Gute Noten und schnelles Denken – das sind Eigenschaften, bei denen viele von Hochbegabung ausgehen. Doch dazu gehört mehr. Dr. Linda Wirthwein von der TU Dortmund erklärt, was Hochbegabung bedeutet, und räumt mit Vorurteilen auf.
Hochbegabung ist ein Randphänomen. Laut Psychologin Dr. Linda Wirthwein von der TU Dortmund ist knapp ein Prozent der Bevölkerung hochbegabt. Offiziell als hochbegabt gelte ein Mensch ab einem IQ von über 130. Das sei aber keine feste Grenze, die Übergänge seien fließend. Auch jemand mit einem IQ von 129 kann laut Wirthwein hochbegabt sein. Zwei Intelligenztests mit Ergebnissen von beispielsweise 127 und 128 würden ebenfalls eine Hochbegabung nachweisen. Denn wenn zwei Tests einen so hohen Intelligenzquotienten ergeben, sei das grundsätzlich mehr wert als einer. Intelligenztests müssen standardisiert sein, nur dann sind sie aussagekräftig. Wirthwein bestätigt das. “Ein Intelligenztest, wie er heute eingesetzt wird, ist unter hohen wissenschaftlichen Standards entwickelt worden und kann daher sehr zuverlässig und sehr valide Intelligenz messen.”
Obwohl Expert*innen bei Hochbegabung von Diagnostik sprechen, handelt es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um ein Attribut. Die empirische Forschung zeigt, dass Hochbegabte sich nicht von Nicht-Hochbegabten unterscheiden, wenn es um ihre Persönlichkeit oder die Veranlagung zu psychischen Erkrankungen geht. Eine hochbegabte Person kann mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit von beispielsweise Depressionen betroffen sein wie eine nicht-hochbegabte Person. Wirthwein sieht aber einen Unterschied in schulnahen Bereichen: “Hochbegabte haben eher bessere Schulnoten, weil sie über eine höhere Motivation und ein höheres schulisches Selbstkonzept verfügen. Das heißt, dass sie sich zum Beispiel in der Schule zu den guten SchülerInnen zählen.” Unter Hochbegabten gibt es aber auch “Underachiever”, also “Minderleister”. Ihnen fällt es schwer, ihr intellektuelles Potenzial in schulische Leistungen umzusetzen. Dabei handelt es sich um etwa zehn Prozent der Hochbegabten.
Sollte man sich diagnostizieren lassen?
Ob sich jemand diagnostizieren lassen sollte, ist laut Wirthwein eine individuelle Frage. Dabei gehe es darum, wie relevant eine Diagnose ist. Warum will ich den Test machen? Für Kinder stelle die Nicht-Diagnose keinen Risikofaktor für die Entwicklung von Verhaltensbesonderheiten oder psychischen Erkrankungen dar. Wer im Erwachsenenalter über eine Diagnostik nachdenke, müsse sich fragen, welchen Zweck diese erfüllen würde. Fühle ich mich unterfordert im Beruf? Gibt es eine Diskrepanz zwischen meinem Potenzial und dem, was ich jetzt mache? Laut Wirthwein geht es darum, das eigene Potenzial auszuschöpfen. Das müsse nicht unbedingt durch einen Hochbegabungstest geschehen, sondern könne auch durch eine Berufsberatung abgedeckt werden.
“Ich glaube, im Kopf der Menschen ist immer das Bild eines prototypischen Hochbegabten, so eines Sheldon Coopers”, meint Wirthwein. Aber dabei handele es sich um die mediale Verwendung eines Stigmas. Das zeigt auch die deutsche Begabungsforscherin Tanja Baudson. In ihrer Studie “The Mad Genius Stereotype: Still Alive and Well” konnte sie belegen, dass Hochbegabte in den Köpfen der Menschen als Außenseiter*innen gelten, weil für sie gewisse anti-soziale Stereotypen in der Gesellschaft existieren.
Hochbegabt wie du und ich
Hochbegabte haben durch ihre Begabung in manchen Bereichen Vorteile. Zum Beispiel können sie sich Dinge besser merken und Probleme schneller erkennen und lösen. In der Schule müssen sie teilweise weniger lernen, um gute Noten zu bekommen.
Ist es also erstrebenswert, hochbegabt zu sein? “Genauso gut könnte man fragen: Ist es erstrebenswert, eine bestimmte Persönlichkeit zu haben?”, entgegnet Wirthwein. Aus ihrer Perspektive zeichne sich eine Person durch deutlich mehr aus und werde durch Persönlichkeit und Temperament zu einem Individuum. In manchen Bereichen sei es aber vorteilhaft, hochbegabt zu sein, betont Wirthwein. Es gebe beispielsweise Studien, die darauf hinweisen, dass Hochbegabte beruflich erfolgreicher seien.
Hochbegabung kann also ein Vorteil sein. Trotzdem bedeutet das nicht, dass Nicht-Hochbegabte einen Nachteil haben. Letztlich gehört zu einem Menschen deutlich mehr als seine Intelligenz.
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