In dem neuen interaktiven Netflix-Film “Black Mirror – Bandersnatch” können Zuschauer selbst entscheiden, welche Wendungen der Film nimmt und wie sich der Protagonist verhalten soll. Die Grenzen zwischen Film und Spiel scheinen dadurch zu verschwimmen. Bei dem Film handelt es sich um eine Fortsetzung der dystopischen Serie “Black Mirror”, die es schon seit 2011 auf Netflix gibt.
Wer sich beim Fernsehen lieber völlig entspannt oder nebenbei gerne noch auf dem Handy herumtippt, für den ist “Bandersnatch” eher nichts. Während des gesamten Films hielt ich die Fernbedienung fest umklammert, ständig darauf gefasst, wieder eine neue Entscheidung treffen zu müssen. Ich realisierte schnell, dass ich als Zuschauer die Verantwortung über das Handeln und Leben der Hauptfigur übernehme. Außerdem blieben mir die ganze Zeit diese Fragen im Kopf: “Was hätte sich an der Handlung geändert, wenn ich eine andere Entscheidung getroffen hätte? War meine Entscheidung richtig?”
Parallelen zwischen Filminhalt und der Darstellungsform
Der Film spielt in den 1980er-Jahren in London. Die Hauptfigur des Films ist der junge Programmierer Stefan Butler, der den Fantasyroman “Bandersnatch” in ein Computerspiel umschreibt. Dabei programmiert er zahlreiche unterschiedlichen Handlungsstränge in dem Spiel. Dem gleichen Prinzip folgt auch der Film. Per Rechts- oder Linksklick auf der Fernbedienung oder Computermaus müssen die Zuschauer Entscheidungen während des Films treffen. “Frosties oder Sugar Puffs” – so lautet die erste Frage, wobei der Zuschauer über das Frühstück des Protagonisten entscheiden soll.
Später geht es aber mit weitaus existenzielleren Fragen weiter. Beispielsweise soll der Zuschauer entscheiden, ob Stefan sich selbst umbringen soll oder sein Freund sich das Leben nehmen soll. Für jede Entschiedung hat der Zuschauer aber nur zehn Sekunden Zeit. Wenn in dieser Zeit keine Entscheidung getroffen wird, wird automatisch gewählt. In der Computer-Gaming Szene wird das als “Quick Appointment” bezeichnet. Durch dieses begrenzte Zeitfenster, steht der Zuschauer automtisch unter Druck und Anspannung.
Kommunikation zwischen Zuschauer und Protagonist
Besonders kurios wird es, wenn man als Zuschauer selbst mit Stefan kommunizieren kann. Stefan hat das Gefühl, dass er beobachtet und von höheren Kräften gesteuert wird. Als er alleine in seinem Zimmer sitzt, fragt er laut: “Wer bist du?” Als Antwort erscheint auf seinem Computer das Netflix-Symbol. Ihm wird per Schrift auf dem Computer mitgeteilt, dass er Teil eines Films ist und die Zuschauer über sein Leben entscheiden. Weil der Film in den 80er-Jahren spielt, kennt Stefan den Streaming-Dienst noch nicht und der Zuschauer kann entscheiden, ob er ihm erklären möchte, was Netflix denn überhaupt ist. Der Zuschauer blickt dem verzweifelten Stefan in die Augen und fühlt sich plötzlich verantwortlich für sein Leiden und seinen Verfolgungswahn.
Programmierung eines interaktiven Filmes
Als Zuschauer lässt sich bereits erahnen, wie schwierig es sein muss, einen solchen Film zu programmieren. Durch zahlreiche mögliche Handlungspfade muss es sehr viel Filmmaterial geben. Netflix hat einige “Behind the Scenes”-Videos veröffentlicht, durch die sich diese Schwierigkeiten erahnen lassen. Der Drehbuchautor Charlie Brooker und der Cutter Tony Kearns berichten in dem Video davon, wie anstrengend es war, den verzweigten Film zu produzieren, zu drehen und zu schneiden. “An manchen Punkten war es, als müsste man einen Zauberwürfel im Kopf lösen”, erklärt der Drehbuchautor. Das Skript musste immer wieder überarbeitet werden. Etwa fünf Stunden mögliches Filmmaterial wurden produziert. Die Durchschnittszeit des Films beträgt aber eher 90 Minuten.
Einige Netflix-Nutzer haben sich bereits die Mühe gemacht, alle möglichen Handlungsstränge in einem Flussdiagramm zusammenzufassen. Drei mögliche Ausgänge des Films sind demnach möglich. Es fällt auf, dass manche Entscheidungspade auch in eine Sackgasse führen. Werden diese gewählt, springt der Zuschauer automatisch in der Handlung zurück.
all the possible choices and outcomes in #Bandersnatch pic.twitter.com/YMD1cthOkv
— capitalismlover38 (@209_boii) December 28, 2018
Die Zukunft von Film und Fernsehen
Schon während ich “Bandersnatch” geschaut habe, habe ich mir ausgemalt, wie toll es wäre, bei meiner Lieblingsromanze zu entscheiden, wer mit wem zusammenkommt. Diese Entscheidungsfreiheit hätte mir mit Sicherheit einige enttäuschende Enden erspart. Eine völlig neue Definition des Fernsehens wäre damit geschaffen.
Medienwissenschaftlerin Kim Carina Hebben, Dozentin an der TU Dortmund, bezeichnet Bandersnatch an sich aber nicht als Revolution: “Das Fernsehen hat noch nie still gestanden, es ist in dem Sinne keine innovative Form, weil das Fensehen sich immer wieder der innovativen Techniken der Gegenwart bedient.” Trotzdem ist sie der Meinung, dass die Interaktivität des Films auf jeden Fall der Weg ist, in den sich das Fernsehen in Zukunft entwickeln wird.
Laut Hebben ist die Zukunft des Fernsehens geprägt von einer Vermischung von Spiel und Fernsehen. Die Transmedialität wird zukünftig also vorherrschend sein. Man kann dann zum Beispiel dreidimensionale Räume betreten und sich darin umschauen. Die Definition des Spiels beinhalt, dass es ein Experiment ist, welches sich mehrmals wiederholen lässt. Genau so verhält es sich laut Hebben auch mit dem interaktiven Film.
Doch außer den interaktiven Elementen könnte das Fernsehen der Zukunft von weiteren Elementen geprägt sein. “Eine weitere Steigerung wäre, wenn die Fernbedienung auch ein Feedback geben würde, sie also beispielsweise vibrieren würde wenn der Charakter stirbt. Wenn der Zuschauer den Film zwischendurch stoppt, könnte er sich einmal im ganzen Raum umsehen. Dadurch bekommt er das Gefühl, selbst mit dem Protagonisten im Geschehen zu sein.” Generell ist es natürlich schwierig, genau zu sagen, wie sich das zukünftige Fernsehen vom heutigen unterscheiden wird. Dennoch ist “Bandersnatch” sehr nah an dem, was in näherer Zukunft prägend sein wird. Die Grenzen zwischen Spiel und Fernsehen, zwischen Zuschauer und Protagonisten, zwischen Akteur und Beobachter scheinen zu verschwimmen.
Teaserbild: Unsplash, Porträt: Andreas Buck im Auftrag von TU Dortmund/Institut für deutsche Sprache und Literatur