Laufen, Lernen, Leiten – Junge Schiedsrichter*innen in der Ausbildung

Sie sind im Sport unverzichtbar – trotzdem gibt es immer weniger von ihnen. Ohne sie keine Siege, keine Niederlagen, kein Fußball. Schiedsrichter*innen gehören dazu wie Spieler*innen und Trainer*innen. Nachwuchs muss her – wie wird er ausgebildet?

Winterzeit in Gelsenkirchen. Ein regnerischer, trister Tag in der Ruhrgebietsstadt. Im Schatten der Veltins-Arena, dem Stadion des FC Schalke 04, erstreckt sich eine riesige Sportanlage, die dem Wetter gleichkommt: grau und trist. Ein Ascheplatz zum Malochen, ein Rasenplatz zum Kombinieren, ein Mini-Fußballfeld zum Zaubern und ein Hallenkomplex aus einer immensen Dreifachsporthalle und zwei kleineren Hallen für – ja, irgendwie für alles.

Ein weißes Schild zeigt mit einem Pfeil auf das Gebäude: „Gelsensport“, dahinter ein buntes „G“ in schnörkeliger Schrift. Moderne an einem eher unmodernen Ort. Die Eingangstür quietscht wie die trockenen Schuhe auf dem blitzsauberen Hallenboden, der dem Gebäude von außen nicht unbedingt zuzutrauen ist. Der Flur der Sportanlage tut sich dagegen schwer, zu glänzen, die besten Tage hat das Gebäude hinter sich.

Die Anfänge von etwas Großem

Auf der rechten Seite des weiß gestrichenen Flurs knallt eine Tür ins rostige Schloss. Dahinter sitzen sie, die zukünftigen Aytekins, Brychs und Gräfes. 20 Jungen und junge Männer haben den Weg in den Tagungsraum, wie er am Eingang angekündigt wird, gefunden. Für sie heißt es aktuell Pauken statt Bolzen, Zuhören statt Tricksen, Grundsätze verinnerlichen statt Tore bejubeln. Sie sind Teil des sogenannten Anwärterlehrgangs des Fußballkreises Gelsenkirchen und lassen sich hier, auf Schalke, zu Schiedsrichtern ausbilden.

Die Schultische im Tagungsraum sind wie in einem Klassenraum in einem U angeordnet. An der Wand neben der Tür hängt ein Plakat, das die ganze Wand einhüllt: „FIFA-Standort WM 2006“. Gelsenkirchen war dabei beim Sommermärchen, deutsche Schiedsrichter waren dabei. Hier ist man stolz darauf und gleichzeitig wirkt es wie ein Wink mit dem Zaunpfahl. Hier werden die Anfänge gemacht, vielleicht die Anfänge von etwas ganz Großem. An der Wand gegenüber hängt ein überdimensionaler Fernseher, auf dem eine Taktiktafel abgebildet ist. In der Ecke, neben dem Bildschirm, steht eine kleine Küchenzeile mit Getränken. Das war’s auch schon, viel mehr hat der Raum nicht zu bieten. Der Fokus soll auf dem liegen, was auf dem Bildschirm zu sehen ist.

Die Schule der Unparteiischen

Kai Bensberg nimmt schon zum zweiten Mal am Lehrgang teil. Foto: Kai Bensberg

Kai (26) und Bajat (29) blicken konzentriert nach vorne. Sie sind zwei der ältesten Teilnehmer des Lehrgangs. Kai ist bereits zum zweiten Mal dabei. Er war schon einmal Schiedsrichter, hat aber fünf Jahre pausiert und steigt jetzt wieder ein. Den Lehrgang muss er noch einmal absolvieren, zu viel hat sich in den vergangenen Jahren geändert. „Ich habe mich früher immer über die Schiris aufgeregt. Dann dachte ich, die Aufgabe als Schiedsrichter sollte ich vielleicht mal versuchen, um zu gucken, wie es wirklich ist“, erklärt Kai seine Beweggründe.

Auch Bajat wollte vor ein paar Jahren schon Schiedsrichter werden. Krankheit und Verletzungen kamen dazwischen, aktiv Fußballspielen könne er nicht mehr. „Dann habe ich gedacht: Du hast ja noch die Möglichkeit, Schiedsrichter zu werden, um dem Fußball treu zu bleiben“, sagt Bajat. Jetzt sitzen beide im Tagungsraum und versuchen, all den Input abzuspeichern. Sie haben sich Wasser und Snacks mitgebracht. Ein weiterer Abend mit viel neuem Stoff steht bevor. Ohne Nervennahrung geht’s nicht.

Die Anwärter sind in ihrem mehrwöchigen Lehrgang schon bei Fußballregel Nummer acht angekommen: „Beginn und Fortsetzung des Spiels“. Bevor es damit losgeht, verteilt Lehrwart Stefan Tendyck an die Anwärter DIN-A5-große Regelhefte. Darin können die angehenden Schiedsrichter alles nachlesen, was sie im Lehrgang besprechen. Die Hefte gleichen einem kurzen Roman, insgesamt 158 Seiten Regeln sind hier aufgeführt.

Unanfechtbare Entscheidungen

Bevor es mit Regel acht weitergeht, wiederholt der Lehrwart die vorigen Regeln. Jetzt ist es wirklich wie in der Schule. Tendyck stellt eine Frage und sofort gehen die Arme hoch. Erst, wenn die Anwärter die vollständig korrekte Antwort gefunden haben, geht es weiter. Was ein*e Schiedsrichter*in mache, hat Tendyck gefragt. „Vieles“ gilt nicht. Der Schiedsrichter entscheidet auch nicht das Spiel. Er „trifft Tatsachenentscheidungen, die Entscheidungen sind unanfechtbar“. Tendyck braucht 18 Minuten, um Regel fünf vollständig und richtig zu wiederholen. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Kreisschiedsrichterausschusses im Kreis Gelsenkirchen und leitet die Lehrgänge. Der Lehrwart erklärt jeden noch so kleinen Punkt, alles muss bei den Anwärtern sitzen.

In Gelsenkirchen, dem nach Mitgliederzahlen zweitstärksten Kreis im Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen (FLVW), finden solche Anwärterlehrgänge zweimal im Jahr statt, im Frühjahr und im Herbst. Jeder Lehrgang umfasst 20 Stunden, in denen Tendyck und seine Kolleg*innen die 17 Fußballregeln lehren. Neben sechs Schulungsterminen in der Woche gibt es eine Laufprüfung sowie den Theorietest am Ende, jeweils am Wochenende.

Erst, wenn sie all das absolviert haben, dürfen die Anwärter*innen ihre ersten Spiele pfeifen. Los geht es meistens in der Jugend, der Kreis Gelsenkirchen besetzt die D-Jugend als jüngste Jugend mit Schiedsrichter*innen. Dabei begleiten und unterstützen erfahrene Unparteiische die jungen Schiedsrichter*innen am Anfang. „Man will sie fordern, aber nicht überfordern“, erklärt Stefan Tendyck, „das heißt, die Anforderungen langsam erhöhen.“ Im Normalfall gehe es im Jugendbereich Schritt für Schritt, von der C- in die B-Jugend und so weiter. Aber: „Wir haben auch Leute, die mit 15 Jahren schon Herrenspiele pfeifen. Das ist allerdings die Ausnahme“, sagt Tendyck.

Hoffnungen auf Trend zur Europameisterschaft

Die formalen Anforderungen für Schiedsrichter*innen sind überschaubar. Mindestens zwölf Jahre alt müssen Anwärter*innen sein, ein Maximalalter gibt es nicht. Und sie müssen einem Verein angehören. Das kann auch erst passieren, nachdem sie den Lehrgang beendet haben.

Stefan Tendyck ist einer der Lehrwarte im Kreis Gelsenkirchen. Foto: Stefan Tendyck

Pro Jahr werden in Gelsenkirchen etwa 25 bis 35 neue Schiedsrichter*innen ausgebildet. 42 Anwärter und eine Anwärterin hatten sich für diesen Lehrgang angemeldet, 20 sind kurz vor der Theorieprüfung übriggeblieben. Allein 16 Teilnehmer haben die Laufprüfung nicht bestanden. „Das habe ich so noch nicht erlebt“, sagt Stefan Tendyck. Ansonsten sei die Quote normal. Anmeldungen seien stets genug vorhanden, erfolgreich absolvierte Lehrgänge aber zu wenig. Das Hauptproblem: In den Ausbildungslehrgängen werden derzeit immer nur so viele Schiedsrichter*innen ausgebildet, wie gleichzeitig Schiedsrichter*innen aufhören. „Wir schaffen es nicht, unsere Gesamtzahl nachhaltig zu steigern“, erklärt Tendyck.

Etwa 200 aktive Schiedsrichter*innen gebe es seit ein paar Jahren im Kreis Gelsenkirchen. Besonders kritisch während der Karriere seien die ersten zwei Jahre, denn dann gebe es eine „riesige Fluktuation“, sagt Tendyck. Zwar könne aktuell jedes Spiel im Kreis besetzt werden, einige Unparteiische müssten aber zwei oder sogar drei Spiele pro Woche pfeifen. „Es wäre natürlich schön, die ein bisschen zu entlasten, auch wenn sie es gerne machen.“

Heim-EM als Hoffnungsschimmer

Viel Hoffnung geben die langfristigen Statistiken zurzeit allerdings nicht. In der vergangenen Saison 2022/23 waren beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) 53.616 Schiedsrichter*innen gemeldet, in der Spielzeit 2020/21 sogar nur 49.734. Zwei Jahre zuvor, 2019, lag die Zahl bei fast 60.000 Schiedsrichter*innen in Deutschland, 2010 pfiffen gar noch knapp 78.500 Menschen deutsche Fußballspiele. Der Rückgang ist gewaltig. Die Heim-Europameisterschaft in diesem Jahr lässt laut Tendyck zumindest ein wenig hoffen, dass sich der leichte Aufwärtstrend zu einer langfristigen Entwicklung formt.

Die 20 verbliebenen Anwärter können ein kleiner Teil dieses Trends sein. Dafür sitzen sie auch eine Woche später wieder im „Gelsensport“-Tagungsraum. Es ist die letzte Schulungssitzung vor der Prüfung – neue Regeln kommen nicht mehr vor, nur noch am Feinschliff sollen sie arbeiten. Als „Hausaufgabe“ hatten die Anwärter einen Übungstest, den einer der drei Lehrwarte korrigiert, einen weiteren Übungstest schreiben die Anwärter hier vor Ort.

Die Präsentation auf dem Bildschirm ist in einem schrillen Blau gehalten. Nicht schön, aber wirkungsvoll – heute muss jeder hellwach sein. Die Lehrwarte zeigen Videos von Profispielen, da, wo alle hinwollen. Die Regeln sind dieselben. Auch heute werfen die Lehrwarte wieder Fragen in den Raum, die Mitmach-Quote scheint noch höher zu sein. Alle wollen zeigen, was sie wissen. Drei Fragen im ersten Übungstest bereiten noch Probleme. Daher besprechen die Lehrwarte sie sehr detailliert. Ansonsten sei der Test aus ihrer Sicht zufriedenstellend ausgefallen. Kai scheint zufrieden, die Erfahrung zahlt sich aus. Bajat dagegen weniger. „Der erste Test ist nicht so ausgegangen wie erhofft“, gibt er zu. Mit Zornesfalte sehen er und die anderen Teilnehmer auf ihre Tests. Nur noch zwei Tage, dann steht die Prüfung an. Dann muss alles sitzen, wenn sie selbst auf den Rasen möchten.

Zunahme von Gewalt nach der Pandemie

Ein Zuckerschlecken ist die Ausbildung nicht. Die Anwärter haben lange Tage hinter sich. Um 19.25 Uhr simulieren die Lehrwarte an diesem Abend mit ihnen die Theorieprüfung. Jeder bekommt einen Stift, zwei Blätter und 30 Minuten Zeit. Die Lehrwarte und der ebenfalls anwesende Vorsitzende des Gelsenkirchener Kreisschiedsrichterausschusses tigern durch den Raum und beobachten die Anwärter wie bei einer Klassenarbeit. Verständnisfragen beantworten sie, den Rest müssen die Anwärter allein schaffen. Wie später auf dem Feld gilt laut den Lehrwarten auch im Tagungsraum: „Die Entscheidung musst du selber treffen.“

Auch wegen solcher scheinbaren Kleinigkeiten wird Kai am Ende des Lehrgangs sagen: „Auf jeden Fall fühle ich mich gut vorbereitet.“ Die Praxis können sie hier nicht lernen, im alten Tagungsraum, auf Schulstühlen und an bemalten Tischen, ein paar Grundsätze aber sehr wohl. „Ich bin gespannt. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt“, blickt Bajat etwas vorsichtiger, wenngleich nicht weniger motiviert, in die Zukunft. Auf Sportplätzen kann viel passieren, das hat die Vergangenheit gezeigt.

Gerade für Schiedsrichter*innen kann ein Spiel hitzig werden. In der Saison 2021/22, der ersten vollständigen seit der Corona-Pandemie, wurden in Deutschland laut dem Deutschen Fußballbund (DFB) 911 Fußballspiele aufgrund von Gewalt- oder Diskriminierungsvorfällen abgebrochen. Der Höchststand, seitdem der DFB seit 2014 solche Daten erfasst. Insgesamt gab es in der genannten Spielzeit weit mehr als 5.500 Vorfälle, in knapp 2.400 Fällen war der*die Schiedsrichter*in der*die Geschädigte.

Zwischenfälle gehören dazu

Zudem sind die Schiedsrichter*innen in den meisten Fällen diejenigen, die verantwortlich gemacht werden. Der DFB beziffert die Anzahl der Spiele, in denen vermeintliche Fehlentscheidungen von Schiedsrichter*innen die Auslöser für Konflikte waren, auf 30 Prozent. Auch deswegen sind die ersten zwei Jahre der Schiedsrichter-Laufbahn die kritischsten. „Wenn da einer mit 13, 14 Jahren alleine auf dem Platz steht und plötzlich von Eltern oder Trainern angeschrien wird, dann hat er natürlich noch nicht das dicke Fell, um das auszuhalten“, stellt Stefan Tendyck klar.

Neben immer größeren Freizeitmöglichkeiten, die junge Menschen aus Tendycks Sicht bevorzugen würden, und dem Aspekt des zeitlichen Aufwands sieht der Lehrwart vor allem den Umgang auf den Fußballplätzen als einen Grund für ein teils schnelles Ende der Schiedsrichter-Laufbahnen. In den Lehrgängen bleibe keine Zeit, die Anwärter*innen auf mögliche Gefahren dieser Art vorzubereiten. Die Kreise und der Verband bieten daher drei weitere Schulungen pro Monat an, in denen auch Gewalt und Gewaltprävention Thema sind. Der Besuch einer Schulung pro Monat ist für die Schiedsrichter*innen nach der abgeschlossenen Ausbildung verpflichtend.

Bajat Omeirat will dem Fußball als Schiedsrichter treu bleiben. Foto: Linus Wieprecht

Tendyck sieht das Problem aber eher in der Gesellschaft: „Auf dem Fußballplatz setzt sich das durch, weil da sämtliche gesellschaftliche Schichten vertreten sind.“ Alleine lösen könne der Fußball das nicht, Tendyck nimmt aber die Vereine in die Pflicht: „Man kann mit wenig Aufwand schon viel erreichen, dass die Schiris sich wohlfühlen.“ Eine Person zu stellen, die den*die Schiedsrichter*in in Empfang nimmt und die Sportanlage zeigt, dürfe beispielsweise kein Problem sein. „Es muss in die Köpfe der Vereine gehen: Ein Fußballspiel funktioniert nur mit Schiedsrichtern.“

„Die beste Entscheidung meines Lebens“

Und die machen sich über ihr Standing auf dem Platz kaum Sorgen. „Ich denke gar nicht darüber nach, wenn ich zu einem Spiel fahre“, sagt Bajat. „Ich will mit den Leuten ruhig umgehen und im Zweifelsfall nicht noch weiter provozieren.“ Kai stimmt ihm zu: „Es ist wichtig, dass wir die Ruhe bewahren und den Leuten nicht selbst aggressiv entgegenkommen. Wir müssen auf Augenhöhe und menschlich bleiben.“

Mittlerweile ist es 20.30 Uhr. Die Anwärter sind noch einmal alle 17 Regeln Schritt für Schritt durchgegangen. „Ich träum davon“, murmelt Bajat. Keine 48 Stunden später ist der Traum wahr. Kai und Bajat sind zwei von 14 erfolgreichen Absolventen und somit offiziell Schiedsrichter. Anfang Januar hat Kai bereits sechs Spiele an zwei Wochenenden absolviert. Auch Bajat hat schon seine ersten drei Spiele hinter sich. Bei beiden ist alles glatt gelaufen. Und Bajat stellt fest: „Das war die beste Entscheidung meines Lebens.”

 

Beitragsbild: pixabay.com/Alexander Fox

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