“Der Hass ist real”: Wie Internethass unsere Gesellschaft gefährdet

Tim Lahr teilt seinen Alltag als queerer Pfarrer im Netz. Dafür wird er immer wieder angefeindet – und der Hass wird mehr. Warum das nicht nur Betroffene belastet, sondern auch unsere vielfältige Gesellschaft.

“Ich kotze.” “Du Hurensohn.” “Sowas wie du sollte nicht Pfarrer sein.” Diese Nachrichten tauchen immer wieder unter den Videos von Tim Lahr auf. Tim ist Mitte 30, evangelischer Pfarrer und homosexuell. Auf seinem Instagram- und TikTok-Profil teilt er vorwiegend Kurzvideos, in denen er sein Leben als Pfarrer zeigt oder queere Themen anspricht.

Tim Lahr folgen allein auf Instagram mehr als 21.000 Menschen. Foto: Nadine Heller-Menzel

Seine Inhalte sind meist humorvoll: Tim tanzt durch das Kirchenschiff seiner Kölner Gemeinde, verkleidet sich als konservativer Kirchenbesucher oder spricht ­über Vorurteile, die er wegen seines Berufs erfährt. Auch wenn seine Reels und TikToks damit oft etwas Positives ausstrahlen sollen, liest Tim in den Kommentarspalten darunter immer häufiger hasserfüllte Nachrichten. Er findet: “Es hat extrem zugenommen.”

Internethass ist kein neues Phänomen. Aber eines, deren Dimension immer größeres Ausmaß erreicht. Das belegt das Kompetenznetzwerk Hass im Netz – ein Zusammenschluss aus verschiedenen Organisationen, die sich gegen digitale Feindseligkeit einsetzen. Gemeinsam haben sie 2023 die Studie “Lauter Hass – Leiser Rückzug” durchgeführt. Das Ergebnis: Wie Tim finden fast 90 Prozent der Befragten, dass der Hass im Netz in den vergangenen Jahren zugenommen hat.

Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Hannah Heuser war mehrere Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig und hat in dieser Zeit zu Hass im Netz geforscht. Sie erklärt: “Es kann sein, dass es mehr Betroffenheit gab, es kann aber auch sein, dass die Awareness für das Thema gestiegen ist.”

Zunahme von Hass im Netz. Grafik: Fabia Lulis

Im Internet kann es alle treffen

Internethass hat viele verschiedene Facetten. Er kann sich nicht nur durch hasserfüllte Kommentaren äußern, sondern auch die Form von Fotos, Videos oder Memes annehmen. Auch das unerlaubte Veröffentlichen und Verbreiten persönlicher Daten gehört dazu, erklärt Hannah Heuser. “Gemeint ist jede Form von Hass, die digital vermittelt ist oder medienvermittelt stattfindet.”

Anita Brüll setzt sich gegen Hass im Netz ein. Foto: Anita Brüll

Anita Brüll engagiert sich gegen Hass im Netz. Sie ist 24 Jahre alt und studiert Lehramt. Neben ihrem Studium ist sie als Übungsleiterin für JUUUPORT e.V. aktiv – einem Verein, der betroffenen Jugendlichen beratend zur Seite steht. Dort engagieren sich 30 Freiwillige zwischen 18 und 20 Jahren als Scouts. Anita ist als eine von ihnen gestartet und bildet inzwischen die anderen aus. Über die Website können sich die Betroffenen an die Freiwilligen wenden. Nach eigenen Angaben erreichen den Verein jährlich rund 3.000 Anfragen. “In den letzten Jahren ist das Thema Erpressung mit Nacktbildern sehr oft gekommen”, sagt Anita. Auch Cybermobbing sei ein großes Thema. “Die Person wird in der Schule gemobbt und inzwischen geht das in Form von Instagram-Kommentaren oder Ähnlichem in den sozialen Medien weiter.”

Treffen kann es jede Altersgruppe: “Im Prinzip ist es jeder und jede, der oder die sich online bewegt”, stellt Hannah Heuser fest. Die Studie des Kompetenznetzwerks Hass im Netz hat gezeigt: 15 Prozent der über 16-Jährigen sind selbst schon einmal Opfer gewesen.

Eigene Betroffenheit von Hass im Netz. Grafik: Fabia Lulis

Die Studie zeigt außerdem, dass es bei Hass auf Social Media oft um gruppenbezogene Herabwürdigungen geht. Immer wieder trifft es Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund. Ebenfalls auffällig: Homo- und bisexuelle Menschen berichten von Hasserfahrungen. Laut der Studie sind auch Frauen verstärkt betroffen. Hannah Heuser erklärt, dass diese vor allem sexualisierten Hass erleben und oft mit Stereotypen konfrontiert würden. “Die gehört doch in die Küche.” Äußerungen wie diese seien auf Social Media noch immer Alltag. Der Hass gegen Frauen ist in der Regel intensiver, so Heuser.

Internethass hinterlässt Spuren

“Am Anfang hat es mich wütend gemacht”, erinnert sich der queere Pfarrer Tim an seine Anfänge auf Social Media. Heute empfinde er vor allem Unverständnis und lasse den Hass nicht mehr an sich heran. Trotzdem sorgt er sich: “Was, wenn das junge Queers lesen? Entmutigt es sie, sich offen zu zeigen?”

Der Hass im Netz kann schwerwiegende Folgen für die Einzelnen haben. Die Befragten der Studie “Lauter Hass – leiser Rückzug” geben an, sich teilweise sozial zurückgezogen zu haben. Rund 41 Prozent der Betroffenen haben das bei sich selbst festgestellt. Häufig leiden sie unter psychischen Beschwerden oder haben Schwierigkeiten mit ihrem Selbstbild. Auch Hannah Heuser weiß aus Gesprächen mit Betroffenen: Die Beschwerden reichen von Stress- und Angstgefühlen hin zu Panikattacken, Depressionen und sogar Suizidgedanken.

Individuelle Folgen von Hass im Netz. Grafik: Fabia Lulis

Verstummen als letzter Ausweg

“Wir beobachten den Rückzug aus sozialen Medien, den Silencing Effekt. Es ist nicht zu unterschätzen, wie gefährlich das für den demokratischen Diskurs ist”, beschreibt die Expertin. Internetnutzer*innen würden durch den zunehmenden Hass eingeschüchtert und von den Plattformen verdrängt.

Auch Tim ist vorsichtig. Er überlegt sich gut, was er im Internet teilt: “Mein Privatleben halte ich raus. Wenn ich etwas daraus zeige, dann sehr gezielt.” Seine Wohnung kennt das Netz beispielsweise nicht. “Falls ich Social Media irgendwann nicht mehr mache, dann brauche ich einen Ort, den das Internet noch nicht gesehen hat”, sagt er. Während der Arbeit an einem Video denkt er oft an den möglichen Gegenwind, der er dafür bekommen könnte. “Ich muss mich schon gut, stark und gesund fühlen, um das machen zu können.” Der queere Pfarrer sei bereits mehrfach kurz davor gewesen mit Social Media aufzuhören. “Aber für mich ist das nicht die Lösung.”

Für andere hingegen ist es der letzte Ausweg. So wie die Betreiber*innen eines Instagram-Accounts, der sich gegen Nazis stark gemacht hat. Im Juni 2024 verkünden sie das Ende: “Mit schwerem Herzen müssen wir bekanntgeben, dass wir die Seite mit sofortiger Wirkung schließen.” Über zehn Jahre haben sie sich analog und digital gegen Rechtsextremismus eingesetzt. Grund für das Aus sei unter anderem auch der Hass, der ihnen online entgegengebracht wird: “Abwertung, Hass und Hetze gegenüber Andersdenkenden sind an der Tagesordnung, vor allem in den sozialen Netzwerken.” Allein im Vorjahr habe die Seite rund 500 Anfeindungen erhalten. Diese reichen von “Halt die Fresse” bis hin zu “Geht sterben”. Auch von Äußerungen wie “Ihr gehört ins KZ” berichten die Betreiber*innen. Sie sehen sich und ihre Familien in Gefahr. Deswegen treten sie in diesem Artikel nicht mit Namen auf.

Es ist kein Einzelfall, dass für viele nur der Rückzug bleibt. Hannah Heuser erklärt, dass eine künstliche Abgrenzung zwischen digitaler Welt und analogem Leben nicht mehr zeitgemäß ist. “Soziale Medien sind real. Der Hass ist real und die Konsequenzen sind auch real – nur digital vermittelt.”

Hilfsangebote haben sich verbessert

Oft hilft es den Jugendlichen, die sich bei JUUUPORT e.V. melden, über ihre Sorgen zu sprechen und damit das Gefühl des Alleinseins zu verlieren. Wenn Anita eine Anfrage bearbeitet, hat sie ein Ziel: “Wichtig ist mir, dass es der Person in dieser Situation besser geht.” In ihrer Arbeit falle ihr immer wieder auf, dass viele Jugendliche gar nicht auf die Idee kommen, sich an ihre Familie oder ihre Freund*innen zu wenden.

Suchen sich die Betroffenen jedoch Hilfe, sind es meist ihnen nahestehende Personen. Meldestellen außerhalb der Plattformen, die Polizei oder andere externe Beratungsangebote sind laut der Studie des Kompetenznetzwerks Hass im Netz noch immer eher unbekannt: “Die Inanspruchnahme institutioneller Angebote ist hier bisher die Ausnahme.”

Laut Hannah Heuser hat sich die strafrechtliche Verfolgung von Hass im Netz verbessert. Foto: Katharina Poblotzki

Auch Tim hat sich lange hilflos gefühlt. Das habe sich aber geändert. “Durch die Unterstützung und den Support von Menschen, die mich umgeben und mir gesagt haben ‘Wir stehen an deiner Seite’, kann ich besser mit dem Hass umgehen.” Als nächstes möchte sich Tim professionelle Unterstützung durch eine Organisation suchen. Diese soll ihm dabei helfen, Hasskommentare zu identifizieren und gegen sie vorzugehen. Tim hat es aufgegeben, mit den Urheber*innen von Hass und Hetze zu diskutieren: “Damit gibt man denen nur noch mehr Macht. Ich habe für mich ganz klar die Regel: Ich lösche das.” Tim hat auch schon Morddrohungen erhalten. Diese extreme Form von Hass bringt der Pfarrer direkt zur Anzeige.

Die Strafverfolgung ist besser geworden, erklärt Hannah Heuser. Gerade die Ermittlungsbehörden würden sich inzwischen gut auskennen. Neben einer gestiegenen Ermittlungskompetenz sei auch das Interesse an den Online-Straftaten deutlich gewachsen. Nicht nur auf nationaler, auch auf europäischer Ebene gebe es inzwischen Vorschriften, die eine klarere Rechtslage im digitalen Raum schaffen. In den Augen der Expertin ist das ein erster großer Schritt, der aber nicht ausreiche. “Die Plattformen leben von Interaktion. Interaktion passiert vor allem wenn Menschen nicht einer Meinung sind, wenn gestritten und leider auch beleidigt wird.” Ohne das Engagement der Plattformen wird also auch die Politik das Problem Internethass nicht beseitigen können, sagt Hannah Heuser.

“Wir dürfen das nicht tolerieren”

“Strafrecht ist nur ein Bauteil bei der Bekämpfung von Hass im Netz”, stellt Hannah Heuser klar. Verurteilungen hätten eine abschreckende Wirkung, die präventiv wirken kann. Diese Abschreckung reiche jedoch nicht aus. “Mindestens ebenso wichtig ist, dass wir Bildungsarbeit betreiben und Medienkompetenz lehren.” Bereits in der Schule müssten Kinder und Jugendlichen lernen, sich für eine funktionierende Demokratie einzusetzen, für soziales Engagement und einen sachlichen Diskurs.

Auch für Anita steht fest: “Wir müssen präventiv arbeiten.” Konkrete Beispiele von Betroffenen seien wichtig, ihren ganz persönlichen Geschichten müsse man zuhören. Genauso müsse man aber auch auf die schauen, die den digitalen Hass verbreiten. Nur so lasse sich herausfinden, woher die Negativität kommt. “Am Ende des Tages möchte niemand, dass er oder sie selbst zum Opfer von Hass im Netz wird. Diese Einstellung ist bei vielen noch nicht angekommen.”

Tim wünscht sich, dass mehr Menschen Gegenrede leisten. “Wir müssen den Hatern den Spiegel vorhalten, der ihnen zeigt, dass ihr Verhalten nicht okay ist.” Genauso wichtig sei es, dass die Betroffenen unterstützt werden. “Es gibt so viele Menschen, die Hass im Internet erleben. Wir sind mehr, als wir manchmal denken, wenn wir so allein unterwegs sind.” Er würde am liebsten ein großes Netzwerk schaffen, indem sich alle gegenseitig stärken. Entscheidend sei am Ende aber vor allem eins: “Wir dürfen das nicht tolerieren, wenn Menschen Hass um sich streuen.”

 

Beitragsbild: pixabay.com/HtcHnm

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