Der Unfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi liegt mittlerweile elf Jahre zurück. Die Aufräumarbeiten stehen dennoch erst am Anfang eines jahrzehntelangen Prozesses. Kurt blickt auf die Geschehnisse und deren Konsequenzen.
Am 11. März 2011 blickte die ganze Welt besorgt nach Fukushima in Japan. An diesem Tag erschütterte ein Seebeben der Stärke 9.1 die Ostküste des Landes. Das weltweit viertstärkste, bisher gemessene Beben laut der wissenschaftlichen Behörde US Geological Survey. Ein Tsunami folgte und überflutete große Teile des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi. Daraus entwickelte sich eine Unfallserie in den Reaktoren, die schließlich zum Super-GAU führte.
Laut Berichten der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), brach bereits durch das Erdbeben die externe Stromversorgung zusammen. Die nachfolgenden Tsunami-Schäden führten zum Versagen der Kühlung. Selbst eine automatisch eingeleitete Reaktorschnellabschaltung nach dem Erdbeben konnte die Überhitzung in drei der sechs Reaktoren nicht verhindern. Es kam zu Kernschmelzen.
„Das ist der Punkt, den man stets unter allen Umständen verhindern will“, erklärt Christoph Hugenschmidt. Er ist Professor für Experimentalphysik an der Technischen Universität München und arbeitet dort am Forschungsreaktor FRM II. „Kernschmelze bedeutet im Wesentlichen, dass der in den Brennstäben enthaltene uranhaltige Brennstoff beginnt zu schmelzen und nach unten sinkt.“ Das heiße Material könne sich anschließend durch den Reaktordruckbehälter fressen und sei damit vollkommen unkontrollierbar. Bei Wasserstoffexplosionen in Folge der Kernschmelze gelangte das radioaktive Material in Fukushima Daiichi aus dem Inneren des Kraftwerks in die Atmosphäre und auf das umliegende Gelände.
Die dichtbesiedelte Hauptstadt Japans liegt nur 240 Kilometer südöstlich vom Unfallort entfernt. Von schwerwiegenden Folgen blieben die über dreizehn Millionen Bewohner*innen der Präfektur Tokio jedoch verschont. „Der Wind hat einen Großteil der radioaktiven Teilchen anfangs Richtung Osten aufs Meer hinaus geweht“, erinnert sich Christoph Hugenschmidt. In der unmittelbar an das Kraftwerk angrenzenden Region lebten wesentlich weniger Menschen. Insgesamt wurden dort laut japanischen Regierungsangaben etwa 150.000 Personen in Folge der Atomkatastrophe evakuiert.
Freigesetzte, radioaktiven Stoffe können Menschen auf zwei verschiedene Arten schädigen, erklärt Christoph Hugenschmidt: „Das eine ist die Strahlung, neben Beta-Strahlung ist das im Wesentlichen Gamma-Strahlung. Dieser sind die Menschen direkt vor Ort während der Aufräumarbeiten ausgesetzt. Das andere, für den menschlichen Körper Gravierendste, ist die radioaktive Kontamination.“ Diese bezeichne den unmittelbaren Kontakt mit den zerfallenden Atomen über die Haut, die Atemwege oder Lebensmittel. Damit die schädlichen Partikel nicht in die Nahrungskette übergehen, trugen Arbeiter*innen nach der Katastrophe ganze Schichten des verunreinigten Bodens ab. Fisch aus den angrenzenden Küstengewässern wird laut dem japanischen Fischereiministerium bis heute streng auf abweichende Strahlungswerte kontrolliert. Der Konsum sei nach Angaben des Ministeriums bedenkenlos möglich.
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Die Internationale Atomenergie-Organisation berichtet von langwierigen und teilweise hoch komplexen Aufräumarbeiten am Unfallort. Grund dafür sei unter anderem die Entsorgung der radioaktiven Abfallprodukte. Neben unzähligen Säcken mit kontaminierter Erde, hätten sich bereits über tausend Tanks Tritium-haltigen Abwassers angesammelt. Da der Platz zur Lagerung des radioaktiven Kühlwassers knapp werde, genehmigte die japanische Regierung den Kraftwerkbetreibern im vergangenen Jahr, das Abwasser ab 2023 in den Pazifik freizusetzen. Umweltschutzorganisationen, Fischerei-Verbände und Nachbarstaaten drückten dem Vorhaben gegenüber Bedenken aus. Christoph Hugenschmidt sieht keine realistische Alternative: „Bevor die Abfallprodukte durch ein weiteres Erdbeben ins Grundwasser geraten, halte ich die kontrollierte Freisetzung in den Ozean für die deutlich bessere Option.“ Er betont zudem, dass viele Aufbereitungsanlagen für Kernbrennstoffe in Frankreich und England jährlich sogar größere Mengen Tritium-haltiges Wasser in die Nordsee abgeben, als Japan es aktuell für den Pazifik plane. „Man muss das Vorhaben trotzdem nicht gutheißen, aber man sollte es in Relation zu sonstigen Anlagen sehen.“
Masao Uchibori, der Gouverneur der Präfektur Fukushima, erklärte im Februar 2021, dass die Aufräumarbeiten immer noch ganz am Anfang stünden. Der Betreiber der Kernkraftanlage, die Tokyo Electric Power Company, rechnet mit mindestens 30 weiteren Jahren. Das Ausmaß der Schäden im Inneren der zerstörten Reaktoren sei teilweise noch gar nicht bekannt. Wie lange es dauert, bis Menschen diese Teile des Kraftwerks betreten können, ist daher nicht absehbar. Aktuell nutzt das Unternehmen strahlungsbeständige Roboter, um Daten für die weitere Planung zu sammeln.
Das evakuierte Gebiet nahe des Kraftwerks umfasste 1,150 km2. Knapp 30 Prozent dieser Fläche unterliegen laut der japanischen Wiederaufbau-Behörde noch immer strengen Restriktionen. 35.000 Menschen konnten bisher nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Der Premierminister Japans, Kishida Fumio, erteilte Anfang des Jahres erstmals wieder die Erlaubnis für mehrstündige Aufenthalte in der sogenannten „Difficult-to-return-Zone“. Langfristig plane die Regierung, das Gebiet dauerhaft wiederzubesiedeln. Christoph Hugenschmidt hält es für sinnvoll, den Menschen eine Rückkehr bei ausreichend niedrigen Strahlungswerten selbst zu überlassen: „Für einen 80-Jährigen könnte die Rückkehr in die alte Heimat das vergleichsweise geringe gesundheitliche Risiko aufwiegen. Eine junge Familie würde sich eventuell anders entscheiden.“