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals. Es geht also um die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe. Dieser Prozess wird der Europäischen Chemikalienagentur Europäische Chemikalienagentur (ECHA) durch die Verordnung vorgeschrieben.

Die Folgen für die Tattoo-Branche

„Von den Farben, die vorher auf dem Markt waren, sind 98 Prozent betroffen. Das sind faktisch alle. Restbestände sind nicht mehr erlaubt, das muss alles in die Mülltonne geworfen werden“, sagt Urban Slamal, ein Rechtsanwalt, der sich intensiv mit den rechtlichen Aspekten des Tätowierens beschäftigt. Außerdem ist Slamal Vorstandsvorsitzender des „Bundesverbandes Tattoo“, der die Interessen der Branche vertritt und die Brücke zwischen Tätowierer*innen, Kund*innen und Behörden schlägt. Die ECHA würde die Anforderungen, die sie an Kosmetika im Allgemeinen stelle, auf die Tattoofarben übertragen, um eine markteinheitliche und verbraucher*innenschützende Regelung zu schaffen, sagt Slamal. Der Anwalt fasst den Grundsatz, dem die ECHA folgt, zusammen: „Wenn irgendetwas auf der Haut nicht erlaubt ist, dann sollte das auch in der Haut nicht erlaubt sein.“ Dadurch dürfen nun circa 4000 Substanzen in Tätowiermitteln nicht mehr verwendet werden. Darunter fallen beispielsweise Konservierungsstoffe, solche, die die Fließfähigkeit verbessern oder Ethylalkohol. „Das war vor Kurzem noch in so ziemlich jeder Tattoofarbe“, so Slamal.

Die Verordnung versetzt Tätowiererin Britta Krock in eine Ausnahmesituation: Noch nie habe sie sich vom Staat derart im Stich gelassen gefühlt, sagt sie. Denn alternative Farben gibt es erst wenige. Mit einem leichten Zittern in der Stimme erzählt Krock von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die sie täglich quälen. „Ich verstehe das alles nicht“, sagt sie, während sie den Kopf schüttelt. Jahrelang habe sie die Farben benutzt, ohne jegliche Bedenken.

Seit elf Jahren tätowiert Krock nun schon. Vor neun Jahren hat sie ihr eigenes Studio in Dortmund-Hörde eröffnet. In ihrer Zeit als Tattoo-Artistin hat sie im Durchschnitt fünf Tattoos pro Woche gestochen, insgesamt also mehr als 2500. Dass jemand allergisch reagiert habe, sei in weniger als fünf Prozent der Fälle passiert. „Warum wird etwas Funktionierendes vom Markt genommen? Nachgewiesen ist es nicht, dass die Farben gesundheitsschädlich sind.“ Krocks eigene Tattoos seien alle mit den Farben gestochen worden, die die EU nun verbietet. Das erste hat sie sich mit 13 machen lassen. Ein Kreuz auf ihrer Schulter. Heute ist sie 32 – und auch die Zahl ihrer Tattoos um ein Vielfaches höher. Sie trägt sie an Armen und Händen, am Rücken und am Schlüsselbein.

Britta Krock in ihrem Tattoo-Studio (Foto: Marisa Schürer)

Vorwürfe und Kritik – was Betroffene bemängeln

Dass die Tätowierfarben nur mutmaßlich, nicht aber nachgewiesenermaßen gesundheitsschädlich sind, kritisiert auch Anwalt Slamal. Die EU habe nicht geprüft, ob die Stoffe, die sich sowohl in den Kosmetika als auch in den Tätowierfarben befinden, in beiden Fällen gesundheitsschädlich sind. Stattdessen habe die Union die Regeln für Kosmetika, die bereits vorher bestanden hatten, einfach auf die Farben übertragen. Wissenschaftlich sei das angreifbar, so Slamal. Außerdem hätte die EU keinen akuten Handlungsbedarf gehabt: „Wirklich dringend in dem Sinne, dass es durch die Farbe eine Gesundheitskrise gegeben hätte, war es mit Sicherheit nicht“, erklärt Slamal.

In manchen Fällen haben Tätowierungen unerwünschte Nebenwirkungen. Das kann zum Beispiel die Lymphknoten betreffen. Lymphknoten befinden sich im ganzen Körper. Sie schwellen an, wenn sich der Körper gegen einen Eindringling wehrt – und das Immunsystem zu arbeiten beginnt. Dr. Christian Kors, Hautarzt in Berlin, erklärt: „Mit jeder Tätowierung bleibt der Farbstoff nicht an Ort und Stelle, sondern wandert weiter bis in die Lymphknoten.“ Kors ist seit mehr als 20 Jahren spezialisiert auf Lasermedizin, unter anderem für Tattoo-Laserbehandlungen beziehungsweise -entfernungen. Er betont aber auch: „Ob und inwieweit die Bewegung der Farbe schädlich ist, ist nach wie vor nicht zu 100 Prozent geklärt. Nach Daten, die über viele Jahre erhoben wurden, scheint es keine schädliche Wirkung zu haben.“

Bevor sie ein Motiv stechen, gilt für Tätowierer*innen eine Aufklärungspflicht. Die Kund*innen sollen Fragen stellen, mögliche Risiken besprochen werden. Tattoo-Artistin Britta Krock bietet ihren Kund*innen beispielsweise persönliche Beratungstermine an oder bespricht sich mit ihnen per Videokonferenz. Außerdem müssen die Kund*innen ein Formular zu gesundheitlichen Risiken und Vorerkrankungen ausfüllen.

Welche wirtschaftlichen Konsequenzen die Verordnung für die Branche hat, habe die EU nicht ausreichend bedacht, kritisiert Anwalt Slamal. Britta Krock sieht das genauso: „Durch Corona haben wir uns bereits daran gewöhnt, mit Existenzängsten zu leben. Die Lockdowns haben uns 15.000 Euro gekostet.“ Denn obwohl die Tätowierer*innen nicht arbeiten durften, sind die Fixkosten weiterhin angefallen. Die neue Verordnung kam nun noch hinzu. Aus diesen Gründen ist die Arbeit so schwer geworden, dass Krock sich entschlossen hat, ihr Studio zu schließen. Die einzelnen Tätowierer*innen werden zwar weiterhin für Kund*innen erreichbar sein, nur „das Studio an sich wird es so nicht mehr geben“.

Fehlende Kommunikation einerseits – überwältigende Unterstützung andererseits

Wie die Tattoo-Branche über das Gesetz denkt, damit habe sich die EU nicht ausreichend auseinandergesetzt, sagt Slamal. Die Verbände und die wissenschaftlichen Forschungsgruppen seien zwar angehört, aber inhaltlich ignoriert worden. Der Bundesverband Tattoo hat deswegen eine bundesweite Aufklärungskampagne mit dem Namen „Tattoo2030“ gestartet. Diese soll unter anderem dafür sorgen, dass bei zukünftigen Gesetzgebungen die Tattoo-Branche miteinbezogen wird, um ihre eigene Zukunft mitzugestalten.

Bereits vergangenes Jahr startete die Initiative „Save The Pigments“, eine europaweite Protestbewegung, die der Bundesverband ebenfalls unterstützt. Sie kämpft dagegen, dass die Pigmente Blue 15 und Green 7 auch verboten werden – das plant die EU wegen gesundheitlicher Bedenken ab 2023. Slamal zufolge sind diese Stoffe essenziell für Tätowierfarben. Die Initiative zählt bisher rund 170.000 Unterstützer*innen. Auch Krock hat ihre Kund*innen dazu aufgefordert, die Petition zu unterschreiben.

Eine staatliche Organisation, die zwischen Branche und Gesetzgeber vermittle, gebe es nicht, kritisiert Krock. Diese Aufgabe übernimmt „Feelfarbig“, ein deutschsprachiges Tattoo-Magazin. Es hätte die Tätowierer*innen informiert und beispielsweise die Gesetzesänderung verständlich erklärt.

Blick in die Zukunft

Die ersten neuen, legalen Farben hat Krock Ende Dezember erhalten, ebenso die Anweisung des Händlers, sie solle sich beim Hersteller melden, sollten Kund*innen die Farben nicht vertragen. Dann würde die Charge zurückgerufen.

Die neue Tätowierfarbe in der Farbe Schwarz (Foto: Marisa Schürer)

Die neuen Farben wurden innerhalb weniger Monate entwickelt. Denn die REACH-Änderung wurde erst Ende 2020 festgelegt. Den Tätowierer*innen fehlt die Erfahrung. Krock fühle sich mit den Farben, die sie bisher benutzt habe, sehr viel sicherer. Sie weiß, wie die verschiedenen Hauttypen darauf reagieren. Die neuen Farben habe ihre Arbeitskollegin in einem „Selbstversuch“ getestet, wie sie es ausdrückt. Sie seien nicht so farbintensiv wie gewohnt und das Tattoo sei nach vier Wochen immer noch nicht abgeheilt – normal seien zwei bis drei Wochen bei ihr.

Gesundheitsschädlich sind die Stoffe, die in den neuen Farben enthalten sind, übrigens auch. Zumindest in großen Mengen. Dazu zählt beispielsweise das Schwermetall Arsen. Dies ist nach der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft krebserzeugend. Krock möchte, auch wenn die Farben nur geringe Dosen dieser Stoffe enthalten, nicht damit arbeiten. „Das würde mir Bauchschmerzen bereiten“, meint sie und wirkt dabei verzweifelt. Sechs Wochen später gibt es nun einen weiteren Hersteller, der ein alternatives Angebot an neuen Farben produziert. Diesem vertraut Krock, denn er sei schon lange auf dem Markt und sie habe mit dieser Marke bereits gearbeitet.

Britta Krock spielt dennoch mit dem Gedanken auszuwandern, raus aus der EU. Sie fühle sich nicht wertgeschätzt hier in Deutschland und empfinde das neue Gesetz als zusätzliche Hürde, die Tätowierer*innen neben der Corona-Pandemie überwinden müssen. Auch Urban Slamal ist sich sicher, dass sich nicht nur die Kund*innen ihre Tattoos in Zukunft im Ausland stechen lassen werden. Deutschland werde durch die Gesetzesnovelle einige Tätowierer*innen verlieren. „Das wird im Zweifelsfalle dazu führen, dass der eine oder andere Anbieter seinen Laden einfach dicht machen kann.“

Beitragsbild: Marisa Schürer

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