Feiertage im Zeichen des Krieges: Ein Tagebuch aus der Ukraine

 

Die Gräber der Soldaten werden mit Tannenbäumen geschmückt. (Fotos: Lisa Böttcher)

Inmitten der Allgegenwärtigkeit des Krieges stehen in der Ukraine die Feiertage bevor. Begleitet von Sirenenlärm und während Stromausfälle für Kälte und Dunkelheit sorgen, schlagen sich die Menschen in den Ukrainischen Städten durch den Alltag und den alljährlichen Festtagsstress. Sie haben keine Alternative. “Weitermachen”, lautet das Motto dieser Tage. Aber kann man dem Krieg so einfach ausweichen oder holt er einen letztendlich doch wieder ein? 

Ich bin Lisa, ich bin 22 Jahre alt und die Familie meiner Mutter stammt aus der Ukraine. Ich habe sie dieses Jahr an Weihnachten besucht und meine Gedanken und Erlebnisse festgehalten. In der Ukraine feiert man Weihnachten vom 06. bis zum 09. Januar. Kurz vor Neujahr sind meine Mutter und ich in die Ukraine gereist. Am Grenzübergang Medyka-Schehyni nimmt diese Geschichte ihren Anfang.

Der erste Tag

31.12.2022 18:00 Uhr

Kurz hinter der Grenze versichert einem dieses Schild,  auf ukrainischem Boden zu sein.

In dem Moment, in dem wir unsere Füße auf ukrainischen Boden setzen, heulen die Sirenen los. Ein beunruhigendes Geräusch, vor allem in der abendlichen Stille, die am Grenzübergang Medyka-Schehyni herrscht. Nur wenige Stunden vor Neujahr ist die Grenze wie leergefegt. Ein seltener Anblick. Vor dem Krieg waren die Schlangen an dieser Stelle einige Kilometer lang. Als ich meine Familie in der Ukraine das Jahr zuvor besucht habe, sind wir mit dem Flugzeug geflogen. Ein Direktflug von anderthalb Stunden. Damals dachte ich nicht, dass mein Weg nach Hause einmal so beschwerlich würde. Mit dem Flugzeug nach Kattowitz, von dort aus weiter mit dem Bus nach Medyka. Dann zu Fuß über die Grenze und per Anhalter nach Lviv. Zwölf Stunden und zwei Tabletten gegen Reiseübelkeit später stehe ich vor dem Haus, in dem ich den Großteil meiner Kindheit verbracht habe. Es steht noch, dafür bin ich dankbar. Der Abend ist mild, in unserer Straße gibt es heute ausnahmsweise Strom. Nur der Himmel ist so dunkel wie nie zuvor. Nicht einmal der Mond und die Sterne wollen hinter den dichten Wolken hervorschauen.  Heute erwarten wir keine Silvesterraketen. Hoffentlich bleiben uns auch andere Raketen erspart.

31.12.2022 20:00 Uhr

Im Haus ist es warm. Das alte Heizungssystem funktioniert ohne Strom. Für alle Fälle liegen mannshohe Stapel von Holzscheiten im Schuppen hinter dem Haus bereit, um den alten Ofen im Wohnzimmer beheizen zu können. Während die Familie das Neujahrsessen zubereitet und den Tisch deckt, packen wir unsere Koffer aus. Wir haben Geschenke mitgebracht. Neben Süßigkeiten und Spielzeug für meinem zweijährigen Großcousin sind das in diesem Jahr vor allem Kerzen, akkubetriebene Campingleuchten und Skiunterwäsche. Wir wissen nicht, wie kalt der Winter wird und wissen nicht, wie lang die Stromausfälle werden. Strom wird den Haushalten im Schichtsystem zur Verfügung gestellt. Ein weiterer Angriff auf kritische Infrastruktur könnte das Land allerdings für Tage vom Netz nehmen. Und Tageslicht ist im kalten und dunklen ukrainischen Winter rar gesät.

Wir verstauen unsere Kleidung, machen die Betten, stellen die Kulturbeutel ins Bad. Es ist wie immer, bis meine Großmutter uns rät, noch schnell zu duschen. Denn sobald der Strom weg ist, gibt es auch kein fließendes Wasser mehr.  Ich dusche also – möglichst kurz, Gas ist teuer. Das Handtuch, was ich benutze, ist dasselbe wie immer. Ein rosafarbenenes mit rotem Blumenornament. Kuschelweich. Seit 20 Jahren ist dieses Handtuch mein Handtuch und wenn ich nicht da bin, liegt es im Schrank und wartet auf mich.

31.12.2022 22:00 Uhr

Ich merke, wie die Anspannung von mir abfällt, auch wenn ich nicht vergesse, dass ich in einem Kriegsgebiet bin. Ich weiß, dass die Ukraine momentan als eines der gefährlichsten Länder der Welt gilt. Jeden Moment kann eine Rakete in unser altes Haus fliegen und ich bei dem Einschlag ums Leben kommen. Ich verdränge den Gedanken. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu Hause zu fühlen. Ich kenne alles hier. Ich kenne die Höhen aller Türschwellen. Ich wundere mich immer wieder, dass der Lichtschalter für den Dachboden im Bad ist. Ich weiß, dass der Zündmechanismus der hinteren zwei Herdplatten nicht funktioniert und man deshalb mit einem Streichholz nachhelfen muss. Ich kenne den Geruch des Hauses, ich weiß welche Sprungfeder im Schlafsofa mich heute Nacht in den Rücken pieken wird. Ich kenne die Teller, von denen wir essen, das Silberbesteck habe ich schon unzählige Male entstaubt, eingedeckt und wieder abgespült. Dieses Haus ist mein Zuhause. An diesem Gefühl ändert auch der Krieg nichts. Wenn meine Familie es schafft, seit beinahe einem Jahr hier auszuharren, dann kann ich das auch.

Die Rede

31.12.2022 23:40 Uhr

Das Abendessen liegt mir schwer im Magen. Satt bin ich schon nach wenigen Bissen, doch der Feiertagsgeist treibt es rein. Bald ist Neujahr, also hole ich den Sekt, den meine Mutter und ich aus Deutschland mitgebracht haben – für den Fall, dass wir Silvester an der Grenze hätten feiern müssen. Wir haben nicht genug Sektgläser für alle, aber Weingläser tun es auch. Gleich kommt die Rede des Präsidenten. Das ganze Land wartet auf diesen Moment, hofft auf warme Worte und neue Motivation. Die Rede wird auf allen Programmen übertragen. Bis es so weit ist, sitzen wir etwas verloren am Tisch. Eine Konversation will sich nicht einstellen. Wir denken an diejenigen, die dieses Silvester in einer fremden Stadt oder einem fremden Land und ohne ihre Lieben feiern müssen. 17 Minuten vor Mitternacht erscheint ein Banner in ukrainischen Nationalfarben auf dem alten, kleinen Röhrenfernseher in der Küche meiner Großmutter. Es folgt das Antlitz des Präsidenten, ernst und von den letzten Monaten gezeichnet. Das Grauen und der Stress haben sein Gesicht vernarbt wie Schrapnelle. Aber seine Worte sind klar und überlegt. Jeder von uns weint. Die Rede eröffnet uns eine Wahrheit, die wir alle kennen aber aus Trotz und Wut und Angst nicht aussprechen können. Dieser Krieg hat jedem von uns das Leben genommen. Auch wenn unsere Herzen noch schlagen.

Nach der Rede kommt eine kurze, unerträgliche Stille. Jeder weint leise für sich. Und dann erklingt die Hymne. Also stehen wir alle auf und singen. Selbst meine Großmutter, obwohl ihre Beine sie nicht mehr so gut tragen. In meiner Erinnerung ist es das erste Mal, dass wir so dastehen und die Hymne singen. Ich stelle mir vor, dass alle Ukrainer*innen, wo auch immer sie gerade sein mögen, in diesen Minuten unisono singen. Ein großer Chor, der die Weltkugel umspannt wie ein Netz aus Musik und Worten. In diesem Moment weiß ich, dass unser Zusammenhalt unsere größte Stärke ist. Am lautesten ist der Chor wohl an der Front. In den nassen, kalten Gräben. Wenn die restliche Welt in diesen Minuten die Luft angehalten würde, könnte man die ukrainischen Soldaten bestimmt in jedem Winkel dieser Erde hören.

Aber die Welt dreht sich weiter. Das wird mir bewusst, als mich dutzende Neujahrsgrüße aus verschiedenen WhatsApp Gruppen erreichen. Ich ignoriere sie. Für mich gibt es heute Nacht nichts zu feiern. Eine Stunde nach Mitternacht liege ich im Bett und versuche zu schlafen. Die Sprungfeder bohrt sich in meinen Rücken. Mir graut es, wenn ich daran denke, dass Menschen in Deutschland und vielen anderen Ländern heute zum Vergnügen tausende Raketen in die Luft schießen. Hier ist der Abend ruhig verlaufen. Sollte sich das heute Nacht ändern, könnte es das letzte sein, was ich höre. Mit diesem Gedanken schlafe ich ein.

Die Nachrichten

02.01.2023 08:00 Uhr

Der Morgen beginnt mit den Nachrichten. So wie jeder Morgen seit dem 24. Februar. Die Themen heute sind ein paar Idioten, die in Kyiv Feuerwerkskörper gezündet haben und Christine Lambrecht. Die Neujahrsrede der Verteidigungsministerin ist auch in der Ukraine nicht unbemerkt geblieben. Eher neutral als betroffen wird über das umstrittene Video von Lambrechts privatem Instagram-Account und die dazugehörige Kritikwelle berichtet. Dann folgt der tägliche Nachrichtenmarathon.

Die Routine des Fernsehens hat sich seit Kriegsbeginn sehr stark verändert. Aus einer Freizeitbeschäftigung wurde eine Unumgänglichkeit. In den ersten Wochen kam die Nachrichtensucht. Die Zeit der Dauernachrichtensendungen. Auch in Deutschland berichteten die großen Medienhäuser nonstop. Erst noch live vor Ort, später eher aus der Ferne. Die großen ukrainischen Medien schlossen sich schnell zusammen. Freizeitprogramm, so wie Serien oder Filme, wurde größtenteils verbannt. Genauso wie Werbung. Nur Medikamentenwerbung wird noch in kurzen Sendepausen gezeigt. In einem Land ohne flächendeckende Krankenversicherung ist die Pharmazie einer der größten Wirtschaftszweige und somit auch ein lukrativer TV-Werbepartner. Russische oder russlandaffine Medien wurden zügig vom ukrainischen TV-Markt gestrichen. Die restlichen arbeiteten gerade in der Anfangszeit des Krieges eng zusammen.

Die Nachrichten sind der Dreh und Angelpunkt eines jeden Tages. Sie sind für viele der einzige Weg zu erfahren, wie es Angehörigen an der Front geht. Welche für tot gehaltenen Soldaten plötzlich lebend in russischer Kriegsgefangenschaft aufgetaucht sind. Gerade die Bevölkerung im Westen des Landes oder die Ukrainer*innen im Ausland sind auf die Medien angewiesen. Was gibt es Neues von der Front? Welche Hilfe darf man aus dem Westen erwarten? Mit welchen Angriffen und neuen Gefahren muss man rechnen? Bei Luftalarm wird man von den Nachrichtensprecher*innen dazu aufgefordert Ruhe zu bewahren und sich in den nächsten Luftschutzbunker zu begeben. Wir haben keinen, also bleiben wir sitzen. Wie die Nachrichtensprecher*innen auch. Aus den einst neutral gekleideten Profijournalist*innen mit Pokerface und Vorlesestimme sind einfach Menschen geworden, die manchmal mehr wissen als wir. Heute tragen sie ukrainische traditionelle Kleidung, verlieren auch mal ein spitzes Wort in Richtung Russland und freuen sich oder trauern offen mit – je nachdem welche Nachrichten sie überbringen. Passiert etwas  Schlimmes, wird schnell ein Studio improvisiert. Meistens zwischen Trümmern, oft mit Beschuss im Hintergrund.

Ohne Strom

02.01.2023 11:00 Uhr

Die Äpfel kommen aus eigenem Anbau.

Wir geben uns der beruhigenden Dauerbeschallung hin, solange es möglich ist. Irgendwann im Laufe des Vormittags wird der Fernseher plötzlich verstummen. Wenn der Strom weg ist, ist man abgeschnitten von dem, was dort draußen passiert. Blackout. Das WLAN ist weg und der Handyempfang reicht gerade noch, um eine SMS zu verschicken. Ein richtiges Telefongespräch ist aber kaum möglich. Eine beängstigende Vorstellung. Einzig der Luftalarm warnt uns dann noch vor näher kommenden Raketen. Was im Rest des Landes passiert, erfahren wir nur im Nachhinein.

Wenn es hier soweit ist, werde ich in den Schuppen gehen und Äpfel sortieren. Die faulen müssen auf den Kompost, damit die anderen länger frisch bleiben. Drei Kisten Äpfel dauern etwa anderthalb Stunden. Eine Aufgabe, die man gut mit Kopflampe erledigen kann. Solange es keine neuen großen Raketenangriffe auf die Energieinfrastruktur gibt, wird der Strom nach Zeitplan ausgeschaltet. Heute stören mich die Ausfälle nicht. Es ist sonnig und für Anfang Januar erschreckend warm. Ich schnappe mir einige Kilogramm guter Äpfel und meinen zweijährigen Großcousin. Wir verbringen Stunden damit, die Äpfel mit frischem Brunnenwasser zu waschen. Davon bekommen wir eisige Finger, werden nass und müssen uns umziehen. Dann werden die Äpfel geschält, geschnitten und von braunen Stellen befreit. Daraus wird später ein Apfelkuchen. Zwischendurch kriegen wir Besuch von den Hühnern, die aus dem Gehege entkommen. Ich frage mich, ob ich den Vormittag ohne Stromausfall genauso genossen hätte.

02.01.2023 17:00 Uhr

Bei Stromausfall wird unter dem Licht einer Campingleuchte gekocht.

Der Nachmittag ist dunkel. Am Abend wünsche ich mir zumindest im Haus etwas Licht. Lichtverschmutzung gibt es kaum, obwohl wir in einer Stadt leben, die vor kurzem aufgrund der Fluchtwelle vermutlich die Millionen-Einwohner-Grenze überschritten hat. Nur die Nachbarn von Gegenüber scheinen einen Stromerzeuger zu haben. Ein schwaches Licht scheint durch die zugezogenen Vorhänge und das laute, gleichmäßige Hämmern des Generators hört man bis in unseren Garten. Wir geben uns mit Campingleuchten und Kerzen zufrieden. Es hat auch was Romantisches so beisammenzusitzen und zu essen. Die Handys liegen alle ungeachtet in der Ecke und schlummern im Stromsparmodus vor sich hin.

Abendessen bei Kerzenschein

 

Ich stelle mir vor, dass meine Familie vor 60 Jahren auch zusammengesessen und sich an einer Tasse Tee gewärmt, die mit der guten alten Teekanne auf dem Gasherd zubereitet wurde. Es ist ein friedlicher Abend. Bis wir Einschläge hören, ganz in der Nähe. Luftalarm hat es nicht gegeben. In Lviv hört man nicht so häufig Einschläge. Wir spähen durch die Vorhänge nach draußen. Man sieht keine Funken, kein Feuer, kein Rauch. Ich spüre, wie mein Herzschlag sich beschleunigt. Dann noch ein Einschlag. Ein lautes, dumpfes Wummern. Wir bleiben in der Küche sitzen, unsicher was wir jetzt machen sollen. Unsicher, was gleich passieren wird.

Dann – Entwarnung. Im Liveticker einer Telegramgruppe heißt es, auf einem Militärübungsplatz in der Nähe würden Übungen durchgeführt. Wie genau die aussehen, wissen wir nicht. Und selbst wenn, dürfte ich nicht darüber schreiben. Ich atme auf. Spüre, dass meine Schultern die gesamte Zeit angespannt waren und ich mit den Zähnen geknirscht habe. Es ist nicht ausgeschlossen, dass schon früher am Tag Übungen durchgeführt wurden. Im täglichen Rauschen des Alltags nehmen wir diese Geräusche gar nicht wahr.  Nur heute Abend hat sich eine ungewöhnliche Ruhe über unsere Straße gelegt. Nicht einmal die Hunde bellen.

03.01.2023 02:00 Uhr

Die Ruhe wird abrupt zerrissen, als mich ein lautes Dröhnen aus dem Bett holt. Ich springe auf, versuche das Geräusch zuzuordnen. „Flugzeug“ ist das erste, was mir durch den Kopf schießt. Aber das kann kaum sein. Hier fliegen seit zehn Monaten keine Flugzeuge mehr. Es sei denn, sie wollen Raketen abschießen. Ich versuche etwas am Himmel zu erkennen. Leuchten darf man nicht. Sollten das tatsächlich Bomber sein, macht man sich sonst zum Ziel. Kein Flugzeug zu sehen. Ich bin kurz davor, meine Mutter zu wecken als ich durch das Küchenfenster eine gleichmäßige Bewegung in der Ferne wahrnehme. Ein Zug. Ich atme auf. Ein voll beladener Güterzug fährt dort durch die Nacht und lässt die Wände vibrieren. Die Ladung muss schwer sein. Sehr schwer. „Panzer“ denke ich. Was sonst würden sie nachts in Richtung Osten fahren. Mein Herzschlag beruhigt sich und ich gehe wieder schlafen. Das Dröhnen hallt mir noch lange in den Ohren nach.

Realität eines Kindes

03.01.2023 15:00 Uhr

Mein Großcousin hat heute keine besonders gute Laune. Er ist weinerlich, hat keine Lust zu spielen. Also hören wir ein bisschen Musik. Ukrainische Volkslieder über Youtube. Recht schnell entdeckt er die dazugehörigen Videos und hat im Nu eine neue Lieblingsbeschäftigung. Ein Video hat es ihm besonders angetan. Ein Zusammenschnitt von Tik-Tok-Videos, auf denen Ukrainische Soldaten tanzen. Zu einem alten ukrainischen Volkslied.

Die nächsten Tage will er nichts anderes mehr sehen oder hören. Er ist besessen von diesem Video. Auch andere Versionen des gleichen Liedes können ihn nicht überzeugen. Ein Video, das Soldaten zeigt. Tanzend zwar, aber mit Waffen in den Händen. Es vor ihm geheim zu halten, ist sinnlos. Er kennt den Anblick von bewaffneten Soldaten. Sie stehen überall. Im Stadtzentrum und an den Zufahrtsstraßen. Sogar die Panzer, die täglich im Fernseher zu sehen sind, können ihn nicht schocken. Seine Mutter erzählt mir, dass sie letztens an einem mit Panzern und Panzerhaubitzen beladenen Zug vorbeigefahren seien. Es erkennt sie wieder. Er hat mit zweieinhalb Jahren bereits mehr aktives Kriegsgerät gesehen als ich mit 22. Es ist eine traurige Realität, in der er aufwächst.

Die diesjährige Tanne wird von einem Panzerigel geschmückt.

Die Stadt

04.01.2023 12:00 Uhr

Heute fahren wir in die Stadt. Die Fahrt mit dem Bus dauert etwa 20 Minuten. Normalerweise verwandelt sich Lviv zu Weihnachten in eine Märchenstadt. Weihnachtsmärkte, Straßenmusikant*innen, Beleuchtung überall. In diesem Jahr erinnert nur eine einfache Tanne vor dem Opernhaus an Weihnachten. Den Baum schmücken  ein paar weiße Lichterketten und ein beleuchteter Panzerigel an der Spitze. “Wie das Jahr, so auch der Weihnachtsbaum”, höre ich einen Passanten zynisch im Vorbeigehen sagen. Ansonsten ist die Stimmung gelassen. Menschen wuseln durch die Straßen, erledigen letzte Weihnachtseinkäufe. Die Cafés und Restaurants haben geöffnet und sind voller Menschen. Wir trinken einen Kaffee und schlendern durch die Altstadt. Luftalarm bleibt uns heute erspart. Aber der Krieg ist präsent. Bewaffnete Soldaten patrouillieren durch die Stadt. Überall hängen Schilder, die uns den Weg in den nächsten Luftschutzbunker weisen. Beim Betreten eines Cafés bekommt man eine kleine Einführung. Der Dialog klingt in etwa so:

 

A: Guten Tag, Wilkommen.

B: Hallo.

A: Bitte setzen sie sich. Der nächste Luftschutzbunker befindet sich unter dem Rathaus. Aus der Tür raus, rechts und dann auf die andere Straßenseite. Bei Luftalarm wird sie jemand herausbegleiten. Sie dürfen auch nach Hause gehen, aber wir empfehlen Ihnen Schutz zu suchen. Was möchten sie trinken?

B: Zwei Milchkaffee bitte.

A: Gerne. Ich muss Sie leider sofort abkassieren, da sie das Café im Ernstfall schnell verlassen müssen.

B: Natürlich, mit Karte bitte.

A: Dankeschön, Getränke kommen sofort.

 

Autos von der Front werden hier ausgestellt.

Auf einem großen Platz werden Fahrzeuge aus den Kriegsgebieten ausgestellt. Sie sind völlig zerstört und von Kugeln durchlöchert. Diese Autos wurden erst vor wenigen Wochen mit schwerem Geschütz beschossen. Drinnen saßen Menschen. Auf der Ladefläche eines Pick-Ups liegen noch die Überreste von kleinen Raketen. Vermutlich zur Panzerabwehr. An den Seitenspiegel hängen ukrainische Flaggen. Neben den Autos steht ein einsamer Tisch. Darauf liegen Brotkrumen und zerbeulte Metallschüsseln. Von dem Tisch hängt eine Decke herunter. Darauf steht in roten Buchstaben – wie mit Blut – das Wort „Kriegsgefangenschaft” geschrieben. Es ist ein Projekt von Angehörigen ukrainischer Soldaten, die noch in russischer Gefangenschaft sind und vermutlich Folter und Hunger ausgesetzt sind. Die Botschaft der Ausstellung ist klar: Vergesst sie nicht!

Verbarrikadierte Fenster am Gebäude der Gesellschaft für Denkmalschutz

 

Am meisten beunruhigt mich aber, dass die Stadt völlig verbarrikadiert ist. Die alten Fassaden der Häuser, Kirchenfenster und Statuen sind mit Blech verschlagen, in Käfigen eingeschlossen und werden mit Sandsäcken und Planen vor Schrapnellen und Druckwellen geschützt. “An dem Original werden wir uns nach dem Sieg erfreuen”, steht auf einer verhangenen Statue auf dem Marktplatz. Die ganze Lviver Altstadt ist Unsesco Weltkulturerbe. Zu groß wäre der Verlust.

 

 

 

Der Markt

04.01.2023 17:00 Uhr

Ein Marktstand mit traditionellen ukrainischen Strohpuppen, die “Motanki” heißen.

Auf dem Rückweg aus der Stadt kommen wir am Markt vorbei. Der Markt ist in Kriegszeiten zu einer Attraktion geworden. Das Freizeitangebot hat sich drastisch verringert. Orte der Begegnung wie Konzerte, Ausstellungen oder Lesungen sind selten geworden. Schule findet größtenteils online statt, Kirchen sind zu Zufluchtsorten geworden wenn sie nicht zerstört wurden. Die Märkte sind geblieben. Hierher kommt man, wenn einem langweilig ist. Stromausfall? Auf zum Markt. Wer es sich leisten kann, kauft einen Generator für seine Parzelle. Die einfachen Marktstände auf der Straße brauchen ohnehin keinen Strom. Die Waagen sind mechanisch, die Bezahlung erfolgt bar. Wo früher hektisch gedrängt wurde, wird jetzt gemütlich geguckt. Preise werden verglichen, man unterhält sich mit der alten Frau am Gemüsestand. Fragt nach, wie es ihr geht in diesen schweren Zeiten. Der Umgang miteinander ist sanfter als vor dem Krieg. Man teilt sich das Leid. Es gibt keinen Grund unfreundlich zu sein. Die Menschen, denen man zufällig auf der Straße begegnet, sind zur Familie geworden.

Weihnachten

06.01.2023 12:00 Uhr

Heute ist Heiligabend. An Heiligabend wird gefastet. Das ist besonders gemein, weil die ganzen Gerichte, die man nicht essen darf, schon vorbereitet wurden und im ganzen Haus verteilt stehen.

Der Didukh soll den Verstorbenen als Medium dienen.

Die hausgemachte Wurst, der gebackene Schinken und vor allem die Kuchen. Die machen es einem besonders schwer. Die gesamte Familie kommt heute zusammen. Es wird gewuselt und gekocht, gebacken, gelacht, der Tisch wird gedeckt. Geschenke gibt es in der Ukraine an Weihnachten nicht. Das Fest ist nicht so materiell, wie wir es in Deutschland kennen. Der christliche Gedanke hinter dem Weihnachtsfest hat sich gegen das Kommerzielle durchgesetzt. Es gibt keinen Weihnachtsmann, nur den Nikolaus. Dieser bringt höchstens Schokolade und ein bisschen Obst oder Nüsse. Um an die Geburt Jesu im Stall zu erinnern, holen wir etwas Stroh vom Dachboden, binden es in ein großes Tuch und legen es unter den Tisch. Das ist eine Jahrhunderte alte Tradition. Anstelle eines Weihnachtsbaumes steht ein „Diduch“ im Raum. Ein sogenannter „Großvatergeist“. Eine aus Weizenähren, getrockneten Blumen und Gräsern gebundene Statue, die auf drei Beinen steht. Der Diduch ist ein Relikt der ukrainischen Geschichte. Eine uralte Tradition, die in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit geraten ist. Er soll den Verstorbenen als Medium dienen und sie am Weihnachtsfest teilhaben lassen. In diesem Jahr scheint es eine besonders große Nachfrage zu geben. Auf den Märkten reihen sich Diduch-Verkäufer aneinander. Es gibt zu viele Verstorbene. Man möchte sie nicht vergessen, ihr Opfer anerkennen. Also besinnt man sich auf die alten Traditionen.

Die noch rohen Pampuchi müssen vor dem Frittieren etwas gehen.

 

Ein großer Teil des ukrainischen Weihnachtsfestes dreht sich um das Essen. Die wichtigste Speise von allen ist Kutia. Ein Brei aus gekochtem Weizen, Nüssen, Mohn, Rosinen und Honig. Kutia wird traditionell als erstes gegessen und steht symbolisch für den Wohlstand einer Familie. Mein persönliches Highlight sind die „Pampuchi“. Frittierte Bällchen aus süßem Hefeteig mit einer Füllung aus Kirschen oder Mohn. Sie fluten das ganze Haus mit einem köstlichen Duft und zergehen auf der Zunge, als wären sie aus Butter.

Omas Pampuchi-Rezept

Pampuchi sind frittierte, mit Kirschen oder Mohn gefüllte Bällchen aus süßem Hefeteig. Für eine Portion braucht ihr:

  • 50 Gramm frische Hefe
  • 150 Gramm Zucker
  • 1 Pck. Vanillezucker
  • 5 Hühnereigelb
  • 250 Milliliter Milch
  • 1 bis 2 Esslöffel Butter
  • Den Schalenabrieb einer Zitrone
  • 550 Gramm Weizenmehl (gesiebt)
  • Ein Glas eingelegte, leicht gezuckerte Kirschen oder eine Packung Mohnback
  • 400 Milliliter Öl zum Frittieren

Für den Teig mischt ihr fünf Esslöffel Mehl mit zwei Esslöffeln Zucker und gebt nach und nach die warme Milch unter ständigem Rühren hinzu. Schließlich bröselt ihr die Hefe in die Mischung, rührt sie glatt und lasst alles 30 Minuten zugedeckt an einem warmen Ort gehen.

In einer separaten Schüssel verrührt ihr die Eigelbe mit der zerlassen Butter, dem restlichen Zucker und dem Vanillezucker, bis die Masse schaumig wird. Wenn eure Hefemischung deutlich aufgegangen ist, könnt ihr das gesiebte Mehl und die Zitronenschale hinzufügen und nach und nach die Eiermasse untermischen. Den Teig müsst ihr anschließend mit den Händen oder den Knethaken eures Handrührgerätes etwa 15 Minuten lang kneten. Er ist fertig, wenn er sich einfach vom Schüsselrand und von euren Händen löst. Anschließend muss der Teig nochmals zugedeckt an einem warmen Ort eine Stunde lang gehen. Währenddessen könnt ihr die Kirschen abtropfen lassen und sie in einer Schüssel mit ein paar Teelöffeln Zucker vermischen oder euren Mohnback in einer Schüssel vorbereiten.

Hat sich euer Hefeteig wieder deutlich vergrößert, könnt ihr ihn auf einer bemehlten Arbeitsfläche weiter verarbeiten. Dafür schneidet ihr den Teig in 30 – 40 Gramm schwere Stücke, und formt diese zu kleinen Fladen. In die Mitte gebt ihr drei bis vier Kirschen oder einen Teelöffel Mohnback. Dann verschließt ihr den Teig über der Füllung, rollt das Teigstück zu einer Kugel und lasst die rohen Pampuchi mit der “Naht” nach unten nochmals 20 bis 30 Minuten gehen.

Schließlich müsst ihr die Teigbällchen von allen Seiten gleichmäßig in heißem Öl frittieren, bis sie goldbraun und knusprig sind. Wer will, kann sie anschließend noch in Puderzucker wälzen. Guten Appetit! Oder wie man auf Ukrainisch sagt: Смачного (Smatchnoho). 

 

 

06.01.2023 19:00 Uhr

Auch die Stromversorgung meint es heute gut mit uns. Aber weil Heiligabend und die Stimmung festlich ist, machen wir die Lichter freiwillig aus. Nur eine Lichterkette auf der Fensterbank spendet ein wenig Helligkeit. Der Tisch ist reich gedeckt, die Laune gut. Wir stoßen auf diejenigen an, die gerade nicht bei ihren Familien sein können, weil sie in russischer Besatzung oder in den Gräben an der Front ausharren müssen. Weihnachten ist das Fest der Besinnung, dieses Jahr besinnen wir uns auf unser Glück. Nach dem Essen singen wir. Anders als deutsche Weihnachtslieder handeln Ukrainische meistens von einer ganzen Geschichte. Zum Beispiel handeln sie von Marias und Josephs Suche nach einer Unterkunft oder von Engeln, die die Geburt Jesu verkünden. Diese Lieder sind uralt und jedes ukrainische Kind kennt sie. Wir brauchen keine Liederzettel. Jemand gibt den Ton vor und die anderen stimmen mit ein.

Das Lied “Nova Radist stala (Es ist eine neue Freude gekommen)” ist eines der ältesten und bekanntesten Weihnachtslieder in der Ukraine.

Die Ausgelassenheit täuscht. Insgeheim warte ich den gesamten Abend darauf, dass etwas passiert. Etwas, was uns Weihnachten kaputt machen soll. Den von Putin vorgeschlagenen Waffenstillstand nimmt hier niemand ernst. In den Ohren der Ukrainer*innen klingt das nach einer Falle. Sie sehen darin einen Grund, die Menschen aus der Reserve zu locken und zuzuschlagen, wenn sie es am wenigsten erwarten. So einfach geben die Leute ihre Vorsicht nicht auf. Alarmbereitschaft lässt sich nicht ausschalten. Jeder weiß zu jedem Zeitpunkt, wo sich die Pässe, Geburtsurkunden und das Bargeld befinden. So sehr wir dieses Weihnachten auch in den Rahmen der Normalität zwingen wollen – wir müssen uns eingestehen, dass wir heute kein Fest feiern. Wir überleben es nur.

07.01.2023 19:00 Uhr

Ich sollte Recht behalten. Trotz der angekündigten Waffenruhe wurden die Gebiete im Osten der Ukraine heute erneut beschossen. Auch in Wohngebieten soll es Raketeneinschläge gegeben haben. Ich stelle mir vor, wie einfache Familien, die so wie wir zum Weihnachtsfrühstück zusammensitzen, sich plötzlich in den Trümmern ihrer Wohnung wiederfinden. Die Vorstellung macht mich traurig und gleichzeitig wütend. Was soll ich tun? Ich fühle mich nutzlos. Aber meine Wut ist niemanden eine Hilfe.

Also machen wir uns wie der Rest der Stadt auf zu einem Weihnachtsspaziergang. Die Innenstadt platzt aus allen Nähten. Auf dem Marktplatz hat sich eine Menschentraube gebildet. Auf einem Balkon steht ein Straßenmusiker mit seiner Gitarre und spielt Weihnachtslieder. Nicht einmal Luftalarm hält die Straßenmusiker*innen davon ab. Menschen tanzen und singen mit. Ein alltägliches Bild in Lviv, der Kulturhauptstadt der Ukraine. Doch an diesem Abend ist das Publikum groß, die Stimmung einzigartig. Traurig und fröhlich zugleich singen wir die Hymne der Ukraine im Chor mit hunderten Fremden.

Ein bisschen schief aber gemeinschaftlich wird in der Stadt die Nationalhymne gesungen.

08.01.2023 12:00 Uhr

An diesem Tag ist noch ein anderes Geräusch in der Stadt zu hören. Es ist das Hämmern der Generatoren. An jeder Ecke versorgen sie Geschäfte, Cafés und Restaurants mit Strom. Manche sind so groß wie Container, andere tragbar. Das Wummern ist an manchen Stellen so laut, dass man sich selbst nicht mehr denken hört. Aber es stört niemanden. Meine Mutter hat eine eigene Meinung zu diesem Geräusch. Für sie ist es das Geräusch von Widerstand. „Die wollen, dass wir frieren und im Dunkeln sitzen“, sagt sie. „Nicht mit uns.“

Nachrichten von der Front

08.01.2023 21:00 Uhr

Heute Abend besuchen wir Schulfreunde meiner Mutter. Das Ehepaar hat zwei erwachsene Söhne, einer davon ist an vorderster Front. Ein Neffe an der Nulllinie in der Nähe der belarussischen Grenze.

Nulllinie
Auch Kontaktlinie oder Frontlinie genannt. Als Nulllinie bezeichnet man in Kriegsgebieten eine Region, an der feindliche Truppen aufeinander treffen. Dort muss jederzeit mit Beschuss gerechnet werden.

Von ihrem Neffen haben Serhiy und seine Frau Natalia immerhin ein Foto bekommen. Die Soldaten darauf sitzen im Halbkreis um einen Sofatisch und lächeln in die Kamera. Sie tragen Uniform und halten Pappteller auf dem Schoß. Die Fenster sind abgedunkelt. Es scheint ihnen gut zu gehen. Sie essen Borschtsch und Kutia. Die Leute in den Dörfern und die freiwilligen Helfer würden gut für die Soldaten sorgen. Manchmal sogar etwas zu gut. Serhiy erzählt von einem Gespräch mit seinem Neffen. Sie können schon kein Fleisch mehr sehen. Alle würden immer denken, Fleisch sei, was Soldaten essen müssen. Aber was wirklich fehlt, sind frisches Obst und Gemüse. Letztens erst hätten sie ein großes Stück Schweinenacken gegen einen Eimer Wurzelgemüse getauscht. Kein schlechter Deal für die örtliche Dorfbewohnerin.

Aber nicht alle Nachrichten sind so erfreulich. Vor nicht allzu langer Zeit waren Nataliya und Serhiy auf der Beerdigung eines ehemaligen Kameraden ihres Sohnes. Er sei nun der letzte noch Überlebende aus seiner alten Kompanie. Serhiy erinnert sich an die Verstorbenen. Viele kannte er noch als Kinder. Damals haben sie alle im Garten Fußball gespielt. Die Erinnerung nimmt ihn sichtlich mit. Serhiy ist ein Mann mit Statur, groß und bärtig. Als Kind hatte ich etwas Angst vor ihm. Jetzt weint er. Ein Bild, dass sich in meinem Kopf nur schwer zusammenfügt.

Die frischen Grö
Die frischen Gräber auf dem Ehrenfeld in Lviv

Der Friedhof

09.01.2023 10:00 Uhr

Die verstorbenen Soldaten, die aus Lviv kommen, werden auf dem Ehrenfeld des Lytschakiwski-Friedhof begraben. Dorthin gehen wir heute. Der Friedhof liegt nahe dem Stadtzentrum und dient seit 1787 der galizischen Intelligenzia, Mittel- und Oberschicht als letzte Ruhestätte. Für die gefallenen Soldaten aus dem ersten Ukrainekrieg 2014 und 2015 war noch innerhalb der dicken Friedhofsmauern Platz.

Mittlerweile hat man angefangen, außerhalb neue Grabfelder anzulegen. Ich gehe mit einem mulmigen Gefühl die Zufahrtsstraße hinauf. Ich weiß, dass mich die Zeit auf dem Friedhof mitnehmen wird. Die aktuellen Todesdaten, die vielen frischen Gräber, die weinenden Angehörigen. Was mich letztlich aus der Bahn wirft ist das Ausmaß des Grabfeldes, das sich plötzlich vor mir eröffnet. Gräber, Blumen und Flaggen soweit das Auge reicht. Wir gehen bedächtig durch die Reihen. Ich rechne etwa eine Reihe Todesopfer pro Woche. Manchmal sind es auch zwei. Die Todesdaten auf den frischesten Gräbern sind nur einige Tage alt. Einige der verstorbenen Soldaten haben Weihnachten nur um wenige Tage verpasst. Sie sollen noch ein letztes Mal feiern wie die Lebenden. Auf manchen Gräbern stehen kleine Tannenbäume. Auf anderen liegen ein Diduch und Pampuchi. Oder Kutia in einer kleinen Plastikschale. Über einem der Gräber hängt ein handgeschriebener Brief. Der Text lässt mich erschauern.

 

Schlaf, mein Lieber. Ruh dich aus von dem schweren Kampf.

Schlaf mein Lieber, schlafe ein,

ich bleibe bei dir stehen.

Was denn? – Dein Kopf schmerzt

von einer feindlichen Kugel.

Schlaf noch ein wenig, schlaf.

Du wirst ewig schlafen.

Der Schlaf heilt alle Wunden. Es war schwer für dich, ich weiß,

Tag und Nacht zu stehen.

Ruh dich jetzt aus, Held.

 

Es ist ein Gedicht, geschrieben zum Abschied. Vielleicht hat sich dort eine Mutter von ihrem Sohn verabschiedet. Eine Frau von ihrem Mann? Ein Kind von seinem Vater? Die Grabtafeln erzählen uns vom Schicksal des Verstorbenen, die Gräber vom Schicksal der Familie. Als wir uns auf den Heimweg machen, laufen wir an einer jungen Frau vorbei, die zusammengesunken auf einer Bank sitzt. Das Grab neben ihr wurde erst vor einigen Wochen geschlossen. Sie telefoniert mit jemandem. „Hab ein bisschen Geduld, mein Schatz“, höre sie noch sagen. „Mama bleibt noch ein bisschen bei Papa.“

Der Abschied

10.01.2023 15:00 Uhr

Wir stehen am Busbahnhof in Lviv. Gleich fahren wir zurück nach Deutschland. Die Busfahrt dauert mindestens 24 Stunden. Bis Polen zu fahren und weiter zu fliegen, ist zu unsicher. Wir wissen nicht, wie lange wir an der Grenze stehen werden. Der Abschied fällt mir schwer. Ich weiß, dass die Angst um meine Familie zurückkehrt, sobald ich zuhause bin. Ich weiß, dass der Kontakt sich wieder auf die Stunden beschränken wird, in denen die Stromversorgung stabil ist. Bei der letzten Umarmung geht mir unfreiwillig ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. „Vielleicht ist es die letzte Umarmung.“ Ich schüttele den Gedanken ab und behalte die Hoffnung. Wir winken, setzen uns in den Bus und werfen einen letzten Blick auf die Stadt.

März 2023

24.03.2023 13:17 Uhr

Drei Monate später packe ich wieder meine Koffer. Ostern steht vor der Tür. Ich vermisse meine Familie und nutze die Feiertage, um sie zu besuchen. Die Bustickets sind gebucht. Die letzten Monate sind wie im Flug vergangen. In Lviv ist es ruhig geblieben, nur die Lage an der Front hat sich verschärft. Serhiys Sohn und Neffe sind noch am Leben. Mittlerweile wurden Panzer geliefert und sogar Kampfjets versprochen. Für Vladimir Putin besteht ein internationaler Haftbefehl. Zuhause sei es leer geworden, nachdem wir weg waren, erzählt meine Großmutter. Nach Weihnachten wurde noch Epiphanias gefeiert, das Fest Johannes des Täufers. Wieder wurde gekocht, gegessen, gesungen. Und dann sei der Alltag eingekehrt. Wie auch bei mir in Deutschland. Seminare, Prüfungen, Arbeit. Mittlerweile bin ich Mitgründerin eines Vereins. Der Ukrainischen Frauenunion in Deutschland.

Es ist verrückt, wie schnell sich Normalität dort einstellt, wo keine ist. Das Weihnachtsfest in der Ukraine kam mir damals so normal und vertraut vor. Ich habe das Gefühl, mir selbst etwas vorgemacht zu haben. Ich habe mir diese Normalität bloß vorgegaukelt. So wie es die ukrainischen Eltern mit ihren Kindern machen, wenn sie einen Weihnachtsbaum mit Lichterketten schmücken, die sie ohne Strom ja doch nicht anschalten können. Aber jetzt erinnere ich mich an den Luftalarm, der zwischendurch aufgeheult ist und an die verbarrikadieren Häuser und die Checkpoints mit bewaffneten Soldaten an den Stadträndern. Während ich die Zeit Revue passieren lasse, wundere ich mich über meine gute Laune. Darüber, dass ich unbedarft einen Kaffee trinken konnte, nachdem ich mir zerschossene Autos angeschaut habe, in denen vermutlich Menschen gestorben sind.

Am 24.02.2023 war der erste Jahrestag dieses Krieges. Ich komme zu dem Schluss, dass nicht alles normal ist, weil man sich daran gewöhnt hat. Dieses Weihnachtsfest war anders. Das Osterfest wird es auch sein. Sowie der Sommer und auch die ersten Jahre nach Kriegsende. Bis alle Minen geräumt und die Städte wiederaufgebaut sind. Die Ukraine ist anders als früher. Die Menschen haben sich verändert, sie sind abgehärtet. Das alltägliche Leben hat sich gewandelt. Es gibt keine Tomaten in diesem Jahr. In der achtmonatigen Besetzung von Kherson konnte nichts angepflanzt, das Salz aus den Salzminen in Soledar nicht abgebaut werden. Überall fehlt es an etwas. Nur der Kampfgeist der ukrainischen Bevölkerung ist unverändert. Eine Umfrage der ukrainischen NGO Sociological Group „Rating“ hat ergeben, dass 97 Prozent der Ukrainer*innen an einen Sieg glauben, bei dem die Grenzen von 1991 wiederhergestellt werden. Das sind aufmunternde Zahlen. Und wer weiß – vielleicht kann die diesjährige Kartoffelernte wieder unter friedlichem Himmel stattfinden.

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