Gewalt gegen Einsatzkräfte: Der Mensch hinter der Uniform

Wählen wir den Notruf, bekommen wir innerhalb von Minuten Hilfe, denn Polizei und Rettungskräfte sind rund um die Uhr im Einsatz. Trotzdem werden sie verbal und körperlich angegriffen. Eine Notfallsanitäterin, ein Feuerwehrmann und ein Polizist aus Dortmund erzählen von ihren Erfahrungen.

Es ist kurz vor Schichtbeginn in der Feuer- und Rettungswache II in Dortmund-Eving. Durchsagen hallen durch die Fahrzeughalle, der Motor eines Rettungswagens wird angelassen. Rettungskräfte machen sich für den Einsatz bereit.

Vivien Gottschalk ist angehende Notfallsanitäterin.

Alltag für Vivien Gottschalk. Die 21-Jährige steht kurz vor der Abschlussprüfung zur Notfallsanitäterin. Seit drei Jahren fährt sie Einsätze in ganz Dortmund – und hat in der kurzen Zeit bereits Angriffe auf Rettungskräfte erlebt. Auf diejenigen, die helfen wollen. Bei einem Einsatz, erzählt sie, griff ein Patient nach einem Messer. Er war betrunken und hatte eine psychische Vorerkrankung. Ob der Angriff ihnen galt oder sich selbst, war nicht klar. Doch erstmal war sie perplex. So eine Situation sei nicht alltäglich, stellt Vivien klar. Doch sie ist auch schon lange kein Einzelfall mehr.

 

Gewalt gegen Rettungskräfte ist schon lange Thema
Bereits 2012 untersuchte die Ruhr-Universität Bochum die Gewalt gegen Rettungskräfte in Nordrhein-Westfalen und befragte dazu 2048 Rettungsdienstmitarbeiter. Das Ergebnis: Fast alle der Befragten (98%) wurden innerhalb von zwölf Monaten mindestens einmal beleidigt, beschimpft oder mit Gewalt bedroht. Über die Hälfte (59%) erlebte einen gewalttätigen Übergriff, wobei Schubsen, Schlagen und Treten am häufigsten angegeben wurde.

Diesen Eindruck hat auch die angehende Notfallsanitäterin von ihren Einsätzen. „Die Schwelle jemanden zu beleidigen, ist sehr gering“, sagt Vivien Gottschalk. Die Täter könnten sich einfach umdrehen und weglaufen. Jemanden anzugreifen, erfordere mehr Selbstbewusstsein. Beliebt seien Beschimpfungen wie „Arschloch, Penner, Idiot, Wichser“. Sie selbst wurde auch ein paar Mal als „Schlampe“ beleidigt. „In diesen Momenten frage ich mich, warum ich eigentlich hier bin. Ich habe nichts Böses im Sinn, sondern möchte helfen und werde dafür angegangen.“ Sie könne nicht nachvollziehen, warum sich Menschen so verhalten, so die 21-Jährige.

Geändert hat sich seit 2012 wenig

Das zeigt eine neuere Studie der RUB aus dem Jahr 2018, die nun auch Feuerwehrleute einbezieht. Die zentrale Aussage ist: 64 Prozent der befragten Einsatzkräfte in NRW sind in den zwölf Monaten vor der Befragung Opfer von Gewalt geworden. Davon sind 60 Prozent verbal angegriffen worden, 48,8 Prozent nonverbal – also mit Gesten wie einen Vogel oder den Mittelfinger zeigen – und 12,7 Prozent körperlich. Aber vergleicht man die Angaben mit den Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW für das Jahr 2016, zeigt sich eine große Diskrepanz.

Dunkelfeld deutlich größer als Hellfeld
In der PKS wurden 344 Fälle von Rohheitsdelikten und Straftaten gegen die persönliche Freiheit gegen Angehörige der Rettungsdienste erfasst, also Straftaten wie Körperverletzung und Bedrohung. Das entspricht einer Betroffenenquote von 0,34 Prozent. Laut Studie sind jedoch 12,7 Prozent der Rettungskräfte von körperlicher Gewalt betroffen, das macht 12.700 Fälle.

Woran liegt das?

Marvin Weigert vom Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft war für die Auswertung der Befragung zuständig, die vom NRW-Innenministerium in Auftrag gegeben wurde. Er sagt, die Dunkelziffer sei deutlich größer, weil Angriffe nicht gemeldet würden. „Viele Betroffene haben angegeben, dass es an der Situation nichts geändert hätte oder sie nicht gewusst hätten, wie sie vorgehen müssen.“

Auch Vivien Gottschalk hat keine Anzeige erstattet. Das Problem sieht sie in der langen Dauer zwischen Angriff und Gerichtsverfahren. Bei Kollegen, die wegen körperlicher Gewalt eine Anzeige gestellt hätten, wäre das Gerichtsverfahren erst ein halbes Jahr bis Jahr später gewesen. Und die Täter seien häufig freigesprochen worden, weil sie zu betrunken und damit schuldunfähig waren. „Ich wünsche mir, dass die Sanktionen durchgesetzt werden. Wenn die Täter einen Freispruch erhalten, werden sie nicht sensibilisiert und machen immer weiter“, sagt sie heute.

Fest steht: Die Grundlage für härtere Strafen ist vorhanden

Im Mai 2017 hat der Bundestag das „Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften” beschlossen. Wer jetzt Polizisten, Feuerwehrleute oder Rettungsdienstler tätlich angreift, kann zu einer Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten und fünf Jahren verurteilt werden. Auch die „Behinderung von hilfeleistenden Personen“ durch Gaffen an einer Unfallstelle oder Blockieren der Rettungsgasse, kann mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden.

Andreas Jedamzik arbeitet seit Januar 2006 bei der Dortmunder Feuerwehr.

Auch Andreas Jedamzik wünscht sich, dass Angreifer die „vollste Härte des Gesetzes zu spüren bekommen“. Er ist Vizevorsitzender der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft in NRW und arbeitet seit vierzehn Jahren bei der Feuerwehr in Dortmund.

Einmal, berichtet er, wurden sie an Silvester zu einem Kellerfeuer am Nordmarkt gerufen. Sie stiegen aus dem Löschfahrzeug und bereiteten den Innenangriff vor, um den Brand zu löschen – als plötzlich Menschen kamen, Feuerwerksbatterien schulterten und diese aus zwei bis drei Metern Entfernung auf sie abfeuerten, so der Hauptbrandmeister. „In dem Moment haben wir an unsere Familie und an unsere Kollegen gedacht, die bereits im Keller waren und uns gefragt, ob wir heile nach Hause kommen.“ Aus Sicherheitsgründen hätten sie sich hinter das Löschfahrzeug zurückziehen müssen, wodurch seine Kollegen in den ersten Minuten ohne Überwachung im Feuer waren, sagt er heute.

Mehr Übergriffe im Rettungseinsatz als im Brandeinsatz

Laut der Bochumer Studie werden Notärzte, Notfallsanitäter und Rettungsassistenten häufiger angegriffen als Feuerwehrleute. Marvin Weigert von der Ruhr-Universität sagt, das liege an der Einsatzart: „Als Feuerwehrmann im Löscheinsatz komme ich mit den Hilfesuchenden nicht zwangsläufig in Kontakt. Aber in der Notfallrettung habe ich eins zu eins Menschenkontakt.“ Auch der Eindruck würde einiges ausmachen: Im Rettungseinsatz seien sie in der Regel zu zweit unterwegs, wohingegen das Löschfahrzeug mit bis zu acht Personen besetzt sei. Andreas Jedamzik gehört zu den rund 42 Prozent der Feuerwehrleute, die Gewalt gegen sich und Kollegen erfahren haben.

Nach Einschätzung der Befragten sind die Übergriffe meist nicht vorhersehbar, bei körperlicher Gewalt sogar in über 80 Prozent der Fälle. Deshalb wird bereits seit Jahren über stichsichere Westen im Rettungsdienst diskutiert. Die Debatte spaltet den Kreis der Rettungsdienstler und Feuerwehrleute in zwei Lager: Kritiker und Befürworter. Andreas Jedamzik gehört zu denen, die Schutzwesten sinnvoll finden: „Wir wünschen uns, dass Schutzwesten zusätzlich zu den Helmen auf die Rettungswagen gepackt werden, damit sich die Kolleginnen und Kollegen in gewissen Situationen schützen können“, erklärt er. Auch dass Feuerwehrangehörige regelmäßig – zwei bis dreimal im Jahr – in Deeskalationstrainings, Befreiungs- und Abwehrtechniken geschult werden, sei wichtig.

Im Gegensatz zu Einsatzkräften der Feuerwehr und der Rettungsdienste, absolvieren Polizeibeamte regelmäßig Einsatztrainings, die auf diese Situationen vorbereiten sollen. Nils Jäger von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sagt, die Zahl der Verletzten würde noch deutlich höher ausfallen, wenn sie nicht auf solche Einsätze vorbereitet wären.

Wie entwickelt sich die Gewalt?
Insgesamt führt das Bundeskriminalamt im aktuellen Lagebild für das vergangene Jahr 38.635 Gewalttaten auf, bei denen Polizeivollzugsbeamte als Opfer erfasst wurden. Im vorherigen Jahr waren es 38.122. Ebenfalls gestiegen ist die erfasste Zahl von tätlichen Angriffen: von 10.761 auf 13.316. Ein Anstieg um 24 Prozent zum Vorjahr.

Diesen Eindruck hat auch Nils Jäger

Er ist seit elf Jahren Polizeibeamter und engagiert sich etwa genauso lange bei der Gewerkschaft der Polizei, Kreisgruppe Dortmund. Aktuell ist er im Schwerpunktdienst tätig und fährt Motorradstreifen in der Dortmunder Innenstadt, in Hombruch und in Hörde. Der 31-Jährige hat mehrmals Gewalt im Einsatz erfahren. Besonders prägend, erzählt er, sei ein Messerangriff eines Jugendlichen vor einigen Jahren gewesen. Nils Jäger schildert den Einsatz wie folgt: Am frühen Morgen um 4:55 Uhr, hatte ein Anrufer einen Jungen gemeldet, der mit einem Messer in der Nähe des Dortmunder U unterwegs war. Nils Jäger und seine Kollegin fanden ihn, wollten den Sachverhalt klären, doch der 16-Jährige kam mit dem Messer auf sie zu. Erst als sie ihm mit der Schusswaffe drohten, warf er das Messer weg.

Zuerst schien sich die Situation zu beruhigen, erinnert sich Nils Jäger, doch darauf schlug der Jugendliche seiner Kollegin mit der Faust ins Gesicht. Weitere Polizisten kamen hinzu, zu viert schafften sie es ihn zu fixieren. Dabei hätte der Junge geschrien: „Ich knall euch alle ab, ihr scheiß Bullen“, versuchte an Nils Jägers Holster zu greifen und die Waffe zu entreißen. Ein Einsatz, der sich in seine Erinnerung eingebrannt hätte, sagt der Polizist heute.

In solchen Situationen ist sich jeder von uns seiner Verletzlichkeit bewusst. Deshalb spielt Angst immer eine gewisse Rolle.

Wirklich spürbar werde diese aber erst, wenn die Situation unter Kontrolle sei – ein Schutzmechanismus, meint Nils Jäger.

Alkohol und Drogen sind häufig Auslöser für Gewalt

Aber auch Erwartungen, die nicht erfüllt werden könnten, seien auslösende Faktoren: „Wir stellen immer wieder fest, dass Menschen nicht verstehen, warum wir in einigen Situationen so handeln müssen.“ Die Frustration, die diese Menschen in so einer Situation verspürten, werde dann auf die Polizei projiziert, sagt Nils Jäger.

Die Kampagne „Respekt?! Ja bitte!“ der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft (DFeuG NRW) und der Gewerkschaft der Polizei (GdP – Dortmund) soll dem entgegenwirken. In kurzen Imagefilmen, die den Berufsalltag von Polizei, Feuerwehr- und Rettungskräften zeigen, werben sie für mehr Respekt und Verständnis. Dadurch soll die Arbeit der Einsatzkräfte transparenter werden: „Unbekanntes schürt Ängste, aber wenn jemand weiß, warum etwas passiert, kann er es besser nachvollziehen“, erklärt Nils Jäger, der selbst Teil der Kampagne ist. „Wir müssen anfangen, mehr Respekt und Verständnis füreinander zu entwickeln, um Angriffe auf jedermann und auf Einsatzkräfte in Zukunft zu verhindern“, so der Polizist.

Auch Vivien Gottschalk hat in einem der Videos mitgespielt. „Wir versuchen, die Aufmerksamkeit der Leute zu erlangen. Sie sollen nachdenken, bevor sie das nächste Mal jemanden von uns beleidigen oder angreifen“, sagt sie.

Alle sollen sich bewusst machen, dass in der Uniform ein Mensch steckt.

Ihre Aufgabe war es, die Seite des Rettungsdienstes widerzuspiegeln und zu zeigen, dass Angriffe nicht nur älteren Kollegen gelten, sondern auch Auszubildenden: „Die Leute, die mich beleidigen sind teilweise so alt wie ich, wenn nicht sogar ein bisschen jünger“, so die angehende Notfallsanitäterin. Trotzdem möchte sie diesen Beruf ausüben: „Es war immer mein Kindheitstraum. Ich mache das für die Menschen, die wirklich auf unsere Hilfe angewiesen sind. Auch Menschen, die uns angreifen, brauchen unsere Hilfe.“ In diesen Situationen sei es wichtig, nur den Patienten zu sehen und ihm respektvoll gegenüber zu treten. „Das ist nicht einfach, aber wir helfen den Menschen und verurteilen sie nicht“, so Vivien Gottschalk.

Beitragsbild: Leonie Rosenthal

Bilder im Text: Bild 1 – Magnus Terhorst, Bild 2 – Andreas Jedamzik

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