Die Menschen, die nebenan wohnen, hat man sich in den meisten Fällen nicht selbst ausgesucht. Der vorläufige gemeinsame Nenner: Das gleiche Haus, die gleiche Straße. Der Wunsch nach mehr ist aber vorhanden: Laut einer Bevölkerungsbefragung von TNS Emnid möchte jede:r Fünfte mehr Kontakte innerhalb der Nachbarschaft knüpfen. Hier sind es insbesondere Jugendliche und jungen Erwachsene, die diesen Wunsch häufiger äußern.
Seit 2018 gibt es im Osten der Dortmunder Innenstadt das „Kaisern“. Als ein Projektraum für die Nachbarschaft ist hier jede:r mit den eigenen Ideen willkommen. Einzige Voraussetzung: Das Angebot muss der Nachbarschaft zur Verfügung stehen. Vom 20-Quadratmeter-Raum auf der Kaiserstraße ist die neunköpfige Kerngruppe Mieter. Die Idee entstand 2015, als mit der Ankunft der ersten Geflüchteten im Viertel, die Bewohner:innen unsicher und ängstlich reagierten. „Ich habe gedacht, dass ein Kommunikationsraum das Allerbeste ist, um die Leute zusammenzuführen. Wer sich kennt, der ist nicht so misstrauisch gegenüber dem anderen. Das war der ausschlaggebende Moment; dass verschiedene Leute unterschiedlicher Couleur, die sich sonst nicht im Leben begegnen, die Chance haben, sich in diesem Raum zu treffen“, fasst Birgit Mattern vom “Kaisern” zusammen.
Ein Großstadtphänomen
Gerade in den von Anonymität geprägten Großstädten siedeln sich vermehrt Initiativen an, die einen Gegenpol zum städtischen Leben bieten wollen. So vielfältig der städtische Raum, so vielfältig sind auch die Initiativen. Es beginnt bei kleineren Interaktionen: Bücherboxen am Straßenrand, Tauschschränke auf Bürgersteigen. Daneben schließen sich Menschen zusammen, die in größeren gemeinschaftlichen Projekten, Wissen beim gemeinsamen Gärtnern oder beim Tüfteln in Nachbarschaftswerkstätten austauschen.
Wer von einer Nachbarschaftsinitative spricht, meint das Engagement Einzelner, die sich für eine Verbesserung ihres Lebensumfelds einsetzen. Die Angebote sind öffentlich zugänglich, aber abseits von Institutionen organisiert. Alle stellen sich – ob bewusst oder unbewusst – die gleiche Frage: Wer hat das Recht auf Bestimmung und Verfügung von unterschiedlichen urbanen, gemeinschaftlichen, öffentlichen oder privatisierten Ressourcen? Ressource, das kann der Bürgersteig vor dem Haus sein, bis hin zur ganzen Stadt. Im Fall vom „Kaisern“ ist es ein Raum, der zu Begegnungen einladen soll.
Die Einladung zur Begegnung wird aber nicht von allen angenommen. Birgit Mattern bemerkt, dass die Gruppe des „Kaisern“ unter sich bleibt: „Wir hätten es gerne, dass Leute aus allen Altersgruppen und Schichten bei uns vorbeischauen. Es ist immer so, dass Leute mal bei uns reingucken, aber dann auch wieder wegbleiben, wenn sie uns nicht als ihre Peer-Group wahrnehmen.“ Das „Kaisern“ schaut von Jahr zu Jahr aufs Neue, wie der Rücklauf aus dem Viertel ist und ob der Projektraum bestehen bleibt. Bis jetzt entschied sich die Gruppe für die Weiterführung.
Alle an Bord? Sichtbarkeit in Nachbarschaftsinitiativen
Dr. Carolin Genz forscht als Seniorwissenschaftlerin für Stadtforschung beim vhw, dem Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung. Der Verband setzt sich in seiner Forschung das Ziel, „Antworten auf die zentralen Zukunftsfragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in vielfältiger werdenden Städten und Quartieren“ zu finden. Dabei stellt sich auch bei scheinbar offenen und für die Nachbarschaft konzipierten Angeboten die Frage: Wer hat überhaupt die Ressourcen, sich zu beteiligen und wer ist in den Projekten sichtbar?
Carolin Genz weiß, dass es sie gibt: Die divers aufgestellten Initiativen, in denen gemeinschaftlich angepackt wird. Die Frage nach einer besseren Zugänglichkeit ist für sie damit aber noch nicht vom Tisch. „Sobald ich eine gewisse Reflektion über meine eigene Positionalität entwickle, wäre es ein erster Schritt, darüber nachzudenken, welche Schritte wir denn weitergehen können, um diese Menschen einzubinden, die nicht sichtbar sind.“
Danach komme es vor allem auf positive Erfahrungen der Teilhabe und das Teilen gemeinschaftlicher Erlebnisse an. Je mehr davon, desto besser für das Wachstum von Initiativen. Sie können zu einem Gewicht in Stadtplanungsprozessen werden und sich als „kleine Brückenbauer“, so Genz, zwischen Nachbarschaft und politischen Entscheidungsträger:innen positionieren.
Beitragsbild: Michal Matlon