Kohle. Dorf. Zukunft?

 

 

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Weil der Energiekonzern RWE das Dorf Morschenich im Rheinland für den Kohleabbau abreißen wollte, zogen die meisten Einwohner*innen weg. Doch der heute nahezu leere Ort wird bleiben. Wie sieht ist es dort aktuell aus? Eindrücke aus einem Dorf zwischen Verfall und Aufbruch.

Hoch steht die Mittagssonne an diesem Junitag am Himmel und scheint auf den Asphalt der Straße hinab, die sich an weiten Feldern vorbei durch die Landschaft zieht. Hinter ihnen erheben sich die Baumwipfel einiger Wäldchen. Ansonsten verdeckt keine Erhebung den Blick über die menschenleere Fläche. So ist schon aus großer Entfernung die kleine Ansammlung von Häusern zu erkennen, die sich von den grün-goldenen Getreidepflanzen und dem wolkenlosen blauen Himmel abhebt. Von hier aus wirkt es fast so, als ob es sich bei Morschenich um ein ganz normales Dorf im Rheinland handelt, irgendwo zwischen Köln und Aachen. Dass dieser Eindruck trügt, zeigt sich am Ortseingang, wo die Asphaltstraße das gelbe Ortsschild passiert. Wie gewöhnlich steht dort der Ortsname „Morschenich-Alt“ in schwarzen Lettern geschrieben. Doch was eine Zeile darunter steht, ist ungewöhnlich: „Ort der Zukunft“. Erst seit eineinhalb Jahren trägt Morschenichs Ortsschild diesen Zusatz. Denn lange sah es nicht danach aus, als ob das Dorf tatsächlich eine Zukunft hätte.

Widerstand gegen die Braunkohle

Der Grund dafür ist der Tagebau Hambach. Mit 85 Quadratkilometern die größte Braunkohlegrube des rheinischen Reviers. Weniger als ein Kilometer Entfernung liegt zwischen seiner Abbruchkante und der Ortsgrenze von Morschenich. 1978 hat der Energiekonzern RWE den Tagebau in Betrieb genommen und ihn seitdem immer wieder ausgebaut, um mit gigantischen Schaufelradbaggern Kohle zu fördern. Dutzende Dörfer in der Region, die dieser Expansion im Weg standen, hat der Konzern umgesiedelt und schließlich abgerissen.

Genau dieses Schicksal hatten RWE und die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen seit Ende der 1970er Jahre auch für Morschenich vorgesehen. 2019 sollte der Abriss des Dorfes beginnen. 2013 begannen RWE und die Gemeinde deshalb, Morschenichs Einwohner*innen umzusiedeln. Viele von ihnen zogen nach „Morschenich-Neu“. Diesen Ort hat RWE für die Umgesiedelten neu angelegt. Doch einige Einwohner*innen nahmen das Angebot von RWE nicht an. Sie weigerten sich, ihren Heimatort zurückzulassen und blieben in ihren Häusern. 2012 bekam ihr Protest neuen Aufwind. Denn in diesem Jahr besetzten erstmals Klimaaktivist*innen ein Waldstück in unmittelbarer Nähe der Abbruchkante. Dieses erlangte bundesweite Bekanntheit: der Hambacher Forst.

Der Widerstand gegen die Braunkohle brachte vor einigen Jahren tausende in den Hambacher Forst. Doch nur wenige sind geblieben. Foto: Paul Horst.

In den nächsten Jahren machten sich immer mehr Klimaschützer*innen aus dem ganzen Land auf den Weg in den Hambacher Forst. Elisa war eine von ihnen: „Ich bin damals hergekommen, weil es nichts wirklich Vergleichbares aus der Klimabewegung gab.“ Die heute 20-Jährige wollte den Wald retten und damit den Abriss von Morschenich verhindern. Mit einem Protestcamp vor dem Wald und Baumhäusern in den Wipfeln versuchten die Aktivist*innen, RWE zu stoppen. Im Spätsommer 2018 wollte die Polizei die Besetzung endgültig räumen. Gegen die Räumung und für ein Ende des Kohleabbaus protestierten zehntausende Menschen direkt am Forst – und erzielten tatsächlich einen Erfolg gegen RWE. Denn kurz vor Beginn der Rodung stoppte ein Gericht diese auf Antrag des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschlands. Die unmittelbar bevorstehende Abholzung des Forsts und der Abriss von Morschenich waren vorübergehend abgewendet. Dieser Erfolg wäre ohne den entschiedenen Widerstand der Klimaaktivist*innen vor Ort nicht möglich gewesen, glaubt Elisa: „Wenn wir nicht gewesen wären, dann wäre Morschenich längst weg.“

Kurz darauf besetzten Aktivist*innen den Hambacher Forst aufs Neue und errichteten gleichzeitig ein zusätzliches Protestcamp auf einer Wiese mitten in Morschenich. Dieses Camp wurde Elisas neues Zuhause.

Ein vergessenes Dorf

Auch vier Jahre später befindet sich das Camp noch immer an der gleichen Stelle, direkt hinter dem Haus einer heute 92-jährigen Morschenicherin. Sie gehört zu denen, die ihren Heimatort nicht verlassen wollten. Ihre Wiese überließ sie deshalb Elisa und den anderen Klimaaktivist*innen. Heute drängen sich hier unter einigen Bäumen und Sträuchern dicht an dicht Zelte, Hütten und dauerhaft abgestellte Wohnwagen. Eine der Hütten ist mit Solarzellen und einem WLAN-Router bestückt. Auch einen Wassertank, an dem Aktivist*innen aus dem Forst ihre Behälter auffüllen können, gibt es. Das Camp stellt damit einen Anlaufpunkt für Aktivist*innen dar und ist gleichzeitig ein wichtiges Stück Infrastruktur der Protestbewegung am Tagebau. Vom jahrelangen Widerstand der Kohlegegner*innen zeugen noch immer Schriftzüge, Aufkleber und Fahnen überall im Camp. Und doch ist es heute vergleichsweise still. Denn die meisten Aktivist*innen haben den Forst und Morschenich nach 2018 wieder verlassen.

Etwa ein Dutzend sind wir hier“, schätzt Elisa und greift energisch nach einem Strauch Unkraut, der seinen Weg zwischen die Salatköpfe und Zucchini gefunden hat. An diesem Tag kümmert sie sich um den Gemüsegarten des Camps. Anders als viele ihrer Mitstreiter*innen hat sie sich entschieden, in Morschenich zu bleiben. Sie fand es wichtig, die verbliebenen Einwohner*innen weiterhin zu unterstützen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und das, obwohl RWE im Januar 2020 erklärte, dass sie den Hambacher Forst und Morschenich stehen lassen werden. Elisa betont, dass der Kampf für den Erhalt Morschenichs dennoch weitergeht. Denn auch jetzt verfällt das Dorf weiter.

Der Bushaltestelle in der Dorfmitte fehlt eine Glasscheibe – und aktuell auch die Fahrgäste.Foto: Paul Horst.

Wer an den Häuserreihen vorbeigeht, erkennt, was sie meint. Die Fenster und Eingänge vieler Gebäude sind komplett zugemauert. Anderswo klaffen Löcher in staubigen Fensterscheiben. Auf der Rückseite der Bushaltestelle in der einstigen Dorfmitte fehlt die große Glasscheibe gleich ganz. Das Unkraut sprießt auch außerhalb von Elisas Garten aus dem Asphalt hervor – ganz besonders da, wo RWE in den letzten Jahren Häuser abgerissen hat. Obwohl klar ist, dass Morschenich bleiben wird, wirkt das Dorf bis auf wenige belebte Häuser und Höfe wie entvölkert. Die Schuld dafür sieht Elisa beim RWE-Konzern, dem heute 99 Prozent der Häuser im Dorf gehören. „Teilweise wollen Leute, die weggezogen sind, ihre Häuser von RWE zurückkaufen, aber sie bekommen sie nicht mehr wieder“, erzählt sie. Auf Anfrage verteidigt RWE dieses Vorgehen. Zwar könne das Unternehmen verstehen, dass „Umsiedler an ihren alten Anwesen hängen“. Es sei aber nicht sinnvoll, die damaligen Kaufverträge rückabzuwickeln. Denn RWE wolle sich nach den neuen Plänen der Kommune richten, Morschenich neuzugestalten. Elisa wirft RWE vor, dass der Konzern vor Ort aktiv Wohnraum zerstört, indem er bewohnbare Häuser abreißt und andere zumauert. RWE verteidigt auch diesen Schritt. Die zugemauerten Eingänge seien ein notwendiger Schutz gegen Einbrüche und Vandalismus. Wenn aber keine Luft im Haus zirkulieren kann, befällt Schimmel die Innenräume. Ein Abriss ist dann unvermeidbar.

Zugemauerte Fenster, heruntergelassene Rollläden. Ein übliches Bild in Morschenich. Foto: Paul Horst.

Doch RWE lässt nicht alle seine Immobilien in Morschenich verfallen. In einigen verlassenen Häusern hat der Konzern gezielt neue Bewohner*innen angesiedelt. Eine von ihnen ist Anja (Name von der Redaktion geändert). Seit 2020 wohnt sie in einem Klinkerbau nicht weit vom Camp der Aktivist*innen entfernt. Dieser gehört RWE. Der Energiekonzern sprach Anja aktiv an und bot ihr günstige Mietkonditionen in Morschenich an. Der Grund: Anja hat in der Vergangenheit bereits für den Werkschutz von RWE im Hambacher Forst gearbeitet. Jetzt soll sie verhindern, dass die Aktivist*innen weitere Häuser im Dorf beschädigen, indem sie dauerhaft in der Nachbarschaft präsent ist. Als Anja einzog, war das Haus stark heruntergekommen. Vieles musste sie reparieren. Für Anja war es trotzdem ein guter Deal. Sie kann in einem großen Haus zu Preisen weit unter jedem Mietspiegel wohnen und genießt die Ruhe: „Es ist herrlich, dass hier alles so weit ab vom Schuss ist.“

Anja ist bewusst, dass die dagebliebenen Dorfbewohner*innen und Klimaaktivist*innen ihr und ihrer Aufgabe skeptisch gegenüberstehen: „Am Anfang war es sehr schwierig, weil sie mein Gesicht von den Einsätzen im Wald kannten.“ Um Spannungen zu vermeiden, gab sie ihren Job beim Werkschutz auf, als sie nach Morschenich kam. Anja meint, sie bemühe sich um ein gutes Verhältnis zu den anderen Menschen in Morschenich. Die Aktivist*innen im Camp seien sowieso „total nett“. Nur einige wenige hätten einfach „Spaß am Kaputtmachen“. Und auch für die übrig gebliebenen Dorfbewohner*innen hegt sie Sympathien, weil sie standhaft geblieben sind: „Die, die noch da sind, haben sich nicht von RWE kaufen lassen.“

Diese Sympathien beruhen allerdings nicht auf Gegenseitigkeit. Klimaaktivistin Elisa ist der Meinung, Anja mache sich in ihren Bemühungen um eine gute Nachbarschaft selbst etwas vor. Sie und andere, die RWE hier angesiedelt hat, seien „reiner Objektschutz“.

Dass RWE jetzt seine Immobilien dauerhaft an Menschen wie Anja vermietet, markiert einen Strategiewechsel: RWE verringert die regelmäßigen Patrouillen seines Werkschutzes und setzt stattdessen auf dauerhafte Präsenz im Dorf. Die Auseinandersetzung zwischen RWE auf der einen Seite und Dorfbewohner*innen und Klimaaktivist*innen auf der anderen Seite geht damit trotzdem weiter – und betrifft alle Menschen in Morschenich. Auch diejenigen, die mit dieser Auseinandersetzung eigentlich nichts zu tun haben.

Es sind Menschen wie der 25-jährige Rashid Kilkawi aus Syrien. Er musste seine Heimat wegen des Kriegs zurücklassen. 2019 endete seine Flucht über die Türkei in einem Sammellager in Münster. 2021 verlegten ihn die Behörden nach Morschenich. Er ist nicht der einzige Mensch mit Fluchthintergrund im Dorf. Etwa 120 Geflüchtete aus unterschiedlichen Ländern leben aktuell dort. Bei einer Gesamtzahl von 182 Bewohner*innen bilden sie die Mehrheit. Die Gemeinde Merzenich, zu der Morschenich gehört, bringt die Geflüchteten in den Häusern unter, die RWE den ehemaligen Einwohner*innen abgekauft hat.

Unter den Geflüchteten gibt es einige Familien. Rashid aber hat keine Familie hier. Stattdessen lebt er mit acht anderen Geflüchteten in einem Haus. Mit einigen von ihnen steht er an diesem Tag im Garten der ehemaligen Kindertagesstätte von Morschenich. Hinter dem grauen Bungalow-Gebäude spielen sie sich einen Fußball hin und her. Ein wenig Ablenkung von dem ansonsten öden Leben im Dorf. „Es ist schwer für uns“, erzählt Rashid. Denn hier gebe es einfach nichts. Keinen Supermarkt, keine Bank, nicht einmal eine Kirche. Zum Einkaufen müssen sie nach Düren fahren. Die meisten haben kein Auto, müssen den Bus nehmen. Doch der kommt selten und wenn er nicht fährt, dann müssen sie zu Fuß gehen. Der Weg zum Supermarkt kann damit schnell über eine Stunde dauern. Warum das Dorf verlassen ist und was das mit der riesigen Grube vor ihrer Haustür zu tun hat, das haben die Behörden den Geflüchteten nicht erzählt: „Die haben uns nur gesagt, dass man nicht zu nah dahin gehen soll“, erzählt Rashid. Kontakt zu den deutschen Familien in Morschenich hätten sie nicht.

Unter der Woche arbeiten einige Geflüchtete aus seiner Hausgemeinschaft bei Unternehmen in der Region. Rashid selbst hat eine Anstellung bei einem Warenlager im etwas weiter entfernten Frechen gefunden. Das ist wichtig, weil ein dauerhafter Arbeitsvertrag eine der wenigen Möglichkeiten für die Geflüchteten ist, bald aus Morschenich wegzukommen. Denn eigentlich verpflichtet die Wohnsitzauflage des Landes Nordrhein-Westfalen sie, drei Jahre lang in der ihnen zugewiesenen Gemeinde oder Stadt zu bleiben. Nur wenn sie nachweisen können, dass sie finanziell eigenständig sind, hat der Antrag auf Umzug Aussicht auf Erfolg.

Ungewisse Zukunft

Seit klar ist, dass Morschenich bleiben wird, arbeiten die zuständige Gemeinde Merzenich und RWE in enger Absprache an neuen Plänen, um dem Dorf wieder Leben einzuhauchen – so sehen sie es zumindest.

Im Februar diesen Jahres legte die „Stabsstelle Strukturwandel“ der Gemeinde Merzenich ein Strategiepapier vor. Auf neun Seiten erklären die Planer*innen, wie sie Morschenich wiederbeleben wollen. Dabei steht vor allem die wirtschaftliche Entwicklung des Ortes im Fokus. Die Gemeinde will in Morschenich „innovative Start-Ups, Unternehmen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen“ ansiedeln. Auf den besonders fruchtbaren Böden um Morschenich herum soll an der „Optimierung“ von ökologischen Anbaumethoden geforscht werden. Eine Liste mit potentiellen Kooperationspartner*innen aus Forschung und Wirtschaft gebe es bereits.

Felder und Wiesen prägen die Landschaft rund um Morschenich. Liegt hier die Chance für einen Neubeginn? Foto: Paul Horst.

Klimaaktivistin Elisa kritisiert die Pläne der Gemeinde und von RWE. Für den Energiekonzern sei Morschenich sowieso nur „Investmentkapital“. Nach der Niederlage im Hambacher Forst versuche RWE jetzt, auf anderen Wegen doch noch Geld mit dem Dorf zu machen – die Folgen seien dem Konzern egal. Elisa betont: „Auch wenn Morschenich auf diese Weise an sich stehen bleibt, bleibt es nicht das gleiche Dorf. Hier gab es mal eine Dorfgemeinschaft. Die wird es mit Start-Ups nicht mehr geben.“ Ihre Aufgabe sieht sie deshalb darin, das Vorgehen von Konzern und Gemeinde weiterhin kritisch zu begleiten und die verbliebenen Einwohner*innen nicht im Stich zu lassen. Doch sie möchte auch in Morschenich bleiben, weil sich das Dorf und das Camp in den letzten Jahren zu ihrem Lebensmittelpunkt entwickelt haben.

Auch Anja hat von den Plänen der Gemeinde gehört. Sie ist der Meinung, dass das eher „positiv für den Ort“ wäre. Schließlich würde es auch ihr Leben erleichtern. In jedem Fall möchte sie in Morschenich bleiben: „Das ist einfach meine Welt.“

Nur Rashid und seine Mitbewohner hält nichts in Morschenich: „Wenn das Dorf bleibt, wo sind dann die ganzen Sachen? Hier kann man nicht leben.“ Sie möchten in Deutschland bleiben, aber so schnell es geht das Dorf verlassen. Die Gemeinde Merzenich scheint damit kein Problem zu haben. Auf den neun Seiten des Strategiepapiers für den „Ort der Zukunft“ werden die Geflüchteten nicht einmal erwähnt.

Beitragsbild: Paul Horst

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