Sie kann sechs Minuten die Luft anhalten oder mit nur einem Atemzug über 100 Meter tief tauchen. Jennifer Wendland gilt als die erfolgreichste Apnoetaucherin Deutschlands. Dabei hatte sie eigentlich immer Angst vor der Tiefe.
Oberfläche. Einatmen. Stille. Die Füße bewegen sich sanft im kühlen Wasser. Ausatmen. Ruhe. Die braucht Jennifer Wendland jetzt. Wenn sie ihren Sport macht, wärmt sie sich nicht auf. Im Gegenteil. Sie versucht sich zu entspannen, den Kopf freizukriegen. Jede negative Gedanken, jeder Stressmoment könnte in ihrem Sport schlimme Folgen haben. Tödliche Folgen. Jennifer Wendland ist Apnoetaucherin. Sie kann mehr als 100 Meter tief tauchen, bis zu sechs Minuten unter Wasser bleiben – mit nur einem Atemzug. Deutschlandrekord. Sie schnallt sich einen Bleigürtel um. Die letzten Atemzüge, Jennifer versucht, so viel Sauerstoff wie möglich in ihre Lungen zu ziehen. Ihr Mund klappt zu, ihr Kopf verschwindet unter Wasser.
10 Meter. Die große Monoflosse an ihren Füßen sitzt perfekt. Geformt wie eine Walflosse, kommt Jennifer so viel schneller voran. In fließenden Wellenbewegungen geht es nach unten. Jennifer hat schon immer viel ausprobiert: Volleyball, Basketball, Unterwasser-Rugby. Im Jahr 2011 war sie auf der Suche nach einem neuen Hobby und kam über einen Anfängerkurs zum Apnoetauchen. Von Anfang an habe sich gezeigt, dass sie ein Talent für den Sport hat. „Damals war das Ziel, mit Flossen rund 45 Meter weit zu tauchen, ich habe ohne Flossen auf Anhieb 75 Meter geschafft“, sagt die 33-Jährige. Heute gilt sie als die beste deutsche Apnoe-Taucherin und hält Nationalrekorde in sechs verschiedenen Disziplinen.
30 Meter. Eigentlich hatte Jennifer immer Angst vor der Tiefe. Eine lange Zeit ist sie nur Strecken getaucht, mal mit, mal ohne Flossen. Aber in die Tiefe wollte sie nicht, das war dann doch zu unheimlich. Bis sie ihren Trainer kennenlernte, der ihr vor rund drei Jahren in Ägypten die Ängste nahm. Mit viel Übung und Erklärungsarbeit. Apnoetaucher tasten sich Schritt für Schritt an ihre Grenzen heran, ohne sie je zu überschreiten. Wer sich überschätzt, kann schnell in Gefahr geraten, im schlimmsten Fall sogar ertrinken. Kein Sport für „Adrenalin-Junkies“. Jennifer hatte noch nie einen Unfall unter Wasser. „Wenn ich mir auch nur ein kleines bisschen unsicher bin, mache ich den Tauchgang nicht.“
Immer die Kontrolle behalten
40 Meter. Jetzt muss sich Jennifer nicht mehr anstrengen, um nach unten zu kommen. Ihr Körper hat keinen Auftrieb mehr, die Schwerkraft zieht sie in die Tiefe. Wie im freien Fall. Entspannen kann sie sich aber nicht, bei jedem Tauchgang ist vollste Konzentration gefragt. Jennifer möchte die Kontrolle behalten. Immer. Nur dann weiß sie, dass unter Wasser nichts schief geht. Von großen Erwartungen macht sie sich frei. Nicht jeder Tauchgang muss perfekt sein, es gibt auch schlechte Tage. Darf es geben. Jennifer hat durch den Sport gelernt, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und in Worte zu fassen. Beim Tauchen muss Jennifer ehrlich zu sich und ihrem Trainer sein. Nur so können sie das Beste aus dem Training herausholen. Im Alltag ist das anders. Da zeigt sie kaum Emotionen, sagt sie. Gefühle machen Menschen verletzlich.
60 Meter. Ganz tief unten im Meer ist es still. Meint man. Aber auf ihrem Weg nach unten hört Jennifer jedes noch so leise Geräusch. Die Korallen im Riff unter ihr knacken, irgendwo fährt ein Tankschiff. Zu weit weg, um es zu sehen, aber das Brummen des Motors ist unter Wasser kilometerweit zu hören. In Ägypten erlebt Jennifer das täglich. Zweimal im Jahr fährt sie für drei bis vier Wochen nach Sharm El Sheik am roten Meer. Meistens im März und dann wieder in den Spätsommermonaten. Dort kann sie – anders als in Deutschland – richtig tief tauchen. Und dort trifft sie auch ihren Trainer, um sich auf Rekordversuche vorzubereiten.
Aber auch in ihrer Heimat in Essen trainiert die 33-Jährige fast täglich. Mehrmals in der Woche geht sie ins Schwimmbad oder ins Fitness-Studio, um Ausdauer und Kraft zu trainieren. Dehn- und Atemübungen macht sie zu Hause. Um das alles zu stemmen, achtet Jennifer auf eine proteinreiche Ernährung. Manchmal, an Ausnahmetagen, gibt es auch Kuchen. Ihre Lieblingssorte? „Rote-Bete-Schoko! Das ist das Beste, was ich jemals gegessen habe.“ Das Tauchen bedeutet eine enorme Belastung für den Körper, der auch ohne Sauerstoff ordentlich arbeiten muss. Um sich darauf vorzubereiten, muss Jennifer mental und körperlich in Topform sein. „Ich tue etwas, von dem andere sagen, es ist unmöglich. Das ist ein tolles Gefühl.“
Rekordhalterin in sechs Disziplinen
82 Meter. Nationalrekord. Keine andere Frau in Deutschland ist je aus eigener Kraft – nur mit einem Bleigürtel beschwert – so tief getaucht. Aber viel Zeit sich zu freuen, hat Jennifer noch nicht. Zuerst muss sie zurück an die Oberfläche. Noch einmal 82 Meter – diesmal gegen die Schwerkraft. In insgesamt sechs verschiedenen Disziplinen ist Jennifer Nationalrekordhalterin. Für ihren letzten Rekord im Oktober hat sie sich von einem Gewicht 117 Meter in die Tiefe ziehen lassen. Zwei Meter tiefer als der aktuelle Männerrekord. Auch an zwei Weltmeisterschaften hat sie schon teilgenommen – und zweimal Bronze gewonnen.
50 Meter. Die Rückkehr an die Oberfläche ist harte Arbeit. Ein Flossenschlag nach dem nächsten. Aber sie bleibt ruhig. Druck und Stress sind der Feind eines jeden Apnoetauchers. Das hat Jennifer verinnerlicht. In allen Lebenslagen. Auch auf der Arbeit, wenn es mal Probleme gibt. Erstmal tief durchatmen. Dann einen Plan machen. Jennifer arbeitet als Produktentwicklerin. Sie hat nur eine 70 Prozent Stelle, damit sie den Rest des Jahres in Ägypten trainieren kann. Von dem Sport leben kann sie nicht. Im Gegenteil: Bisher zahlt sie alles aus eigener Tasche. Sponsoren suchte sie bisher vergeblich.
Unterstützung der Familie
20 Meter. Auf den letzten Metern wird Jennifer von Rettungstauchern begleitet. Falls jetzt noch was passiert, kann sie sicher an die Oberfläche gebracht werden. Berichte über Unfälle beim Apnoetauchen machen sie traurig, aber auch wütend. Wenn etwas Schlimmes passiert, liegt das meistens daran, dass Leute alleine tauchen gehen oder sich an einfache Sicherheitsregeln nicht halten. Jennifer ist sich sicher: „Unfälle sind in der Regel absolut vermeidbar.“
Ihr Mann ist selbst ambitionierter Fahrradfahrer und kann die Leidenschaft trotz der Gefahren verstehen. Auch der Rest ihrer Familie unterstützt Jennifer bei ihrem Sport, aber natürlich machen sie sich auch Sorgen. Ihr Vater ist Arzt und kennt mögliche Folgen von Sauerstoffmangel. Aber aufhören ist für sie keine Option. „Die wissen ja alle, dass ich ein bisschen verrückt bin“, und ein bisschen Stolz blitzt in ihren Augen auf.
Oberfläche. Mit einem letzten Flossenschlag durchbricht sie die Wasseroberfläche. Luft. Atmen. Der erste Atemzug ist immer etwas Besonderes. Ein paar Sekunden dauert es noch, bis der Schiedsrichter den erfolgreichen Tauchgang bestätigt. Er streckt eine weiße Karte in die Höhe: Zeit zu Feiern. Tauchen, das ist für Jennifer auch herausfinden, was sie alles schaffen kann. Es ist das Gefühl von absoluter Freiheit. Pläne für einen neuen Rekordversuch im nächsten Jahr gibt es bereits, mehr will Jennifer aber noch nicht verraten.