Warum die Fünf-Prozent-Hürde fallen muss

Bundestagswahl 2013: Ganze sieben Millionen Wähler*innen haben ihre Stimme Parteien gegeben, die es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben. Diese sieben Millionen Stimmen haben damit ihre Gültigkeit verloren. Das entspricht knapp 16 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Denn bei der Bundestagswahl können nur Parteien einen Sitz im Parlament bekommen, die in ihrem Wahlkreis auf mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen gekommen sind. Sieben Millionen Stimmen, die nicht zählen. Eine konsequente Demokratie ist das nicht. Die Fünf-Prozent-Hürde sollte abgeschafft und der Zugang zum Parlament für kleine Parteien erleichtert werden.

Im Jahr 2013 erreichte die Anzahl an verfallenen Stimmen ihren bisherigen Höhepunkt seit Einführung der Fünf-Prozent-Hürde im Jahr 1953. Ironischerweise feierte die Hürde, auch Sperrklausel genannt, im Jahr 2013 ihren 60. Geburtstag.

Das Wahlrecht gilt als eines der wichtigsten Instrumente in der repräsentativen Demokratie. In Artikel 38 des Grundgesetzes heißt es: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Wie ist es zu rechtfertigen, dass wie bei der Bundestagswahl 2013 etwa sieben Millionen Wähler*innenstimmen nicht galten, obwohl doch alle Stimmen gleich sind? Der Bielefelder Staatsrechtler Franz Mayer ordnet es so ein: „Die Stimmen sind im Zählwert gleich, das heißt, jede Stimme zählt eins. Das ist jedoch keine Erfolgswertgleichheit.“ Die Stimmen sind also gleich viel wert, aber praktisch hat nicht jede Stimme die gleiche Chance auf Erfolg. „Die Durchbrechung der Erfolgswertgleichheit geht, aber nur bei guter Begründung. Sperrklauseln sind letztlich ein Demokratieproblem und die Rechtfertigung dafür muss entsprechend stark sein“, erläutert Mayer.

Beispiel EU: Mehrheiten trotz eingeschränkter Sperrklausel

Das Hauptargument für die Sperrklausel ist seit jeher die Arbeitsfähigkeit der Regierung zu erhalten. Im Jahr 1953 entschied sich die damalige Ministerpräsidentenkonferenz in Rücksprache mit den Alliierten für die Sperrklausel. Ziel war es, einer Zersplitterung der Parteienlandschaft wie in der Weimarer Republik entgegenzutreten und mithilfe der Klausel stabile Mehrheiten zu schaffen.

Franz Mayer lehrt Staatsrecht an der Universität Bielefeld. Die rechtliche Grundlage für eine Sperrklausel muss gut begründet sein, sagt er. Foto: Universität Bielefeld.

Bei der EU-Wahl gibt es für Deutschland mittlerweile keine Sperrklausel mehr. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) im Jahr 2011 entschieden. Die Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Wahlrechts- und Chancengleichheit der Parteien, so die Begründung.

Wozu hat die Aufhebung der Hürde im EU-Parlament seitdem geführt? Deutsche Kleinstparteien wie die Freien Wähler, die NPD, die Piraten oder die Partei konnten Sitze im EU-Parlament erringen. Kritiker*innen mahnen, dass das den Einfluss Deutschlands im Parlament geschwächt habe. Vor allem, wenn sich die Abgeordneten kleiner Parteien keiner großen Fraktion anschließen. Damit fehlten den großen Fraktionen, so bemängeln die Kritiker*innen, bei einer Abstimmung möglicherweise die ausschlaggebenden Sitze. Dieses Argument zeigt vor allem eines: Die Fraktionen fürchten, dass fraktionslose Abgeordnete anders votieren als, sie es sich wünschen. In der Praxis stellt sich darüber hinaus die Frage, wieso in einem gleichberechtigten Staatenbund wie der EU die Position eines bestimmten Landes hervorstechen sollte.

Zumal Deutschland nur eines von vielen Ländern ohne Sperrklausel bei EU-Wahlen ist. Aktuell haben 14 der insgesamt 28 EU-Länder keine Sperrklausel. Die übrigen Länder haben eine Hürde zwischen 1,8 und knapp sechs Prozent. Dennoch kann von einer allzu großen Zersplitterung im EU-Parlament nicht die Rede sein, denn lediglich 38 von insgesamt 705 Abgeordneten sind fraktionslos. Und obwohl die Hälfte der EU-Länder keine Sperrklausel mehr hat, bleiben die sieben großen Fraktionen im EU-Parlament bestehen. Die Größte davon ist nach wie vor die Europäische Volkspartei (EVP).

Sperrklausel birgt weitere Hürden für Kleinstparteien

Bei den Kommunalwahlen gibt es mit Ausnahme der Stadtstaaten seit 2008 ebenfalls keine Sperrklausel mehr. Seitdem scheitern Parteien mit ihrer Forderung nach einer neuen Hürde regelmäßig an den Gerichten. Zuletzt wollten in NRW die damals stärksten Parteien CDU, SPD und Grüne erneut eine 2,5-Prozent-Hürde einführen. Der Verfassungsgerichtshof NRW urteilte 2017 dagegen – die Hürde sei verfassungswidrig.

Zum Versuch großer Parteien die Hürde auf kommunaler Ebene wiedereinzuführen, lässt sich ein Gerichtsurteil zur Bundestagswahl 2013 gut übertragen. Das Bundesverfassungsgericht räumte ein, dass gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr bestehe, dass „die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von Gemeinwohlerwägungen von dem Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt.“ Doch wie lässt sich überprüfen, ob die Beweggründe der Regierungsparteien von Macht oder vom Gemeinwohl geleitet sind?

Sebastian Everding von der Tierschutzpartei Dortmund mit einem Bienenfutterautomaten. Ohne die Fünf-Prozent-Hürde könnte sich seine Partei im Bundestag für solche Projekte einsetzen. Foto: privat.

Mit der Sperrklausel geht für Kleinstparteien, die nicht im Bundestag sitzen, die Pflicht einher, schon vor der Wahl Unterstützungsunterschriften zu sammeln. Um überhaupt auf dem Wahlzettel aufzutauchen, müssen sie Unterschriften von 0,1 Prozent der Wahlberechtigten in ihrem Bundesland bekommen – maximal 2000 Unterschriften pro Landesliste und 200 pro Direktkandidat. Damit sollen sie die Ernsthaftigkeit ihrer Bewerbung beweisen. Sebastian Everding ist Mitglied der Tierschutzpartei Dortmund. Seine Partei hat 2017 bei der Bundestagswahl 0,8 Prozent der Zweitstimmen erreicht. Er findet nicht, dass ohne die Sperrklausel eine Regierungsbildung schwieriger wäre: „Da viele der stabilsten Demokratien keine oder nur sehr niedrige Wahlhürden haben, ist dieses Argument durch die Praxis widerlegt.“ Dortmund ist für ihn ein gutes Beispiel. Seit September 2020 habe die Tierschutzpartei einen Sitz im Stadtrat, der aus insgesamt 13 Parteien bestehe. „Dies zeigt deutlich die politische Vielfalt unseres Landes und ist ein klares Zeichen für eine funktionsfähige Demokratie – auch ohne jede Sperrklausel.“

In Skandinavien wird ohne feste Mehrheit regiert

Auch der Blick ins Ausland zeigt, dass Regieren ohne oder mit geringeren Sperrklauseln möglich ist. Vor allem in den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen sind Minderheitsregierungen eher die Regel als die Ausnahme. Dort gibt es zwar zum Teil Sperrklauseln, sie liegen aber mit zwei bis vier Prozent niedriger als in Deutschland. Die Sorge, dass die Regierung deshalb handlungsunfähig wird, besteht hier nicht. Um Gesetze beschließen zu können, müssen die Regierungsparteien zusätzlich Oppositionsparteien überzeugen. Eine Aufhebung der Sperrklausel könnte zwar durchaus dazu führen, dass mehr Parteien im Deutschen Bundestag sitzen. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass dadurch eine Mehrheitsbildung unmöglich wird.

Die Bundestagswahl steht an und die Wahlberechtigten grübeln, bei wem sie am 26. September ihr Kreuz machen. Einige Studierende wählen jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben den Bundestag. Für alle, die mit Kleinstparteien sympathisieren, bleibt die Frage: Wähle ich eine Partei, die sicher den Einzug ins Parlament schafft oder eine, die meine Interessen im Falle des Falles besser vertritt?

Beitragsbild: unsplash/Claudio Schwarz

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