Abzug aus Afghanistan: Ein Fazit aus 20 Jahren Krieg

Zwanzig Jahre ist es fast her, seit die Militärkoalition unter Führung der USA in Afghanistan einmarschiert ist. Nun will Präsident Joe Biden die 12000 Soldaten, die noch in Afghanistan stationiert sind, endgültig abziehen.  Was bedeutet das für das Land?

Der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 erschütterte die ganze Welt. Über 2000 Menschen starben. Als Konsequenz marschierten Truppen der USA-geführten Koalition einen Monat später in Afghanistan ein. Ziel der amerikanischen Regierung unter George W. Bush Jr: die Zerschlagung von al-Qaida und des Taliban-Regimes, das die Terrororganisation im Land geduldet hatte. Nun, fast 20 Jahre später, sollen die letzten US-Soldaten das Land verlassen. Unter der Regierung Trump hatten die USA 2020 mit der Taliban zuvor das Abkommen von Doha unterzeichnet. Darin ist ein Abzug aller US-Truppen vorgesehen. Die Frist dafür läuft im September 2021 ab.

Vor dem Hintergrund des Truppenabzuges stellt sich die Frage: Hat man den Kampf gegen den Terror gewonnen? Hat man es geschafft, die Taliban und al-Qaida zu entmachten? Sind Amerikaner:innen jetzt sicherer und vor allem — sind die Afghanen:innen jetzt besser dran als vor dem Einmarsch der ausländischen Truppen? Prof. Dr. Carlo Masala, Professor für internationale Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München, ist skeptisch: “Der Grund für den Abzug ist nicht der Erfolg des Einsatzes, sondern das Wahlversprechen des Präsidenten”. Den symbolisch gewählten Zeitraum zwischen amerikanischem Nationalfeiertag und dem 20. Jahrestag von 9/11 empfindet er als besonders unglücklich: “Damit gibt man noch mal deutlicher zu als zu jedem anderen Datum, dass man die gesetzten Ziele nicht erreicht hat”. Einen richtigen Zeitpunkt für einen Abzug aus Afghanistan gäbe es allerdings nicht. “Wenn es einen gegeben hätte, dann wäre das vor 10 Jahren gewesen”,sagt Masala.

Militärischer Erfolg, politischer Misserfolg

Zunächst hatte die Invasion ihr direktes militärisches Ziel erfüllt gehabt. Die Taliban-Regierung unter Mohammad Omar wurde gestürzt und die Strukturen der al-Qaida weitgehend zerstört. Eine Rückkehr in diesen Zustand hält Masala auch nach dem Abzug der Koalitionstruppen für unwahrscheinlich. “Die Taliban wird nicht so dumm sein, so etwas jemals wieder in Afghanistan zuzulassen. Sie wissen, dass es dann wieder Militärschläge geben würde”, sagt der Experte.

Weiterreichende politische Ziele der Koalitionsstaaten seien allerdings alle gescheitert. Weder werde sich die jetzige Regierung nach dem Truppenabzug gegen die Taliban behaupten können, noch wird sich die Taliban auf einen Kompromiss einlassen, ist sich Masala sicher. Auch die Demokratisierungs-Agenda, die vor allem europäische Mitglieder der Koalition unterstützt hatten, sei nie zustande gekommen. Dazu komme, dass es auch militärische Rückschritte gegeben hat. Zwar regiert die Taliban nicht mehr in Kabul, ihr Einfluss ist in den letzten Jahren aber wieder stark angestiegen. 70 Prozent des Landes seien unter ihrer Kontrolle, schätzt Masala.

Der stetig steigende Einfluss der Taliban im Land lässt sich auch auf die afghanische Bevölkerung und ihren Eindruck von den fremden Militär-Streitkräften zurückführen. “Wenn man so lange in einem Land stationiert ist, lässt es sich kaum vermeiden, dass sich die Bevölkerung besatzt fühlt. Das hat in erster Linie nichts mit dem Verhalten der Soldaten zu tun, sondern allein an dem langen Zeitraum, den man sich dort aufhält.” Der Abzug der ausländischen Truppen wird von weiten Teilen der afghanischen Bevölkerung daher positiv wahrgenommen —  obwohl sich die Anschläge der Taliban auf Zivilisten in den letzten Wochen vermehrt haben. Am 14.05.2021 gab es einen erneuten Anschlag auf eine Moschee in Kabul. Die Explosion kostete 12 Zivilisten das Leben.

Was erwartet Afghanistan nach dem Abzug?

“Das afghanische Militär und die afghanische Polizei sind der Taliban nicht gewachsen”, ist sich Masala sicher. Einzelne Bereiche würden zwar recht gut funktionieren, diese seien aber für eine erfolgreiche Verteidigung nicht ausreichend. So könne etwa die recht starke Luftwaffe nicht in der Hauptstadt Kabul eingesetzt weden — die Gefahren für Zivilisten wären zu hoch. “Das Problem ist nicht die Stärke der Taliban, sondern die miserable Lage der afghanischen Bevölkerung. Abgesehen von fehlender Infrastruktur und der damit verbunden mangelhaften Kontrolle von Provinzen durch die Regierung ist es die massenhafte Armut und der Mangel an Möglichkeiten für die Menschen. Der Großteil Afghanistans teilt sich in ethnische Gruppierungen, die unabhängig von Kabul agieren. In diesen Gebieten hat die Taliban mehr Einfluss als der Staat und bietet den Menschen besser bezahlte Jobs als es der Staat kann”, sagt Masala.

“Mit hoher Sicherheit werden die Taliban auch Kabul zurückerobern und ihr Ziel eines islamischen Emirats nach Vorbild der Scharia aufzubauen, weiter verfolgen”, so Masala weiter. Das lasse sich nicht vermeiden. Dieses Ziel hatte die Taliban während der gesamten Besatzungszeit weiter verfolgt. Die Koalitionsmitglieder stehen daher vor einem Dilemma: “Die Taliban hat sich immer an den Vertrag von Doha gehalten und somit keine Koalitionstruppen im Land angegriffen. Würde man den Abzug aufgrund der starken Angriffe auf die zivile Bevölkerung in Afghanistan verschieben, so muss man vielleicht damit rechnen, dass die Taliban sich nicht mehr an das Abkommen halten wird und auch Koalitionstruppen angreifen.”

Sollten die Truppen allerdings im Land verbleiben, gäbe es für die Taliban keinen Grund, sich weiter an das Abkommen von Doha zu halten. Werden die Truppen jedoch wie geplant abgezogen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Taliban die Macht im Land zurück erobert. Abschließend kann man nur hoffen, dass sich die Taliban auch in Zukunft an das Abkommen von Doha halten wird — besonders im Bezug auf die vorgesehenen Friedensverhandlungen mit der aktuellen afghanischen Regierung.

 

Teaser- und Beitragsbild: pixabay.com/WikiImages

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