Männlichkeit befindet sich nicht erst seit ein paar Jahren im Wandel und per se toxisch ist sie schon gar nicht. Doch was vergiftet, ist eine stereotypisch männliche Verhaltensweise, unter der alle Geschlechter leiden. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen müssen sensibilisiert werden für ein Thema, das jahrelang tabu war. Ein Versuch, Verständnis für das Männlichkeitsmysterium zu schaffen.
In den letzten Jahren erzielte ein Thema große mediale Aufmerksamkeit: Männlichkeit. Sie wurde thematisch ausgeschlachtet, fast als wäre sie ein archäologisches Artefakt. Medien und Forschung setzten sich mit dem Phänomen der „Männlichkeit im 21. Jahrhundert“ auseinander. Was darf, was sollte, was kann der „moderne Mann“ und wie hat er zu sein. Ergebnis: Überforderung, Sprachlosigkeit und Irritation bis hin zur völligen Desillusionierung. Bei wem? Bei den Männern selbst. Es erschienen zahlreiche Bücher, Essays und Studien zu dieser als fragil und irritierend definierten Männlichkeit. Und wenn sie nicht so zerbrechlich war, dann auf jeden Fall toxisch. Somit war die Message völlig klar: „Der Mann steckt in der Krise“. Denn einerseits wird eine moderne, profeministische und fortschrittliche Männlichkeit gefordert, andererseits dominiert immer noch ein klischeebehaftetes, konservatives Rollenbild weltweit unser Leben.
„Vielen Männern fehlt der Mut, ihre Männlichkeit zu hinterfragen“
Diese Widersprüchlichkeit, was Männlichkeit sein sollte und wie sie dann aber in der Realität gelebt wird, belastet besonders Männer, die sich bewusst mit ihrer eigenen Definition vom Männlich-Sein auseinandersetzen. Linus ist 27, Student, arbeitet nebenbei in einem Startup und setzt sich seit zwei Jahren intensiv mit seiner eigenen Männlichkeit auseinander. „Auslöser war meine Ex-Freundin, die unter anderem die Beziehung beendet hat, weil mein Verhalten ihr oft zu ,toxisch-männlich’ war. Dadurch habe ich überhaupt erst begonnen, mich mit meiner Männlichkeit auseinanderzusetzen, und gemerkt, welchen Nachholbedarf ich da eigentlich habe. Und nicht nur ich.“
Dass Linus das große Angst gemacht hat, hätte er wohl vor zwei Jahren noch nicht zugeben können. Jetzt spricht er in seinem Freundeskreis viel über Männlichkeit. „Wie wir sie für uns selbst definieren und was alles so toxisch daran ist. Unsere Freundschaften und Beziehungen sind durch diese Gespräche noch vertrauter und vor allem intensiver geworden. Ich habe festgestellt, dass eine allgemeine Unsicherheit mit der eigenen Männlichkeit bei sehr vielen Männern existiert und dass das Thema noch viel zu wenig präsent ist, weil die meisten Männer entweder Hemmungen haben, darüber zu reden (so typisch toxisch männlich) oder weil der Mut fehlt, überhaupt seine Männlichkeit zu hinterfragen.“
„Die meisten meiner Freundinnen haben sich noch nie Gedanken über Männlichkeit gemacht“
Mittlerweile ist das Thema ein ironischer Insider in Linus‘ Freundeskreis geworden. Wenn jemand unbedacht irgendetwas stereotypisch Männliches tut oder sagt, wird er oder sie mit „so toxic masculin“ getadelt. Die Beschäftigung mit der Thematik und der eigenen Identifikation als Mann hat viel in Linus bewegt. „Für mich war es eine Art Therapie mit mir selbst! Was positiv erschreckend ist, dass ich mich selbst so stark sensibilisiert habe, dass mir täglich mehrmals Verhaltensweisen von toxischer Männlichkeit auffallen. Mansplaining, alles als einen Wettkampf zu begreifen, nicht über seine Probleme zu sprechen, schon gar nicht über Emotionen, geschweige denn sich seine Fehler vor anderen einzugestehen.“
Männlichkeit ist für Linus zu einem Herzensthema geworden, das er versucht, wie er selbst meint, „an den Mann zu bringen, aber auch an die Frau“. „Ich habe auch mit vielen Freundinnen über das Thema gesprochen. Die meisten haben sich noch nie so wirklich Gedanken über Männlichkeit gemacht und waren unfassbar dankbar für das offene Gespräch und den Input. Einige Freundinnen kamen im Nachhinein zu mir und meinten, dass sie vieles jetzt besser verstehen könnten und proaktiv auch an ihrem Verhalten in Bezug auf Männlichkeit etwas ändern wollen.“ Linus findet, dass in erster Linie Männer für andere Männer ein gutes Vorbild sein müssten. Aber auch Frauen tragen dazu bei.
Die Gesellschaft vermittelt ein einseitiges Männerbild
Frauen, wie natürlich auch Männer, suggerieren unbewusst, wie das „andere“ Geschlecht zu sein hat. Von klein auf an werden wir mit einseitigen Geschlechterbildern sozialisiert. Das beginnt damit, dass Mütter Jungs sagen, dass sie nicht weinen, sondern stark sein sollen, dass sie ihnen blaue Sachen und Spielzeugautos kaufen, anstatt Puppen. Auch später verankern Frauen durch die Gesellschaft ein einseitiges Idealbild von Männlichkeit und geben Männern das Gefühl, nur wenn sie diesem entsprechen, seien sie so richtig männlich. Männlichkeit als Ultimatum.
Das bestätigt auch die Soziologin und Genderforscherin Paula-Irene Villa Braslavsky, die als Professorin an der Ludwig-Maximilian-Universität in München arbeitet. Männlichkeit werde stark mit einer gewissen Körperlichkeit in Verbindung gebracht. Dazu zählen ein muskelbepackter Körperbau, eine Mindestgröße von 1,80 Meter, voller Bartwuchs und markante Gesichtszüge. In der Soziologie werde Männlichkeit aber, wie Weiblichkeit auch, als etwas völlig Offenes verstanden. Männlich sei rein das, was dafürgehalten werde, so die Soziologin.
Natürlich wird fernab von der Wissenschaft Männlichkeit leider nicht als so etwas Offenes verstanden und gelebt. Dem ist sich auch Villa Braslavsky bewusst: ,,Da gibt es jegliche Annahmen, Projektionen und Unterstellungen von Männlichkeit, die auf der Ebene des Normativen liegen: Männer sind stark, unemotional, weniger kommunikativ. Männer sind ehrgeizig, kopflos und triebgesteuert. Männer sind gefährlich, riskant für ihre Umwelt, abenteuerorientiert, rücksichtslos.“
Frauen haben widersprüchliche Erwartungen an Männer
Laut einer Untersuchung, die das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hat, ist die Identität von Männern und ihr Rollenverhalten sehr eng mit den Erwartungen von Frauen verzahnt. Spannend ist vor allem eine Teil-Umfrage, die zeigt, inwiefern sich die Wahrnehmung von Männlichkeit bei Frauen und Männern gleichen. Dabei wurden Männer und Frauen gefragt, welche Eigenschaften sie einer attraktiven Männlichkeit zuordnen würden. Männer assoziierten mit Männlichkeit vor allem Ehrgeiz, Disziplin, Durchsetzungsvermögen, die Fähigkeit, Konflikte zu schlichten, aber auch eine gute Versorgung für die Familie sicherzustellen. Wie erwartet wurden Eigenschaften wie Gefühle zu zeigen, Zärtlichkeit, sich unterordnen zu können, Romantik und Selbstkritik nur wenig mit Männlichkeit in Verbindung gebracht.
Aussagekräftig waren ebenso die Ergebnisse der Probandinnen, die zeigten, dass Frauen hohe und teils widersprüchliche Anforderungen an den „richtigen Mann“ haben. Einerseits erwarteten Frauen eine Männlichkeit entgegen dem alten Rollenbild: der „moderne Mann“ als ein liebevoller, führsorglicher, respektvoller Mensch. Andererseits wurden ebenso Eigenschaften als attraktiv empfunden, die der stereotypischen Männlichkeit entsprechen und toxisches Verhalten begünstigen.
Was Frauen gegen toxische Männlichkeit tun können
Frauen sollten keineswegs für das toxische Männlichkeitsbild, unter dem sie genauso leiden wie Männer selbst, verantwortlich gemacht werden. Aber sie sollten sich bewusst machen, was Männlichkeit für sie bedeutet und wie ihr Verhalten ungesunde Männlichkeit fördert – etwa durch Kommentare wie, „Der hat keine Eier in der Hose!“ oder „Was für ein Schlappschwanz!“ Einfach sein lassen. In Beziehungen darauf zu achten, dass keiner von beiden die Hosen anhat, und ein Gleichgewicht herzustellen, kann ein erster Schritt sein. Denn gute Beziehungen sind hosenfreie Zonen.
Frauen sollten bewusst Männer in ihrer Maskulinität bestärken, die nicht dem typischen Männlichkeitsbild entsprechen, weil sie vielleicht schmächtig sind, sensibler oder „unmännliche“ Hobbys wie Ballett oder Mode haben. Ebenso öfter mal mit Freunden, dem Partner, Vater oder Bruder über das eigene „männliche“ Empfinden sprechen. Männer brauchen in einer freigewählten, gesunden Männlichkeit Unterstützung von anderen Männern, aber eben auch von Frauen. Vor allem emotional.
Die Wunschvorstellung, dass uns Geschlechterunterscheidung irgendwann egal sein wird, scheint noch weit weg. Denn die eigene Persönlichkeit und das Ego definieren sich in den meisten Fällen eben immer noch über die Geschlechts- und Genderidentifikation. Auch die Stereotypen werden nicht so schnell aus unserer Gesellschaft verschwinden. Doch wir können aufhören, in Genderklischees zu denken. Anstatt alles als männlich oder weiblich zu kategorisieren, sollten wir lieber in menschlich und unmenschlich denken.
Tipp der Redaktion:
Die dokumentarische Miniserie The 8 Club sich mit toxischen Maskulinität auseinander. Der englische Autor JJ Bola des Buches Sei kein Mann ( Originaltitel: Mask Off) diskutiert intime und emotionale Themen mit Männern verschiedener Gender und sexueller Orientierungen. Vier inspirierende Episoden à 20 Minuten.
“Frauen sollten keineswegs für das toxische Männlichkeitsbild, unter dem sie genauso leiden wie Männer selbst, verantwortlich gemacht werden.”
Ach so? In einer Spezies die durch hochkompetitives Sexualverhalten gekennzeichnet ist… kann da keine Mitverantwortung möglich sein (das ist eine Fangfrage)?
Sorry, aber genau das ist doch Teil des Problems in diesen ganzen Artikeln über Männlichkeit (geschmückt mit toxisch feministischen Begriffen).
Getreu dem Motto “Frauen können das MINDESTENS so gut wie Männer”, möchte ich behaupten: Frauen haben MINDESTENS genauso Verantwortung dafür wie Männer.
Es gibt keine toxische Männlichkeit, es gibt nur toxische Verhaltensweisen. So wie diese ausgeprägter bei Männern sein mögen, sind sie keinesfalls “männlich” und sollten auch nicht mit “Männlichkeit” assoziiert werden.
Wer einen Artikel darüber schreiben möchte, was Männlichkeit ist und was nicht, sollte das vielleicht ganz vorne klarstellen, anstelle das übliche 0-8-15 Gelaber nachzubrabbeln (welches ich als toxisch feministisch bezeichnet).
Und wie schön selbstherrlich toxische Männlichkeit die Täterrolle bekommt und das Gegenstück toxische Weiblichkeit die Opferrolle… das ist nicht nur für die Begrifflichkeiten Männlichkeit und Weiblichkeit (was auch immer man darunter explizit verstehen mag) unangemessen, aber auch nicht zeitgemäß.
Frauen machen sich nicht bloß zu Komplizen (ja, wir haben ja schon begriffen, dass es sich um weibliche Komplizen handelt durch das Wort Frau… Redundanz im Schreiben hat ja neue Stilblüten getrieben seit einigen Jahren), sondern sie stehen unter dem starken Verdacht Mitverursacher (oder sogar Hauptverursacher) zu sein.
Und nicht weil Frauen oder Männer das explizit sich so ausgedacht haben, sondern weil es biologisch über das kompetetive Sexualverhalten in unseren Genen liegt.
Die sinnvolle Auseinandersetzung damit, setzt voraus, dass man diese Tatsache auch akzeptiert.
Was genau “toxisch” ist und was nicht, das sollte noch jeder mit sich selbst erst einmal aushandeln. Nur weil einige dieses Label nutzen, heißt es nicht, dass jeder es so auch akzeptieren muss. Ehrgeiz, Wettkampf, Körperkultur, das ist nicht automatisch toxisch. Es ist erst dann toxisch, wenn es uns selbst und/oder unserer Umgebung schadet. Wobei Ehrgeiz und Wettkampf darauf ausgelegt sind, dass unter Umständen auch ein oder mehrere Leute verlieren, damit einer (oder mehrere) gewinnen könnten.
Hier begeben wir uns in den Bereich der persönlichen Moral. Die dürfte bei jedem Menschen stark unterschiedlich ausgeprägt sein. Hier in “gut” und “schlecht” zu urteilen ist ohne weiteres gar nicht möglich, da diese Begrifflichkeiten sehr schnell ins Schwanken geraten (in der populären Durchschnittsmeinung) sobald man einige Details an diesem oder jenem Ende ergänzt.
Um aber den Bogen zu schließen: Was toxische Verhaltensweisen anbelangt, gehe ich ganz d’accord, dass man diese hinterfragen sollte.
Ich schlage vor: Überprüft mal Eure toxische Wortwahl (ja ja ihr plappert nur Begriffe nach, aber “kritisch hinterfragen” und so).
Vielleicht käme das dann auch besser an bei einigen dieser ach so bösen und fragilen Männern…