Addition, Division, Frustration

Bei einer Dyskalkulie passieren Zahlendreher genauso schnell wie Buchstabendreher bei Legasthenie. Was ist Dyskalkulie genau? Annette Höinghaus kennt die Antwort. Sie ist Pressesprecherin beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie.

Bei Dyskalkulie haben die Betroffenen keine Vorstellung von Zahlen, Mengen, Entfernungen, Uhrzeiten und Gewichten. Die Ursache ist eine neurobiologische Veränderung in den Hirnstrukturen. Wir wissen, dass Dyskalkulie zum Teil auf eine familiäre Disposition zurückzuführen ist. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Spontanmutationen, denen keine familiäre Disposition voraus geht. Drei bis acht Prozent aller Schülerinnen und Schüler haben weltweit Dyskalkulie.

Die Diagnose stellen normalerweise Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychologische Psychotherapeuten. Die Expertinnen und Experten überprüfen über eine medizinische Diagnostik nach standardisierten Testverfahren das grundlegende mathematische Verständnis. Die Diagnose können sie aber nur stellen, wenn sie Umfeldfaktoren ausschließen können. Deshalb wird in der Diagnostik parallel geschaut, ob eventuell Beeinträchtigungen vorhanden sind. Dazu gehört zum Beispiel, dass das Kind eine Aufmerksamkeitsstörung, eine Sehbeeinträchtigung oder Probleme im sozialen Umfeld hat. Die Expertinnen und Experten analysieren also das gesamte Umfeld der Kinder. Wichtig ist, dass die Intelligenz nicht mit der Rechenkompetenz zusammenhängt.

Annette Höinghaus ist Pressesprecherin beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie. Foto: Annette Höinghaus

Über Rechentests zur Diagnose

In standardisierten Rechentests werden verschiedene mathematische Operationen und Kriterien abgefragt, wie Mengeneinschätzungen, Entfernungen oder Gewichte. Wenn das Kind in seinem Prozentrang deutlich von seiner Alters- und Klassennorm abweicht, kann eine Dyskalkulie vorliegen. Die Ergebnisse der standardisierten Tests werden in Prozenträngen angegeben. Das ist wie ein Punktesystem, anhand dessen man erkennen kann, wie das Kind abgeschnitten hat und ob es Dyskalkulie hat. Bei einem Prozentrang von unter 15 Prozent würden die Expertinnen und Experten Dyskalkulie diagnostizieren.

Bei einer Dyskalkulie ist das Lesen und Erkennen der Zahl an sich nicht beeinträchtigt. Ich sage immer, dass für die Kinder die Zahl wie ein chinesisches Schriftzeichen sein kann, unter dem sie sich nichts vorstellen können. Die Kinder fallen dadurch auf, dass sie gar keine Idee haben, ob neun größer als vier oder vier größer als neun ist. Insofern fallen die Kinder auch in der Grundschulzeit immer damit auf, dass sie zählend rechnen. Sie brauchen also immer ihre Finger zum Rechnen. In der zweiten Klasse funktioniert das nicht mehr, wenn die Kinder bis in den Hunderter-Zahlenraum rechnen sollen.

Zahlen verstehen lernen

Eine Dyskalkulie-Therapie fängt damit an, dem Kind ein Mengen- und Zahlenverständnis zu vermitteln, bevor es mit Rechenoperationen beginnt. Dyskalkulie verhält sich ähnlich wie bei jemanden, der farbenblind ist. Die Botschaft, die man sieht, kommt nicht richtig im Gehirn an. Deswegen sprechen wir von einer Beeinträchtigung oder Störung, weil die Botschaft im Gehirn nicht verarbeitet werden kann. Eine gute Therapeutin oder ein guter Therapeut muss herausfinden, wie das Kind diesen Zugang bekommt. Da gibt es verschiedene Methoden, wie zum Beispiel den Zahlenstrahl: Auf den Boden wird ein großer Zahlenstrahl entweder gelegt oder aufgemalt, an dem das Kind entlangschreitet und sehen kann, ob es sich in die eine oder in die andere Richtung bewegt. Das heißt, es sieht, ob die Zahl kleiner oder größer wird. Erst, wenn dieses grundlegende Verständnis vorhanden ist, gehen die Therapeutinnen und Therapeuten in den Bereich der Addition und danach in die Bereiche der Subtraktion und Multiplikation. Die Division ist dann schon eine sehr große Herausforderung. Normalerweise dauert eine individuelle Therapie zwei Jahre.

Wenn die Dyskalkulie gut therapiert wurde, dann beherrschen die Betroffenen die Grundrechenarten und haben Kompensationsstrategien gelernt. Die beste Kompensationsstrategie ist der Taschenrechner, den wir mittlerweile auch auf unserem Smartphone haben. Viele, die in der Ausbildung zum Maler oder Tischler sind, haben heutzutage digitalisierte Messsysteme. Deshalb ist es heute wesentlich einfacher, im Berufsleben damit klarzukommen. Trotzdem kann es sein, dass Betroffene mehr Zeit brauchen. Menschen mit einer Dyskalkulie finden wir in allen Berufsgruppen. Wenn sie bestimmte Techniken erlernt haben und in den meisten Fällen den Taschenrechner nutzen dürfen, haben Betroffene keine Beeinträchtigung.

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Beitragsbild: Lena Kantert

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