Weltcups, Europa- oder Weltmeisterschaften und die Olympischen Winterspiele – Wintersportarten finden in zahlreichen Wettbewerben in verschiedenen Ländern statt. Doch welche Auswirkungen hat es auf die Ergebnisse, wenn die Deutschen für einen Bob-Weltcup nach Österreich reisen müssen oder die USA die Olympischen Winterspiele im eigenen Land ausrichten? Mit einer statistischen Datenauswertung haben wir einen Blick auf die Zahlen der Olympischen Spiele und der Weltcups im Bobsport geworfen, um zu schauen: Was ist dran am Heimvorteil bei Wintersportarten?
Ein Rückblick: Es ist der 14. Februar 2021. (Schon) wieder sind alle Augen auf ihn gerichtet: den deutschen Bobinator Francesco Friedrich mit seinem Viererbob-Team. Eigentlich wäre er jetzt in Lake Placid in den USA. Doch aufgrund der Corona-Pandemie ist er zuhause. In Altenberg. Eine Heim-WM. Auf „seiner“ Bahn. Bereits die ersten drei Läufe des deutschen Bob-Vierers waren hervorragend. Sportkleidung richten. Den Bob richtig hinstellen. Das Startsignal ertönt und los geht es. Friedrich springt in den Bob, seine Anschieber hinterher. Wieder ein kleiner Fehler am Start, doch der wird schnell ausgeglichen. Er rast durch die Bahn. Dann Kurve Vier – sein Visier klappt hoch. Egal, er kennt die Bahn. Über die Ziellinie. Und da ist er, der bis dato vierte Doppelweltmeistertitel für Francesco Friedrich. In Altenberg – auf seiner Heimbahn.
Wäre er in den USA wohl auch Weltmeister geworden? Ist es Talent, Glück oder auch der Einfluss des Heimvorteils, der ihn besonders auf deutschen Bahnen nahezu unbesiegbar macht? Im Fußball gibt es bereits Studien, die zeigen, dass Teams im eigenen Stadion besser sind als auswärts. Friedrich selbst hatte im letzten Jahr in einem Interview gesagt, dass es ohne die Fans bei der diesjährigen WM kein Heimflair und dann auch keinen Heimvorteil gäbe. Trotzdem hat er gewonnen. Was ist also wirklich dran am Heimvorteil im Bobsport? [1] Wir schauen uns die Daten an.
Ausnahmesportler: Francesco Friedrich
Ein Blick auf die Leistung von Friedrich in den Weltcups von 2012 bis 2020 zeigt zwei Aspekte deutlich: 1. Er ist gut. 2. Vor allem zuhause. Während er in Altenberg (neun von elf Mal) und in Winterberg (elf von 13 Mal) fast immer unter die Top Drei kommt, schafft er es in Kanada (sechs von 16 Mal) und USA (acht von 25 Mal) [2] – verhältnismäßig selten auf die Podiumsplätze. Es zeichnet sich ab: Je weiter weg er von seiner Heimat ist, desto schlechter sind seine Ergebnisse.
Doch woran liegt es, dass er stellvertretend für andere Bobsportler*innen, zuhause so stark ist? „Er ist Sachse und hat auf seiner Heimbahn in Altenberg, die auch technisch sehr anspruchsvoll ist, die meiste Erfahrung. Da wiegt der Heimvorteil umso größer, weil man die schwierige Bahn sehr häufig gefahren ist und sie im Schlaf beherrscht. Deshalb kommen da so gute Ergebnisse bei raus“, erklärt Co- Bundestrainer Gerd Leopold, der seit elf Jahren auch der Heimtrainer von Francesco Friedrich ist, die Ergebnisse. „Winterberg ist 450 Kilometer von uns entfernt. Da sind wir als deutsche Bobfahrer natürlich auch sehr oft zum Trainieren. Außerdem sind es beides Wettkampfanlagen, bei denen man extrem davon profitiert, wenn man gut am Start ist. Das liegt einem Schnellstarter wie Friedrich.“ Auf den Bahnen, die weiter weg liegen, habe die Konkurrenz dagegen mehr Trainingszeiten und so den Heimvorteil auf ihrer Seite, so Leopold.
Bobstandort Deutschland
Wie viele andere Länder hat auch Deutschland eine Wintersportart, in denen die eigenen Sportler*innen besonders hervorstechen: eben genau den Bob- und Rodelsport – das gilt nicht nur in der Heimat, sondern weltweit. Im Zeitraum zwischen 2006 und 2020 hat Deutschland mehr als 35 Prozent aller möglichen Weltcup-Medaillen gewonnen und führt damit die Gesamtwertung an. Wie enorm diese Zahl ist, zeigt der Vergleich zum nächstbesten Land. Die USA haben 14 Prozent Medaillenanteil.
Der Bundestrainer der deutschen Bobmannschaft, René Spies erklärt die Dominanz der Deutschen in diesem Sport. „Einer der Hauptgründe ist, dass wir vier eigene Bobbahnen haben – also drei Bobbahnen plus die Rodelbahn in Oberhof. Die Trainingsmöglichkeiten sind dadurch sehr gut. Wir haben auch eine hohe Expertise im Trainerteam über die ganzen Jahre. Sprich die Ausbildung findet auf einem sehr hohen Niveau statt“, so Spies. „Dazu kommt auch, dass wir eine sehr gute Unterstützung durch die Behörden haben – Bundespolizei, Polizei, Bundeswehr – sodass wir viele Kader-Athletinnen und -Athleten dort unterbringen und professionell arbeiten können.“
Weitere Gründe seien laut Spies die FES, Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte in Berlin, die Sponsorenakquise durch den medialen Auftritt des Bobsportes in Deutschland und die Dichte an Bobsportler*innen in Deutschland im Allgemeinen. Es gibt auch ein großes ABER in diesem Bereich, denn Deutschland gewinnt nicht nur am meisten, sondern trägt auch die meisten Weltcups aus. Ein Drittel aller Weltcup-Rennen finden auf den deutschen Bobbahnen in Winterberg, Altenberg und Königssee statt. Dahinter kommen wieder die USA mit gut 20 Prozent.
Ein Blick in die Daten
Wie die Daten zeigen, hat auch bei der Betrachtung aller von Deutschen gewonnenen Medaillen zwischen 2006 und 2020 der Heimvorteil Auswirkungen auf die Ergebnisse der Weltcuprennen. In einer genaueren Analyse der Länder Deutschland, Schweiz, Österreich, USA und Kanada wurde ausgewertet, wie hoch der Medaillenanteil der jeweiligen Teilnehmerländer in den verschiedenen Gastgeberländern in diesem Zeitraum war. Wieder stechen zwei Erkenntnisse aus der Auswertung der Daten hervor: 1. Deutschland ist, abgesehen von Rennen in den USA, in jedem Land am besten (siehe die Balken über GER). 2. Abgesehen von der Schweiz ist jedes Land zuhause am besten. 50 Prozent aller Medaillen, die bei deutschen Weltcuprennen gewonnen werden konnten, gingen an die Deutschen.
Im Vergleich: Die nächstbeste Heimbilanz haben die USA mit rund 28 Prozent gewonnener Medaillen im eigenen Land. Wie bei Friedrich zeigt sich auch bei dieser Auswertung: Mit der Distanz zum eigenen Land wird die Medaillenausbeute für die Deutschen geringer. Das bestätigt Bundestrainer Spies: „In den USA und Kanada stehen mit Lake Placid und Whistler zwei Bobbahnen, die mit zu den schwersten Bahnen zählen. Dann haben wir noch Calgary und Park City, die ein bisschen leichter sind. Aber gerade in Whistler und Lake Placid kommt natürlich zum Tragen, dass die Amerikaner dort viel öfter trainieren und fahren als wir. Da ist es normal, dass dort der Heimvorteil für diese Teams größer ist und wir da nicht gut aussehen.“
Ein internationaler Trend
Im Bobsport dominierten in der Vergangenheit und in der Gegenwart neben deutschen Namen auch andere internationale Sportler*innen die Wettbewerbe: Steven Holcomb, Kaillie Humphries oder Martins Dukurs sind nur einige von ihnen. Ein Blick auf die erfolgreichsten Bobsportler*innen der letzten 14 Jahre (2006-2020) zeigt: Meistens sind die Heimsportler*innen die erfolgreichsten im eigenen Land, sowohl im Bob als auch beim Skeleton – egal, ob Mann oder Frau.
Deutschland ist auf allen drei Heimbahnen in drei der fünf Kategorien am erfolgreichsten. Die US-amerikanischen Sportler*innen haben auf ihren Heimbahnen eine ähnlich gute Bilanz. Kanada sticht vor allem in Whistler mit erfolgreichen Heimsportler*innen hervor.
Der Haken an Heim-Rennen
Aber macht allein die Tatsache, dass man im eigenen Land Bob fährt, den Heimvorteil aus? Nein! „Einen Vorteil gibt es auf jeden Fall durch die Abfahrtsanzahl. In materialtechnischer Hinsicht hat man dadurch auch viel mehr Abfahrten, um das Material abzustimmen. Da weiß man zum Beispiel ganz genau, welche Kufen man einsetzen muss. Ich glaube auch, dass es wahnsinnig motivierend ist, wenn viele Zuschauer da sind, so wie letztes Jahr in Altenberg, wo die Bobbahn komplett voll mit Menschen war“, listet René Spies, Bundestrainer der deutschen Bobmannschaft, die verschiedenen Einflussfaktoren des Heimvorteils auf.
Doch heimische Rennen müssen nicht immer ein Vorteil sein: „Auf der anderen Seite ist es immer so, dass du einen besonders hohen Druck hast, wenn du eine Heim-WM hast. Zumal dann sehr viel von dir erwartet wird. Das ist eher kontraproduktiv”, so Spieß. “Da können halt die Wettkampftypen am besten mit umgehen. Bei einigen Athleten und Athletinnen ist es aber auch hemmend und manchmal ein Nachteil.“
Gastgeberländer können zuversichtlich sein
Die Frage nach dem Heimvorteil stellt sich nicht nur in einzelnen Disziplinen. Wie „gut“ sind ganze Länder, also deren Sportler*innen, bei Wettbewerben im eigenen Land? Dafür haben wir uns alle Sportarten der Olympischen Winterspiele zwischen 1924 und 2018 angeschaut und analysiert, wie hoch der Medaillenanteil der verschiedenen Gastgeberländer in den jeweiligen Jahren war. Dabei gilt zu beachten: Während die USA bereits vier Mal Gastgeberland waren, fanden in Norwegen die Winterspiele zweimal und in Russland beispielsweise nur einmal statt.
Wieder fällt auf: Zuhause wird mehr gewonnen. Alle drei Länder lagen in den jeweiligen Gastgeberjahren mit dem gewonnenen Anteil an Gesamtmedaillen über dem eigenen Auswärtsdurchschnitt. Die meisten Länder waren bei Olympischen Winterspielen im eigenen Land stärker. Trotzdem gibt es einige Gegenbeispiele, wie Österreich im Jahr 1979 oder die Schweiz 1928. Zusätzlich darf ein Aspekt nicht vernachlässigt werden: Die Anzahl der Sportler*innen schwankt extrem. So haben die USA bei ihrer Heim-Olympiade 1960 mit 79 Sportler*innen nicht nur die meisten im gesamten Wettbewerb gestellt, sondern auch 12 mehr als noch im Jahr 1952 bei den Winterspielen in Oslo. Das Gastgeberland Norwegen hatte in dem Jahr mit 73 ebenfalls die meisten Sportler*innen, während sie bei den Spielen 1960 in Squaw Valley nur mit 29 Sportler*innen antraten.
Der Erfolg liegt im eigenen Land
Auch ein Blick auf die Olympischen Winterspielen deutet auf den Heimvorteil im Bob hin, was eine detaillierte Medaillenverteilung nach Ländern und Sportarten zeigt: Die meisten Länder, die die Möglichkeit hatten, sowohl im eigenen Land als auch im Ausland Bob zu fahren, war zuhause besser.
Doch der Heimvorteil geht über den Bobsport hinaus. Der Erfolg liegt bei den meisten Wintersportarten im eigenen Land. Das zeigt sich neben dem Bobsport vor allem beim Eislaufen. Beim Skisport sind ähnliche Tendenzen erkennbar. Ähnlich wie bei der Teilnehmendenzahl muss hier ein Aspekt mit beachtet werden: Bestimmte Sportarten sind erst zu späteren Zeitpunkten olympische Disziplinen geworden oder waren zeitweise nicht mehr dabei, wodurch bestimmte Länder sowohl als Teilnehmerland, aber vor allem als Gastgeber keine Chance hatten, Medaillen in diesen Zeiträumen zu gewinnen.
Routine und Atmosphäre: die Aspekte des Heimvorteils
So mythenhaft es sich anhört, der Heimvorteil kann einen Unterschied machen. Das bestätigen Zahlen und Bobtrainer Spies und Leopold. „Ich ordne den Heimvorteil, wenn es um einen internationalen Wettkampf geht, wie eine WM, schon als sehr hoch ein, weil die Athleten auf ihren eigenen Bahnen sehr viele Kilometer, sehr viel Training haben und mit den Wettkampfanlagen bestens vertraut sind“, erklärt Leopold. „Man kennt die Zufahrten zu der Bahn, man weiß, wo die Geräte stehen, man kennt die Bahn in und auswendig. Die beruhigende Atmosphäre im Umfeld, die einem auch Sicherheit gibt in der Vorbereitung auf einen Wettkampf, das macht schon enorm viel aus.“ Er ergänzt: „Der Heimvorteil ist schon etwas Besonderes und den schätzen die Athleten.“
Doch Friedrich ist ein Ausnahmesportler, der auch im Ausland herausragende Ergebnisse erzielen kann. Da stellt sich zwangsläufig die Frage: Wird bei solchen Sportler*innen der Heimvorteil nicht irgendwann hinfällig? „Davon kann man im Wesentlichen ausgehen“, erklärt Leopold. „In dem Bereich, in dem die jetzt fahren, hat der Heimvorteil auf die Wettkampfleistung einen geringen Einfluss. Die können überall ihre Topleistungen abrufen. Bei den guten Leuten ist es fast egal.“
Der Blick Richtung China
Februar 2022 – alle Augen sind nach Peking gerichtet zu den Olympischen Winterspielen. Am letzten Tag der Spiele steht vor allem einer im Fokus: der Bobinator Francesco Friedrich. Gewinnt er Gold im Vierer-Bob, winkt ein Rekord: Er wäre der erste Bobfahrer, der bei zwei aufeinander folgenden Olympischen Winterspielen Doppel-Gold holt. Und wie sollte es anders sein: Er startet, fährt und siegt. Damit bestätigt er einmal mehr: Heimvorteil hin oder her – er ist ein außergewöhnlicher Bobfahrer.
[1] Unter den Begriff Bobsport fallen folgende fünf Disziplinen: Viererbob (männl.), Zweierbob (männl.), Zweierbob (weibl.), Skeleton (männl.), Skeleton (weibl.). [2] Die Zahlen für die Länder ergeben sich immer durch die Addition der Ergebnisse auf den jeweiligen Bahnen im Land. Für Kanada sind das Whistler und Calgary und für die USA Lake Placid und Park City.Beitragsbild: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild / Sebastian Kahnert