Cover in der Musikwelt – Was hat es damit auf sich

Ob im Radio, auf Spotify oder im Club – überall laufen Cover. Neue Versionen von Hits, die viele Jahre zurückliegen. Die Entwicklung beschäftigt Musikfans,- produzent*innen und -wissenschaftler*innen. Die Untersuchung eines Phänomens, das in der Geschichte der Musik tief verwurzelt ist.

Es ist Freitagmittag, 13:11 Uhr. Ihr sitzt im Auto, schaltet das Radio an und lauscht der Moderatorin: „Jetzt haben wir etwas ganz Frisches für euch. Eine kleine Premiere. Nur bei uns gibt es jetzt die brandneue Single „In Your Arms“ von Robin Schulz, Topic und Nico Santos.“ Der Song beginnt. Ihr folgt der unverkennbaren Stimme von Nico Santos. In Begleitung eines angenehm klingenden Dance-Instrumentals lasst ihr die Strophen auf euch wirken. Dann ertönt der Refrain. Ihr geratet gedanklich ins Stocken: Die Melodie kennt ihr doch. Der brandneue Song von drei der beliebtesten Musiker*innen Deutschlands und euch kommt die Melodie schon völlig vertraut vor? Zufall ist das nicht.

Der Grund: „In Your Arms“ ist ein Cover. Ein Cover des 90er-Jahre-Hits „For An Angel“. Im Herbst 1998 landet der Produzent Paul van Dyk mit dieser Melodie seinen ersten großen Chart-Erfolg. Heute – mehr als 20 Jahre später – kehrt der Song zurück auf die große Bühne. Neue Vocals, neues Instrumental, gleiche Melodie. Aus dem gesanglosen Dance-Instrumental wird ein zeitgemäßer Ohrwurm für den Mainstream. In den Wochen nach der Veröffentlichung avanciert „In Your Arms“ zum Radio-Dauerbrenner und Streaming-Hit. Der Song ist in seiner Entstehungsgeschichte kein Einzelfall, sondern Trend. Ein Trend, der den Musikmarkt der vorigen Jahre zunehmend auf den Kopf stellt.

Was sind Cover-Versionen?

Cover ist ein Überbegriff für Songs, die in jeglicher Form auf einer zuvor veröffentlichten Komposition basieren.  Cover können die originale Komposition also völlig individuell verändern. Dabei kann die Veränderung des Originals auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Bearbeitung des Instrumentals, des Gesangs, der Melodie … Cover-Versionen sind vielfältig. Um zwischen den verschiedenen Formen unterscheiden zu können, gibt es in der Musikbranche gesonderte Begriffe. Die drei übergeordneten Formen sind das klassische Cover, das Sample und der Remix.

Das klassische Cover
Bei einem klassischen Cover wird die Komposition eines*einer Interpret*in originalgetreu wiedergegeben. Bedeutet: Die Struktur und Melodie des Songs dürfen nicht verändert werden. Ein populäres Beispiel, das jüngst international erfolgreich war, ist „The Sound of Silence“ von Disturbed aus 2015. Das Original heißt „The Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel (1964). Die US-amerikanische Metal-Band Disturbed hat sich dieses Original genommen und es in eine Rock-Ballade verwandelt. Struktur und Melodie sind originalgetreu. 
Das Sample
Bei einem Sample werden Teile einer veröffentlichten Komposition oder Aufnahme in einen anderen Song verbaut. Wie groß der Anteil des Samples an einem neuen Song ist, variiert. Ein Sample ist meistens die Hook, also die zentrale Tonabfolge, die den Hörer*innen im Kopf bleiben. Ein populäres Beispiel dafür ist „In My Mind“ von Dynoro aus 2017. Die originale Hook ist „L’amour Toujours“ von Gigi D’Agostino (1999). Produzent Dynoro hat sich die Melodie genommen und in einen modernen House-Track verwandelt. Die Vocals, das Instrumental und die Strophen wurden dafür abgeändert. Es besteht auch die Möglichkeit, in einen Song mehrere Samples zu verbauen.
Der Remix
Bei einem Remix wird die fertig produzierte Tonspur eines bereits veröffentlichten Songs verwendet, um diese dann zu verändern. Anders als bei einem klassischen Cover, bei dem bloß die Stimme und die Gesangsweise verändert wird, können bei einem Remix auch die Melodie und das Instrumental verändert werden. Remixe werden häufig genutzt, um einen Song in ein anderes Genre zu übertragen. Ein populäres Beispiel dafür ist der Remix von Felix Jaehn zum Song „Cheerleader“ von Omi. Das Original erschien im April 2014 als ruhiger Pop-Song mit Reggae-Elementen. Felix Jaehn hat das Tempo erhöht, das Grundgerüst verändert und einen sommerlichen Dance-Drop hinzufügt.

„Cover-Versionen sind kein neues Phänomen“

Die Popakademie Baden-Württemberg ist Hochschuleinrichtung und Kompetenzzentrum für Populäre Musik. Lehrende und Studierende beschäftigen sich dort seit Jahrzehnten mit der Entwicklung von Pop-Musik. Udo Dahmen ist künstlerischer Direktor, Geschäftsführer und Professor der Popakademie Baden-Württemberg. Wenn es um die Entwicklung von Cover-Versionen geht, ist es Dahmen wichtig, einen Aspekt hervorzuheben: „Cover-Versionen sind in der Musikwelt kein neues Phänomen.“ In der Geschichte der Musik habe es diese schon immer gegeben. In manchen Dekaden seien Cover erfolgreicher, in anderen weniger erfolgreich gewesen.   

Udo Dahmen ist künstlerischer Direktor, Geschäftsführer und Professor der Popakademie Baden-Württemberg. Foto: c-Arthur Bauer

Schon in der klassischen Musik waren Cover unabdingbar. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es im Grunde nur Interpretationen von älteren Liedern. Damals gab es einige wenige Songs, die in der breiten Gesellschaft bekannt waren. Um diese zu hören, besuchten die Menschen ein Konzert, bei der eben jene  von Livemusiker*innen nachgespielt wurden. Der Song selbst war also wichtiger als der Interpret oder die Interpretin dahinter. Mitte der 1950er-Jahre veränderte sich die Situation.  Das Recycling von Hits wurde immer mehr als unmoralisch und unoriginell angesehen. Mit anderen Worten: Cover-Versionen wurden zum No-Go.

Das Verständnis des Coverns ist heute wieder ein völlig anderes. Es wird nicht als unmoralisch betrachtet, sondern als neue Lesart oder Hommage an ein Musikstück. Die Neuaufnahme von Songs ist seit Jahrzehnten ein grundlegendes Element der Pop-Kultur. Ohne Cover, Samples und Remixe gäbe es die Pop-Musik, wie wir sie heute kennen, wohl gar nicht. Es ist für Interpret*innen zur Kunst geworden. Dazu zählen The Beatles, wenn sie für ihren Kulthit „All You Need Is Love“ eine Komposition von Johann Sebastian Bach als Grundlage nehmen, genauso wie Felix Jaehn, wenn er seinen Radio-Hit „Ain’t Nobody“ auf dem gleichnamigen 80s-Hit von Chaka Khan aufbaut.

Grafik: Henry Einck; Foto: pexels / Pixabay

Jeder fünfte Hit basiert auf einem älteren Song

Dass die Zahl der Hits, die auf älteren Songs basieren, in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen hat, belegen zahlreiche Studien. Eine bekannte ist vom Hamburger Musikwissenschaftler Marc Pendzich. 2004 untersuchte er, wie sich der Anteil von Cover-Versionen an den Single-Charts innerhalb von 20 Jahren verändert hat. Das Ergebnis: Der Anteil von Songs, die auf älteren Kompositionen basieren, hat sich 1984 bis 2004 verdreifacht. In seiner Untersuchung kam Pendzich zu der Erkenntnis, dass knapp 19 Prozent der Radio- und Chart-Hits Anfang der 2000er-Jahre eine alte Single als Basis hatten.

Seither hat sich in der Musikbranche vieles verändert. Um zu untersuchen, wie groß der Anteil von Cover-Versionen inzwischen tatsächlich ist, hat KURT recherchiert. Damit die Stichprobe möglichst repräsentativ ist, wurden Hits auf den drei Ebenen Charts, Streaming und Radio untersucht, die inzwischen die Basis des Musikmarkts bilden. Untersuchungsgegenstand waren die hundert erfolgreichsten Chart-Hits des bisherigen Jahres 2022, die fünfzig Songs aus Deutschlands beliebtester Spotify-Playlist „Hot Hits Deutschland“ und die Top 100 der aktuellen Radio-Charts (alle Listen vom 19. Juli). Das Ergebnis der Untersuchung ist eindeutig.

Auf allen drei ausgewählten Ebenen beträgt der Anteil von Cover-Versionen in jeglichen Formen zwischen 20 und 25 Prozent. Im Konkreten bedeutet dies: Inzwischen basiert mehr als jeder fünfte Hit auf einem älteren Song. Klassische Cover sind nur noch in seltenen Fällen erfolgreich. Es sind Samples und Remixe, die den Großteil ausmachen. Besonders beliebt: Das Samplen von Hooks und Gesang. Ein aktueller Trend ist das Schreiben von Vocals auf die Tonabfolge einer altbekannten Hook. Ein populäres Beispiel dafür ist die Sängerin Nea mit ihrem Radio-Hit „Some Say“, dessen Melodie auf dem 2000er-Dance-Hit „Blue (Da Ba Dee)“ basiert.

Grafik: Henry Einck; Bild: pexels / Pixabay

Dance-Musik als Auslöser für Cover-Trend

Einen genauen Blick auf die Entwicklung der Pop-Musik in den letzten Jahrzehnten hatte Stephanie Brückner. Sie ist seit fünf Jahren Musikredakteurin und -planerin bei 1LIVE, einem der größten Radiosender in Deutschland. Zuvor arbeitete sie mehr als zehn Jahre beim Dance-Radio ENERGY. Einen deutlichen Trend von zunehmend mehr Musikcovern hat auch sie in den letzten Jahren wahrgenommen. „Den Startschuss haben DJs wie Felix Jaehn oder Robin Schulz 2014, 2015 gegeben, als sie eben mit Cover-Songs erste Erfolgegelandet haben“, ordnet die 1LIVE-Redakteurin den Beginn des Trends grob ein. Damit lösten sie eine Welle an Neuauflagen aus der Dance-Szene aus.

Stephanie Brückner ist langjährige Musikredakteurin und -planerin bei 1LIVE. Foto: privat

Bei vielen Produzent*innen herrschte lange Zeit Angst, sich an den Kulthits aus den 70ern, 80ern und 90ern zu versuchen, weil sie damit leidenschaftliche Musikhörer*innen empören könnten.  Als Dance-Hits wie „Ain’t Nobody“ oder „Waves“ in den Single-Charts oben mitspielten, verloren viele Produzent*innen diese Angst. Für Empörung sorgten einige Cover zunächst dennoch. Brückner erinnert sich an ein konkretes Beispiel von damals: „Jonas Blue hatte eine Neuauflage zu Tracy Chapmans „Fast Car“ veröffentlicht und die erste Reaktion der Leute war: „Wie kann man nur?“ Kurz darauf entwickelte sich der Song zum Hit.

Der Umgang mit der Idee hat sich seither verändert. „Man stellt den Vergleich zwischen Original und Neuauflage heutzutage nicht mehr direkt her“, stellt Brückner fest. Eine Cover-Version sei ein Song für sich und habe gar nicht den Anspruch, „besser“ als das Original zu sein. Der Dance-Hype war allerdings nur der Startschuss für einen genreübergreifenden Trend. Heutzutage sehe man in allen Genres Neuauflagen. Diese These bestätigt auch unsere kurze Auswertung. Wie die beiliegende Grafik zeigt, können Cover in vielen verschiedenen Genres erfolgreich sein. Führend sind nach aktuellen Zahlen Deutschrap und Dance-Musik.

Grafik: Henry Einck; Foto: tomasi / Pixabay

Streamingmarkt und Social Media spielen zentrale Rollen

Dass Cover-Versionen auf Streaminganbietern wie Spotify gut funktionieren, hat die größte deutsche Playlist „Hot Hits Deutschland“ gezeigt. Genau dort hat Produzent Alexander Stahl angesetzt. Unter dem Alias STEEL ist er seit einigen Jahren auf Spotify unterwegs. Seine Dance-Version von Ben E. Kings Kulthit „Stand By Me“ hat inzwischen über drei Millionen Streams auf der Plattform gesammelt. Anfangs hat STEEL House-Tracks gemacht, für die er eine eigene Melodie komponiert hat. Irgendwann versuchte er es erstmals mit einer Neuauflage. „Ich hab‘ direkt gemerkt, dass ich viel mehr Feedback bekomme und die Leute es mögen, wenn sie einen Song auf Anhieb mitsingen können“, beschreibt STEEL die Reaktionen auf das Release seines ersten Covers zu „Payphone“ von Maroon 5 und Wiz Khalifa.

Alexander Stahl, alias STEEL, startet mit Cover-Versionen auf Spotify durch. Foto: Sven Luppus

STEEL sieht Spotify in einer zentralen Rolle für seinen Erfolg: „Cover sind perfekt für den Algorithmus von solchen Plattformen. Der Grund ist simpel: Die Leute kennen den Song schon.“ Das führe dazu, dass die User*innen den Song nicht nach wenigen Sekunden überspringen, sondern dranbleiben und hören, wie der Song interpretiert wurde. Damit entfalle die Schwierigkeit, die Hörer*innen mit einer eigenen kreativen Melodie und herausragendem Gesang zum Weiterhören zu bringen. Sie bleiben dran, der Song sammelt Streams. Das erkenne der Algorithmus und mische den Song in individualisierten oder populären Playlists unter, wodurch zusätzlich Streams gesammelt werden. Viele Streams bedeuten wiederum einen hohen Ertrag für die Künstler*innen, der diese motiviert, weitere Cover aufzunehmen.

Im Radio funktionieren recycelte Songs ähnlich. Die Handlungsmacht der Hörer*innen besteht dort nicht im Überspringen von Songs, dafür aber im Wechsel des Senders. 1LIVE-Redakteurin Stephanie Brückner hat noch einen anderen Erklärungsansatz: „Sie haben den Vorteil, dass sie auf unterschiedliche Weise für zwei Gruppen interessant sind. Die älteren Menschen, die das Original kennen, aber mit den neuen Interpreten noch nichts anfangen können, und die jüngeren Menschen, die die neuen Interpreten kennen, aber mit dem Original nichts anfangen können.“ Eine Neuinterpretation animiere so gleich zwei Zielgruppen zum Dranbleiben, dessen musikalische Interesse sich sonst selten überschneiden.

Zukunft von Cover in der Musikwelt nicht absehbar

Der anhaltende Cover-Trend wird von vielen Musikliebhaber*innen kritisch gesehen. So sieht auch Hobbyproduzent STEEL die Schattenseiten. Aus kommerzieller Perspektive ist das Musikgeschäft mit Neuauflagen für Produzent*innen lukrativ. STEEL sieht den Trend dagegen aus künstlerischer Sichtweise kritisch: „Wenn man nur noch Cover macht, geht so ein bisschen die Kunst verloren. Die Melodie und der Gesang sind vorgegeben. Und für Musiker*innen besteht der Reiz doch gerade im Komponieren und Schreiben von neuen Sachen.“ Er überlegt daher, sich musikalisch neu auszurichten – trotz des Erfolges, den Cover-Versionen versprechen.

Wie es in Zukunft mit Covern in der großen Musikwelt weitergeht, ist nicht absehbar. Musikprofessor Udo Dahmen sieht für die Musikentwicklung der kommenden Jahre eine große Verantwortung bei den Social-Media-Plattformen: „Gerade TikTok gewinnt auf dem Musikmarkt immer mehr an Bedeutung. Wenn ein Song dort bei jungen Menschen beliebt ist, landet dieser ganz schnell in den Playlists der Streaminganbieter oder Radiostationen.“ Und eben dort seien Cover-Versionen beliebt.

Beitragsbild: theglassdesk / pixabay

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