Präsenzsemester: Wie funktioniert nochmal studieren?

Das Sommersemester 2022 ist fast vorbei. Gute Zeit, um ein Resümee zu ziehen über dieses heiß ersehnte Stückchen Normalität. Über Geisterseminare, Partystimmung und den richtigen Mix aus Euphorie und Vernunft. Ein Kommentar.

Das Sommersemester neigt sich dem Ende entgegen. In der Rückschau stelle ich fest: Zu dritt im Blockseminar zu sitzen ist keine Vorstellung mehr, die den Körper zusammenzucken lässt. Wenn in der ersten Sitzung beschlossen wird, sich aufgrund so geringer Teilnehmerzahl zurück hinter die Webcam zu verziehen, spart das für viele im Gegenteil sogar viel Stress. Eine solche Regelung vor der Pandemie: undenkbar.

Online tritt dann ein weiterer Vorteil zutage. Die Frage an sich selbst, ob am heutigen Termin die Kamera „defekt“ ist, erübrigt sich. Sie wird eingeschaltet, das ist bei so wenigen Teilnehmenden einfach klar. Und obwohl verkatert ­– donnerstags ist im Kraftstoff Bier-Abend – ist man in der Kleinstgruppe doch bereits am frühen Morgen voll bei der Sache. Allein schon aus Respekt gegenüber den Dozierenden.

Aber mal ehrlich: Abseits solcher Kleingruppen-Benefits drängt sich eine ganz andere Frage auf. Wie überhaupt ist es möglich, dass es zu einer Situation kommt, in der drei – in anderen Fällen zwei – Studierende im Seminarraum zusammenkommen, der laut Teilnehmenden-Liste mit fünfundzwanzig gefüllt sein sollte? Das könne durchaus vorkommen, höre ich bereits einige Stimmen antworten.

Aus organisatorischen Gründen zum Beispiel; er oder sie hätte damit natürlich vollkommen recht. Würde sich aber gleichzeitig als jemand outen, der in diesem Semester eben nicht da war. Das Stimmungsbild derjenigen, die es waren, lässt nämlich nur eine Aussage zu: Explizit in diesem Semester waren viele Seminare kümmerlich besucht und die Motivation darin fragwürdig bis nicht vorhanden. Das kann kein Zufall sein und ist nicht zuletzt auch mein persönlicher Eindruck, sozusagen aus der teilnehmenden Beobachtung. Aber was soll’s, das Studienverhalten der anderen ist ja nicht mein Bier?

Gleichzeitig beobachte ich noch etwas anderes. Nämlich, dass es privat hoch her geht. Ich bin durch Dortmund gelaufen und habe gesehen: Flaschenwerfen auf dem Campus, Nackt-Baden im Kanal oder es sich vom Grill vor ungefähr jedem Hörsaalgebäude schmecken lassen. Nicht zu vergessen die vielbesuchten Festivals und Konzerte. Auch das ist eine Erkenntnis aus den vergangenen Monaten: Die Euphorie, sich wieder so auszuleben, wie vor der Pandemie, oder krasser, scheint so groß zu sein, wie viele das vorhergesagt hatten. In Conclusio: An der Ausdauer für egal was mangelt es nicht.

Was nun folgt, klingt erst einmal schwer verdaulich. Die Position des Ratschlaggebers, schlimmer noch des Mahners, ist ja von Natur aus unsympathisch und kritisch zu beurteilen. Es gibt aber zwei oder drei Punkte, die sich mir nach diesem Semester so unweigerlich logisch aufdrängen, dass sie zumindest einmal aufgeschrieben sein wollen. Sozusagen für das kollektive Studi-Gedächtnis. Sie sind so simpel wie einleuchtend.

Zunächst mal: Klar, ein drei-Personen-Seminar ist vorteilhaft. Aber eben nur, solange es die Ausnahme bleibt. Wird es zur Regel, nimmt sich niemand der Anwesenden mehr ernst. Weder die Studierenden noch die Dozierenden. Egal ob in persona oder durch die Kamera.

„Tja, eigentlich hatten wir das anders konzipiert, was machen wir denn nun…?“ Oder: „Mal unter uns, ist das in anderen Seminaren eigentlich ähnlich…?“, bekommen die Studierenden zu hören und müssen sich eine Antwort einfallen lassen. Pendeln hin und her irgendwo zwischen Intimität und unangenehmem Schweigen. Und bekommen an mancher Stelle beinahe Mitleid – wissen wiederum nicht mal genau, mit wem oder was.

Studium bedeutet, sich gemeinsam mit anderen bestimmte Themengebiete zu erarbeiten und seinen Wissenshorizont zu erweitern. Schrumpft dieser Sinn mit der Teilnehmendenzahl dahin, wird aus dem Seminar schnell Zeitverschwendung. Allein aus Respekt gegenüber den Kommiliton*innen darf die Uni im neuen (alten) Alltag nicht ausgespart werden. Egal, wie lang die Euphorie-Durststrecke war, oder wie spritzig die Party am vorigen Abend.

Darüber hinaus lohnt sich ein Blick zu den Neurowissenschaften. Ein gesunder Mix aus Euphorie und Vernunft, darauf kommt es laut landläufiger Psycholog*innen-Meinung an, wenn man auf der langen Bahn einigermaßen mithalten möchte. Im Gegenteil gilt: Wenn Glückshormone wie Serotonin oder Dopamin in großen Schüben ausgeschüttet werden, ähnelt das einem Sprint im Sport. Alle Kapazität wird in kurzer Zeit ausgeschöpft. Nun sind wir längst nicht alle Profi-Sportler*innen, die anschließend noch dazu in der Lage wären, es bis ins Ziel zu machen. Die Puste geht auf halber Strecke aus.

Oder um auf dem Campus zu bleiben: Persönliche Motivation und Antrieb gehen in den Keller, wenn sie auf eine ausgedehnte Phase der Euphorie zurückblicken. Wenn der Beginn des Sommersemesters der Startschuss war, befinden wir uns aktuell auf der Zielgeraden. Und meiner Beobachtung nach: Ohne Reserven jetzt für Freizeit oder Arbeit, da ist gar nichts mehr gewonnen. So höre ich mehr als einmal auf dem Campus: „Irgendwie fühle ich mich fertig. War schon alles ein bisschen übertrieben. Und für die Uni habe ich auch nicht wirklich was geschafft.“ Abgaben werden ins Ungewisse aufgeschoben, ganz gewiss mit schlechtem Gewissen. Befriedigender Zustand? Nicht nur der Respekt vor den anderen, auch der Respekt vor sich selbst kommt abhanden, wenn man sich als immatrikulierter Studierender lediglich einer Seite, der Euphorie-Seite, hingibt. Denn und das ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis:

Studium bedeutet auch: Dopamin-Detox – und ist damit eine gute Analogie zum Leben. Nicht unmittelbar mit Glücksgefühlen überhäuft zu werden, auf die Ziele hinarbeiten zu müssen. Sei das der Besuch von Seminaren, das Lernen für Klausuren oder einfach das Entdecken eines bisher ungekannten Denkers. Das dürfte die meisten noch gut an die Zeit in der Isolation erinnern; wir sollten es aus ihr mitnehmen. In Geduld geübt zu sein und das Ende egal welcher Durststrecke im Blick zu haben. Was jedes Kind wissen sollte, scheint uns im dahingehenden Semester abhanden gekommen zu sein. Nämlich, dass es sich erst nach getaner Arbeit so richtig ausspannen lässt.

Und natürlich feiern. Das gilt für den normalen Alltag genauso wie für die Zeit jenseits des langersehnten Freiheits-Schlupflochs. Der Gedanke, dass ich mir die kompromisslose Partyzeit jetzt einfach mal verdient habe, klingt nett, ist aber trügerisch. Er ist nicht von Dauer. Viel besser doch, am Ende über die Zielgeraden zu laufen. Vielleicht sogar mit einem Zeugnis in der Hand. Ich verspreche, anschließend feiert es sich noch doppelt so gut, oder besser noch, du wirst sogar gefeiert.

Beitragsbild: Pixabay

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