Doktor TikTok: Gehört Selbstdiagnose jetzt zu Social Media dazu?

Durch das Teilen von Symptomen psychischer Krankheiten auf Tiktok und Instagram kommt es teilweise zu Selbstdiagnosen.

In sozialen Medien thematisieren Nutzer*innen immer wieder psychische Erkrankungen. Auch wenn sie aufklären möchten, führt das in Kommentarspalten oft zu Selbstdiagnosen. Wie kommen diese Diagnosen zustande und welche Risiken können dadurch entstehen?

Aufklärungsvideos und Beiträge zu mentalen Erkrankungen sind in sozialen Netzwerken Normalität. In Instagram- und Tiktok-Feeds gehören dazu Videos, in denen Creator Symptome und Verhaltensweisen psychischer Krankheiten aufzählen. Nutzer*innen der Plattformen erkennen sich und ihr Handeln häufig wieder und kommentieren ihre Anzeichen und Vermutungen für ADHS, Depressionen oder Autismus. Oder sagen direkt: „Ich habe ADHS.“

Die klinischen Psychologinnen Lisa Irani und Anna Eckert klären mit ihrem Podcast zu psychischen Krankheiten auf. Foto: Pressebild
Die klinischen Psychologinnen Lisa Irani und Anna Eckert klären mit ihrem Podcast zu psychischen Krankheiten auf. Foto: Lisa Irani & Anna Eckert

Für viele Psycholog*innen ist das problematisch. „Man kann sich nicht anhand eines 30-sekündigen Videos selbst eine Diagnose stellen“, stellt Lisa Irani klar. Sie und ihre Podcast-Kollegin Anna Eckert von „Cute aber Psycho“ sind klinische Psychologinnen. Neben ihrem Job klären sie auf TikTok, Instagram und im Podcast über psychische Krankheiten auf. Videos in sozialen Medien sind für die beiden eher ein Startpunkt zu Recherchen als eine endgültige Diagnose. „Social Media kann aber den Anreiz setzen, dass es okay ist, wenn man sich Hilfe holt“, sagt Eckert.

Fehlinformationen sind keine Seltenheit

Aktiv geworden sind die beiden, um Falschinformationen klarzustellen, die ein Crime-Podcast zu Manie verbreitet hatte. Auch bei Mental-Health-Videos sind Fehlinformationen aus ihrer Sicht ein Risiko. Denn nicht alle Nutzer*innen geben Informationen korrekt wieder. Teilweise ordnen Creator Symptome falsch zu oder stellen komplexe Krankheitsbilder verkürzt dar. Eine Studie aus Kanada ergab beispielsweise, dass die Hälfte aller Videos zu ADHS auf TikTok Fehlinformationen verbreitet.

Psychische Krankheiten auf Tiktok: Der Well-Being-Guide
Um vor Falschinformationen zu schützen, hat Tiktok einen Well-Being Guide herausgegeben. Dieser soll Nutzer*innen erklären, wie sie psychische Krankheiten thematisieren können und an welche Regeln sie sich dabei halten müssen. Darin verweist Tiktok auch auf die Einhaltung der Community-Richtlinien. Was Nutzer*innen droht, die Falschinformationen verbreiten, erwähnt TikTok nicht. Zudem betont die Plattform: „Die Leitfäden und Toolkits von TikTok bieten keine Dienste zur Förderung der psychischen Gesundheit und keine medizinischen Dienstleistungen.“ Auch bezüglich des Algorithmus bleibt die Plattform intransparent. So erklärt Tiktok nicht, wie es Inhalte für die ForYou-Page auswählt. Auch, ob sie die Inhalte nach Altersgruppen filtern, legt die Plattform nicht offen.

Lisa Irani beobachtet außerdem, dass sich Psychologie-Student*innen auf Social Media teilweise als ausgebildete Psycholog*innen präsentieren. Auch Bezeichnungen wie Mental-Health-Coach oder Narzissmus-Spezialist*in könnten Nutzer*innen verwirren. Anders als Begriffe wie Psycholog*in, Psychiater*in und Psychotherapeut*in seien sie nicht geschützt. Personen ohne Ausbildung könnten diese daher frei verwenden. Irani betont: „Da muss noch mehr Aufmerksamkeit geschaffen werden. Wenn man diesen Beruf nicht studiert hat, kennt man nicht das ganze Feld an psychischen Erkrankungen.“ Deshalb finden die Psychologinnen es wichtig, dass Nutzer*innen darauf achten, welchen Quellen sie Glauben schenken und Informationen von Social Media überprüfen und hinterfragen.

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Selbstdiagnose als Chance?

Die Videos und Beiträge auf Social Media haben laut den Psychologinnen aber auch positive Effekte. Sie tragen zum Beispiel dazu bei, dass sich eine Gesellschaft für psychische Krankheiten sensibilisiert und sie entstigmatisiert. Längst seien ADHS und Depression keine Tabuthemen mehr. Dieses Bewusstsein könne es leichter machen, sich Hilfe bei mentalen Problemen zu holen. Denn für viele sei die Selbstdiagnose eine Art „Aha-Moment“, sagt Irani. „Wenn eine Person eigene Beschwerden in einem Video wiedererkennt, sieht sie: Ich bin damit nicht allein und es ist nicht abwegig, dass ich das habe.“

Betroffene würden in sozialen Netzwerken eine Gemeinschaft finden, die von ähnlichen Problemen erzähle und mit der sie sich identifizieren könnten. Eine Selbstdiagnose könne daher helfen, sich zugehörig zu fühlen und sich austauschen zu können.

„Wenn eine Person eigene Beschwerden in einem Video wiedererkennt, sieht sie: Ich bin damit nicht allein und es ist nicht abwegig, dass ich das habe.“

Außerdem bleibe es, wenn jemand bei sich ADHS oder Burnout vermute, kaum bei nur einem Video, sagt Eckert. Stattdessen würde sich die Person mehr mit dem Thema beschäftigen. Insbesondere, wenn sie die vermutete psychische Krankheit aufgrund von Problemen im Alltag für wahrscheinlich halte, sei die Person an Informationen zur Lösung interessiert und werde versuchen, Hilfe zu bekommen.

Wie es nach der Selbstdiagnose (nicht) weitergehen soll

Dennoch sei eines der größten Risiken von Selbstdiagnosen, mit der Vermutung allein zu bleiben und sich keine professionelle Hilfe zu holen, betont Eckert. „Auch, wenn es nicht zum Beispiel die vermutete Borderline-Persönlichkeitsstörung ist, gibt es vielleicht Symptomatiken, die behandlungsbedürftig sind. Deswegen ist es kein Problem, wenn jemand zu uns kommt und sagt ‚Ich habe Borderline‘. Besser, es kommt jemand so zu uns, als dass er gar nicht kommt“, stellt Eckert klar.

Psycholog*innen könnten durch eine Differentialdiagnostik klar einordnen, ob die Symptome zwar in eine Richtung zeigen, tatsächlich aber ein anderes Krankheitsbild vorliege. Außerdem sollten möglicherweise Betroffene unter keinen Umständen zur Selbstmedikation übergehen.

Therapieplatzmangel – Was bedeutet das?
Seit Corona haben psychische Erkrankungen zugenommen, belegen Studien. Das zeigt sich auch durch den Therapieplatzmangel in Deutschland. Im Durchschnitt warten Betroffene laut der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) mehr als fünf Wochen auf ihr Erstgespräch bei einem*einer Psychotherapeut*in. Dieses Gespräch garantiert dabei noch keine nachfolgende Behandlung. Daten der BPtK zeigen, dass 40 Prozent der Betroffenen nach ihrem psychotherapeutischem Erstgespräch drei bis neun Monate bis zum tatsächlichen Therapiebeginn warten. Bundesweit sind es im Schnitt fast fünf Monate. Die lange Wartezeit könne ein Grund dafür sein, dass sich eine psychische Krankheit verschlimmert, verlängert oder wiederkehrt, betont die BPtK. Je länger die Wartezeit, desto mehr Erkrankte würden die Hoffnung auf einen Therapieplatz aufgeben.

Telefonnummern: Falls du oder jemand in deinem Umfeld von psychischen Erkrankungen betroffen bist, kannst du dich an diese Nummern wenden:

  • Info-Telefon Depression: 0800-3344-533
  • Nummer gegen Kummer: 116111
  • Telefon-Seelsorge: 0800-1110111
  • In Notfällen: 112

Um trotz Therapieplatzmangel Hilfe zu erhalten, empfehlen die Psychologinnen, sich an den oder die Hausärzt*in zu wenden. Damit habe man realistische Ansprechpartner*innen, die vorerst unterstützen können. Auch Selbsthilfegruppen könnten hilfreich sein. „Am wichtigsten ist, dass man nach der Selbstdiagnose weitere Schritte einleitet“, betont Anna Eckert. „Man darf auf Social Media surfen, wie man möchte, aber wenn man Schwierigkeiten bemerkt, sollte man sich Hilfe suchen.“

 

Beitragsbild: IMAGO / Pond5 Images

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