Inflation, Notfallpläne, Gaskrise – exemplarisch für die deutsche Abhängigkeit von russischer Energie steht das Gaspipeline-Projekt Nord Stream. Warum sind wir so stark auf russische Lieferungen angewiesen? Ein Blick auf Nord Stream und die schon lange aggressive Außenpolitik Russlands.
Deutsche Russland-Politik
(insbesondere Nord Stream)
September 2005: Das russische Erdgasunternehmen Gazprom sowie die deutschen Energieunternehmen Wintershall und E.ON unterschreiben die Verträge für Nord Stream I – in Anwesenheit des damaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und des damaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Dezember 2005: Kurz nach Ende seiner Kanzlerschaft wird bekannt, dass Gerhard Schröder Aufsichtsratschef der Betreibergesellschaft von Nord Stream wird.
August 2008: Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages mahnt die mangelnde Verlässlichkeit Russlands an: „Mit dem Missbrauch von Energie als politischem Druckmittel mehrten sich Zweifel an der Zuverlässigkeit Russlands als Energielieferant .“
Russlands
Außenpolitik
August 2008: Der Konflikt um die offiziell zu Georgien gehörenden Regionen Abchasien und Südossetien eskaliert. Russland hat zuvor Soldat*innen dorthin verlegt. Daraufhin schickt Georgien Truppen in die Regionen. In einem fünftägigen Krieg nimmt Russland Teile Georgiens ein, bevor ein Waffenstillstand in Kraft tritt.
„Die größte Fehlannahme der Deutschen war die Überschätzung der Fähigkeit, die Interessen und Wahrnehmungen der russischen Führung nachhaltig beeinflussen zu können.“
Prof. Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler Universität Innsbruck, Schwerpunkt Sicherheitspolitik in Post-Sowjet-Staaten
„Viele Politiker wähnten sich dadurch sicher, dass Russlands Gasexportinfrastruktur mit Ausnahme einer Gasleitung nur nach Westen führt. Das Land kann also nahezu keine anderen Exportmärkte nutzen. Zudem ist Russland auf die Deviseneinnahmen aus dem Gasverkauf angewiesen. Daher hielten viele eine Lieferunterbrechung durch Russland für völlig unwahrscheinlich.“
Deutsche Russland-Politik
(insbesondere Nord Stream)
November 2011: Nord Stream I wird in Betrieb genommen.
September 2015: Die Verträge für eine weitere Erdgas-Pipeline zwischen Russland und Deutschland, Nord Stream II, werden unterschrieben. Die damalige Bundesregierung (Große Koalition) zeigt sich distanziert, aber wohlwollend: „Die beabsichtigte Erweiterung der Nord Stream-Pipeline ist ein unternehmerisches Projekt. Grundsätzlich ist der Bau neuer Infrastrukturen zu begrüßen.“
Russlands
Außenpolitik
November 2013: Russland setzt die ukrainische Regierung unter Präsident Janukowitsch unter Druck, eine Annäherung an die EU zu unterlassen und ein geplantes EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterschreiben.
Februar 2014: Als die pro-europäische Maidan-Revolution die Regierung Janukowitsch stürzt, führt Russland Militärübungen mit mehr als 150.000 Soldat*innen an der ukrainischen Grenze durch und schickt verdeckt Truppen auf die Krim.
März 2014: Russland annektiert die Krim. Das Parlament, die Duma, beschließt am 18. März, die Krim an die Russische Föderation anzugliedern.
April 2014: Von Russland unterstützte Separatist*innen übernehmen die Macht in zwei Bezirken (Donezk und Luhansk) in der Ostukraine.
Juli 2014: Pro-Russische Separatist*innen schießen ein Passagierflugzeug, Flug MH17 der Malaysia Airlines, über der Ostukraine ab. 298 Menschen sterben. Das Raketensystem stammt nach Erkenntnissen einer internationalen Gruppe von Ermittler*innen aus Russland.
Februar 2015: Russland, die Ukraine, Deutschland und Frankreich handeln das Minsker Abkommen aus, mit dem sie den Krieg in der Ostukraine stoppen wollen. Die Konfliktparteien setzen die darin vereinbarten Schritte jedoch nie vollumfänglich um.
Prof. Gerhard Mangott: „Politik und Industrie waren sich einig, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch billiges und scheinbar verlässliches Gas aus Russland zu stärken. Zum anderen dominierte bei vielen Politikern die Idee, durch starke wirtschaftliche Verflechtung mit Russland könne auch eine Annäherung zwischen Deutschland und Russland befördert werden.“
Deutsche Russland-Politik
(insbesondere Nord Stream)
September 2015: Der deutsche Chemiekonzern BASF verkauft den größten deutschen Gasspeicher in Rehden an den Gazprom-Tochterkonzern Astora. Im Gegenzug erhält BASF Anteile an sibirischen Erdgasfeldern.
Russlands
Außenpolitik
September 2015: Russland fliegt erste Luftangriffe gegen den sogenannten Islamischen Staat und syrische Oppositionsgruppen. Laut Amnesty International unterstützt das russische Militär das syrische Assad-Regime bei Kriegsverbrechen, beispielsweise bei der Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern.
„Die Politik hat mehr Schuld als die Privatunternehmen. Politik ist nämlich nicht gezwungen, den Handlungslogiken von Unternehmen zu folgen. Sie hat eine davon bis zu einem gewissen Grad unabhängige Gestaltungsmacht und Verantwortung für den gesamten Staat.“
Prof. Gerhard Mangott
Deutsche Russland-Politik
(insbesondere Nord Stream)
2020: Die Erdgasimporte aus Russland nehmen weiter zu. 55 Prozent der deutschen Gasimporte stammen 2020 aus Russland.
Februar 2022: Das Genehmigungsverfahren für Nord Stream II wird gestoppt, nachdem Russland die Separatist*innen-Gebiete im Osten der Ukraine als unabhängige Republiken anerkennt. Am 24. Februar marschieren russische Truppen in die Ukraine ein.
Russlands
Außenpolitik
März 2018: Sergei Skripal und seine Tochter werden im englischen Salisbury mit dem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet. Der ehemalige russische Agent Skripal war auch Informant für den britischen Geheimdienst MI6.
August 2019: Der russische Geheimdienstmitarbeiter Wadim Nikolajewitsch Krassikow erschießt Selimchan Changoschwili in Berlin. Der Fall wird als Tiergarten-Mord bekannt. Changoschwili hatte als Teil einer tschetschenischen Miliz gegen Russland gekämpft und wurde vom Regime in Moskau als Terrorist eingestuft. Der Täter wird im Dezember 2021 zu lebenslanger Haft verurteilt. Generalbundesanwalt Peter Frank macht die russische Regierung für den Auftragsmord verantwortlich .
August 2020: Der Oppositions-Politiker und Blogger Alexei Nawalny wird, laut einem Bundeswehr-Labor, mit einem Gift aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet. Ein Recherchenetzwerk aus den Medien Bellingcat, The Insider, CNN und Der Spiegel veröffentlicht im Dezember 2020 Rechercheergebnisse, die nahelegen, dass der russische Inlandsgeheimdienst FSB für den Anschlag auf Nawalny verantwortlich ist. Präsident Putin streitet hingegen ab, dass russische Geheimdienste an dem Giftanschlag beteiligt waren. Ansonsten „hätten sie es zu Ende gebracht“, so Putin.
Beitragsbild: Wilfried Pohnke/Pixabay