Kommentar: Warum Streamingdienste die Musik zerstören

Die Musik hat sich in den vorigen zehn Jahren erheblich verändert. Heute bestimmen Streamingdienste, was Menschen hören. Warum diese Entwicklung dafür sorgt, dass die moderne Musik immer langweiliger wird. Ein Kommentar.

Vor zehn Jahren saß ich noch jeden Freitag vor dem Fernseher und habe VIVA eingeschaltet. 17 Uhr: Die neuen Single-Charts werden vorgestellt. Wird Lykke Li mit „I Follow Rivers“ von der Spitze verdrängt? Schafft Gusttavo Lima mit „Balada“ endlich den Sprung in die Top 3? Was passiert mit Lana Del Rey und „Summer Sadness“? Beantwortet wurden die Fragen, indem jeder präsentierte Song Platz für Platz samt Musikvideo gezeigt wurde. Ich erinnere mich an den Clip zu „Back in Time“ von Pitbull, der mich glücklich machte. (Yeah, ich darf ein paar Ausschnitte aus „Men In Black“ sehen.) Und an das Video von „La La La“ von Naughty Boy und Sam Smith, das mich verstörte. (Was ist mit dem Jungen los? Ich hab‘ bis heute Alpträume.) Für mich gab es kaum etwas Größeres, als mir jede Woche die Single-Charts anzuschauen, samt stranger Anmoderationen von Palina Rojinski.

Inzwischen hat sich einiges verändert. Bei mir, weil ich nicht mehr versuche, meine Mitschüler*innen zu beeindrucken, indem ich den Text des neuen Cro-Songs auswendig kenne. Auch träume ich nicht mehr davon, „Das Supertalent“ zu gewinnen, wenn ich mit meinem Kumpel eine Tanz-Choreographie zu „DJ Got Us Fallin‘ In Love“ von Taio Cruz und Pitbull einübe. Die Musikwelt hat sich verändert, weil verstörende Videos heute kaum noch Einfluss auf den Erfolg eines Songs haben und eine Länge von über drei Minuten zum Ausschlusskriterium für einen potenziellen Hit geworden ist.

Heute interessieren mich die Single-Charts nicht mehr. Auch Radio-Hits, große Spotify-Playlisten und die Songs der neusten TikTok-Trends sind für mich völlig bedeutungslos. Und das Problem ist nicht, dass ich älter geworden bin. Ich war damals großer Musikfan und bin es noch heute. Das Problem ist: Streamingdienste haben die Musik verändert. Und die Folgen sind gravierend: Moderne Musik wird immer langweiliger. Und das hat drei Gründe.

1. Das Recycling von alten Songs

Es ist ein Trend, der die moderne Musik seit einigen Jahren beherrscht: Cover-Versionen. Der Überbegriff für Songs, die auf einer zuvor veröffentlichten Komposition basieren. Ein Beispiel: Sänger*innen, Songwriter*innen und Produzent*innen schnappen sich einen bekannten Song aus den 80ern, produzieren ein modernes Dance-Instrumental und komponieren neue Vocals auf die Melodie des Originals. Der Blick auf die erfolgreichsten Songs des ersten Halbjahres 2022 verrät viel. „Beautiful Girl“ von Luciano (Original: Sean Kingston, 2007), „Down Under“ von Luude (Original: Men at Work, 1981), „Beggin‘“ von Måneskin (Original: Madcon, 2007), überall Cover-Versionen.

Wie groß der Anteil von Covern an modernen Hits in Deutschland ist, hat eine Überprüfung der beliebten Spotify-Playlist „Hot Hits Deutschland“ von Juli 2022 gezeigt. Das Ergebnis: Jeder vierte bis fünfte Song basiert auf einer alten Komposition. Jetzt neigt man, zu sagen: „Das ist doch nichts Schlechtes.“ Stimmt, Cover sind erstmal nicht schlecht. Sie können einen Song, den ich lange nicht gehört habe, auf eine coole Weise zurückbringen. Das Problem ist das Ausmaß. Ich möchte nicht jeden vierten Song auf Spotify schon auf eine Art kennen und drei verschiedene Versionen von „Destination Calabria“ im Radio hören. Ich möchte frische, innovative Musik entdecken. Mit kreativen Melodien und neuwertigen Sounds. Diesen Anspruch haben viele Interpret*innen offenbar nicht.

2. Das Überangebot an Musik

Ein großes Problem für den Musikmarkt war der radikale Wandel von CD- und MP3-Verkäufen zum Streaming. Vor zehn Jahren waren CDs und MP3s noch das große Ding. Inzwischen machen beides zusammen noch gerade 19,3 Prozent des Markts aus. Streamingdienste sind das Nonplusultra. Auf diesen Wandel war der Musikmarkt nicht vorbereitet. Früher galt es, zehn Euro in die Hand zu nehmen, um das neue Album von Ed Sheeran zu kaufen. Heute bezahlt man monatlich etwa zehn Euro an den Dienst des Vertrauens und kann sich zusätzlich zum neuen Ed Sheeran-Album gefühlt unendlich weitere Songs anhören. Der Wert von erfolgreichen Songs hat sich binnen weniger Jahre völlig verschoben. Für einen Stream bei Spotify erhalten Künstler*innen 0,003962 Euro. Die Reaktion: Mehr Musik, weniger Qualität.

Denn: Um ähnlich hohe Einnahmen generieren zu können, wie noch vor zehn Jahren, reicht es für Künstler*innen nicht, drei Songs im Jahr zu veröffentlichen (außer man heißt Ed Sheeran, Adele oder Calvin Harris). Nein, Künstler*innen müssen monatlich fast wöchentlich neue Musik veröffentlichen. Felix Jaehn hatte 15 Releases 2021. Das sind 1,25 Songs pro Monat. Die Folge für Hörer*innen: Ein totales Überangebot. Die Musik verliert nicht nur an monetärem, sondern auch an persönlichem Wert. Songs gehen auf Platz 1 und sind drei Wochen später nicht mal mehr in den Top 50. Sie geraten schnell in Vergessenheit. Und das nimmt der Musik ihren Wert.

3. Die abnehmende Songlänge

Menschen, die in den 90ern oder Anfang der 2000er aufgewachsen sind, kennen noch Songs mit einer Länge von über sechs Minuten. Besonders in der elektronischen Musik war das ein verbreitetes Phänomen. Dazu zähle ich zwar nicht mehr, bin aber aus meiner Kindheit und Jugend Songs von dreieinhalb bis vier Minuten Länge gewohnt. Man hat sich bewusst dafür entschieden, einen Song zu hören. Das ist heutzutage undenkbar. Ein Song in den Spotify Top 50 Deutschland von August 2022 hat eine durchschnittliche Länge von 2:31 Minuten. Die neue Single von Kontra K dauert 2:25, das neuste Release von RIN 1:51. Kaum hat ein Song begonnen, ist er auch schon zu Ende. Das Hören eines Lieds ist keine bewusste Entscheidung mehr.

Die Auslöser dieser Entwicklung sind wieder Streamingdienste. Marktführer Spotify zählt einen Aufruf, wenn Hörer*innen den Song mindestens 30 Sekunden gespielt haben. Alles danach hat für Künstler*innen keinen finanziellen Nutzen mehr. Also ist es besser, einen Song zwei Minuten lang zu machen, weil er in der gleichen Zeit doppelt so viele Aufrufe sammeln kann wie ein Vierminütiger. Aus ökonomischer Perspektive sinnvoll, aus musikliebender Perspektive frustrierend.

Nach alternativer Musik suchen

Die genannten Gründe haben dazu geführt, dass ich mich nach alternativer Musik umgesehen habe. Musik, in der der Industriedruck nicht so groß ist. Bei mir ist das die elektronische Musik. Dort gibt es zwar all das auch. Denn seien wir ehrlich: Es gibt kein Genre, auf das die Industrie keinen Druck ausübt. Aber es gibt Musik, bei der sich Künstler*innen davon weniger beeinflussen lassen, weil sie auf Einnahmen von Streamingdiensten nicht angewiesen sind. Dazu zählt zum Teil die elektronische, in der viele Hobbyproduzenten genau das machen, was sie lieben. Ob Songs viele Streams sammeln, ist zweitrangig. Die Entwicklung der modernen Pop-Musik hat für mich dazu geführt, dass ich das Radio inzwischen lieber ausgeschaltet lasse, wenn ich die Wahl zwischen dem x-ten „Destination Calabria“-Cover auf 1LIVE und Stille habe.

Beitragsbild: tomasi / pixabay

 

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