Passend zum EM-Aus der Deutschen verschwinden die Deutschlandflaggen von Autos und Fensterbrettern. Über die Symbolwirkung der Flagge wird viel diskutiert. Während Sozialforscher*innen die Nutzung von Hymne, Flagge und co. kritisch sehen, haben manche Politiker*innen noch nicht genug von den Deutschlandflaggen.
Im Deutschlandtrikot mit schwarz-rot-goldener Flagge auf der Wange sitzen die Fans vor dem Fernseher im Wohnzimmer und fiebern gespannt mit. Auf dem Balkon weht die große Deutschlandflagge, die alle zwei Jahre aus dem Keller geholt wird. Als England in der 75. Minute das erste Tor schießt, ist auch die letzte Person vor dem Fernsehen in Schweiß ausgebrochen. Nervös greift man in die Schale mit den schwarz-rot-goldenen Gummibärchen und stopft sich eine Handvoll in den Mund.
So oder so ähnlich könnte es am Dienstag in vielen Haushalten in Deutschland ausgesehen haben. Seit der Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land, sieht man die Deutschlandflaggen und Symbole pünktlich zu jedem Fußballturnier an Autos, Geschäften und in Wohnungen.
Während Presse und Politik sich oft positiv über den sogenannten Party-Patriotismus äußern und so manche*r Politiker*in die Deutschlandfarben für den eigenen Wahlkampf nutzt, sehen viele Sozialpsycholog*innen die Sichtbarkeit von Deutschlandflaggen und Symbolen kritisch.
Deutschlandflagge kann zu mehr Fremdenfeindlichkeit führen
Ein Team um den Marburger Sozialpsychologen Ulrich Wagner erforschte den Zusammenhang von der WM 2006 und nationalistischem Gedankengut der Bevölkerung. Die Forscher*innen werteten repräsentative Umfragedaten aus und kamen zu dem Ergebnis, dass es zu einem Anstieg an Nationalismus in Deutschland direkt nach der Weltmeisterschaft kam. “Es ist nicht so, als wäre Deutschland seit der WM ein anderes Land gewesen. Der Anstieg war zwar nicht dramatisch, aber ist klar nachzuweisen”, erklärt Wagner. Als Nationalismus sieht er die Identifikation mit dem eigenen Land an, bei der es darum geht, sich über fremde Länder zu stellen.
Patriotismus hingegen sei die kritische Auseinandersetzung, bei der Maßstäbe des eigenen Landes genutzt werden. “Patriot*innen wollen das eigene Land nicht besserstellen als andere Länder. Es steht mehr die eigene Weiterentwicklung in demokratischen Werten im Vordergrund”, sagt der Sozialpsychologe. Demokratische Prinzipien, wie das Achten der Menschenrechte, stehen dann an erster Stelle.
In einer weiteren Studie fand sein Team heraus, dass nationalistische Symbole und die Nationalhymne den Nationalismus steigern. Dagegen verringere sich der Patriotismus in der Gesellschaft. In dem Experiment nutzten die Forscher*innen Fragebögen mit und ohne Deutschlandfahne in der Kopfzeile. Durch verschiedene Fragen, versuchten sie die nationalistischen und populistischen Ansichten der Teilnehmenden festzumachen. Dabei kam heraus, dass die Fragebögen mit Flagge häufiger fremdenfeindliche Aussagen auslösten.
“Ein offener politischer Diskurs über Themen, die uns beschäftigen, wäre förderlich für mehr Patriotismus und weniger Nationalismus”
Ulrich Wagner hofft daher, dass sich die Deutschen reflektierter mit dem Nutzen von Deutschlandflaggen und Symbolen geben. “Ein offener politischer Diskurs über Themen, die uns beschäftigen, wäre förderlich für mehr Patriotismus und weniger Nationalismus”, findet er. Man müsse zum Beispiel auch über die Identifikation als Mitglied der Europäischen Union sprechen. “Können wir mit den Werten, die wir in der EU vertreten wollen, die Entwicklungen an den Außengrenzen hinnehmen. Über solche Themen zum Beispiel muss mehr diskutiert werden.”
Warum hat #Maassen die Deutschlandflagge im Profil?
Weil sein Berater die Farben schwarz-weiß-rot zu offensichtlich befunden hat ♂️ pic.twitter.com/BmuNIWdepm
— đ ᵃK丅Įⓢ © sʇɐɥ ɹo̤ʍɥɔs (@DerNarkotiseur) June 5, 2021
Über die Hymnen und Fußball solle man laut Wagner nochmal nachdenken. “Am Ende geht es doch darum, dass Menschen, die zufällig aus verschiedenen Ländern kommen, sportliche Höchstleistungen zeigen. Da sollte man sich mehr auf den Sport an sich konzentrieren”, urteilt der Sozialpsychologe. Außerdem müsse man sich über die Sprache im Fußball mehr Gedanken machen. “Es ist zwar nur eine sprachliche Nuance, aber es macht einen Unterschied, ob Deutschland gegen Frankreich spielt oder die deutsche Nationalmannschaft gegen das französische Team antritt.”
Nationalität soll keine Rolle spielen
Auch Klaus Boehnke forschte an der Jacobs University in Bremen zu den Auswirkungen der Weltmeisterschaft in Deutschland. Er kenne die Ergebnisse seines Kollegen Wagner, doch geht in seiner Einschätzung noch weiter. “Auch der Patriotismus baut auf dem Konzept der einzelnen Nationen auf. Ich würde dieses Konzept gern an sich zurückdrängen.” Der Sozialisationsforscher würde sich mehr auf eine gemeinsame Zusammenarbeit fern von nationalem Denken fokussieren. Für Fußball bedeutet das konkret: “Die nationale Zugehörigkeit spielt keine Rolle mehr. Ich würde jeglichen Bezug zu den einzelnen Ländern aufheben.” Ähnliches sei bei der Tour de France Alltag, dort habe man die Landesteams abgeschafft, sagt Boehnke.
Auch aus der Politik kommen seit wenigen Jahren vereinzelte kritische Stimmen zu EM und WM-Spielen. Die Grüne Jugend in Rheinland-Pfalz forderte gemeinsam mit weiteren grünen Landesverbänden 2016 die Deutschlandflaggen zur EM abzuhängen. Luis Hotten aus dem Vorstand der Grünen Jugend in Dortmund möchte, dass man sich kritischer mit dem Party-Patriotismus in Deutschland auseinandersetzt.
Ausgrenzung durch Flaggen
“Die Deutschlandflaggen können aus unserer Sicht oft ausgrenzend wirken für Menschen, die nicht aus Deutschland kommen oder als solche wahrgenommen werden.” Es gehe zu viel um Vaterlandsliebe und Nationalstolz bei Nationalspielen und nicht, um die Begeisterung für die Fußballmannschaft. Luis Hotten betont aber auch, dass es nicht zu einer Generalisierung kommen soll. “Ich will nicht jeder Person, die eine Deutschlandflagge schwenkt, vorwerfen, dass sie andere ausschließen will”, betont der Grünen-Politiker.
Doch nicht nur die Grüne Jugend stieß den Diskurs zu Deutschlandflaggen in der Vergangenheit an. Die Schülerunion fordert 2019 gemeinsam mit der CDU Baden-Württemberg unter anderem die Deutschlandflagge vor Schulen zu hissen. Zusammen mit der Flagge des Bundeslandes und der Europäischen Union, soll sie ganzjährig zu sehen sein. Der Bundesvorsitzende der Schülerunion Adrian Klant erklärt, dass durch die Flagge, die Werte Deutschlands nähergebracht werden sollen.
“Es ist ja nicht so, als ob auf der Flaggen ein Hakenkreuz zu sehen ist.”
“Ganz platt gesagt wollen wir die Werte des Grundgesetzes, also Einigkeit, Recht und Freiheit, vermitteln durch die Sichtbarkeit der Flagge”, erklärt der 18-Jährige. Die Empörung über den Vorschlag verstehe er nicht. Man könne auf Deutschland und die Ziele, wie Frieden oder Bildung für Kinder, auch stolz sein. “Es ist ja nicht so, als ob auf der Flaggen ein Hakenkreuz zu sehen ist”, meint der Bundesvorsitzende Klant. Grünen-Politiker Luis Hotten sieht besonders die Forderung Flaggen vor Schulen zu hissen kritisch. Der Aspekte der Ausgrenzung, den viele junge Grüne bei dem Hissen der Deutschlandflagge sehen, sei hier nochmals stärker vertreten. “Besonders dort, wo zum Beispiel viele geflüchtete Kindern Deutschunterricht bekommen, brauchen wir keine wehenden Deutschlandflaggen”, findet Hotten.
Sozialisationsforscher Klaus Boehnke schlägt vor, die Deutschlandflagge nicht mehr mit Werten zu assoziieren. Stattdessen solle man lieber eigene Flaggen, die für diese Werte stehen, benutzen. “Wenn der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft eine Regenbogenflagge als Binde trägt, ist das doch ein schönes Zeichen für sexuelle Vielfalt.” Es gäbe so viele Möglichkeiten der Identifikation, dass Flaggen der Nationen nicht mehr nötig seien, findet Boehnke.
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