Sag mal Doc, sind wir alle potenzielle Mörder*innen?

Regelmäßig fragen wir hier die, die uns im Hörsaal die Welt erklären: unsere Professor*innen und Doktorand*innen. Können sie uns wohl auch alltägliche Fragen beantworten? Sag mal Doc, warum können wir anderen Menschen das Leben nehmen? Dieses Mal antwortet Dr. Katalin Dohrmann, Psychotraumatologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz.

Jeder Mensch ist potenziell dazu fähig, seinem Gegenüber schwere Gewalt anzutun und ihm*ihr sogar das Leben zu nehmen. Aggressives Verhalten ist menschlich und nicht per se krankhaft oder gefährlich. Mehrere Einflussfaktoren entscheiden, ob wir natürliche Hemmnisse überwinden und es dazu kommen kann, dass wir einen Menschen ermorden. 

Erstens eint fast alle erforschten Täter*innen eine entbehrungsreiche Kindheit, gekennzeichnet von unfreiwilligem Verzicht auf Zuneigung oder materielle Güter. Oftmals ist ihre Jugend durch traumatische Erlebnisse geprägt. Solche Traumata umfassen körperliche Misshandlungen sowie psychische Gewalt. Außerdem können Menschen gewaltbereit sein, wenn sie als Kind Missachtung und das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, erlebt haben. 

Forscher*innen aus Dänemark haben den Werdegang von über einer Million Personen, die wegen schwerer Gewalt in eine Klinik eingewiesen wurden, in Justiz- und Krankenhausakten verfolgt. Diese Gewalt passierte oft in der engsten Familie. Das Ergebnis der Studie: Die Studienteilnehmer*innen neigten dazu, sich selbst zu verletzen und verübten mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit Gewaltdelikte. Etwa jeder dritte männliche Studienteilnehmer wurde später straffällig. Jeder vierte wurde verurteilt. Derweil tendierten die Frauen im Umgang mit frühkindlichen Traumata stärker zur Selbstverletzung als Männer und litten häufig an Depressionen mit Angstsymptomen.

Täter*innen sind meistens in einem Umfeld sozialisiert, das Gewalt akzeptiert und fördert. In solchen Gefügen gilt Aggression als legitimes Mittel, um sich den ersehnten sozialen Status zu erstreiten oder materiellen Besitz anzuhäufen. 

Dr. Katalin Dohrmann Dipl. Psychologin Quelle: Pressebild

Die Forschung unterscheidet zwischen drei Varianten von Gewalt: Reaktive Aggression entsteht im Kontext einer Bedrohungssituation. So neigen zum Beispiel Eltern zu extremen Handlungen, wenn ihre Kinder in akuter Gefahr sind. Dieser Vorsatz wird jedoch oft in Situationen als Rechtfertigung missbraucht, die kein gewalttätiges Handeln erfordern.  

Unter instrumenteller Aggression versteht die Wissenschaft bewusst gewalttätiges Verhalten um des eigenen Vorteils willen. Die Täter*innen wenden Gewalt an, um Ziele wie Status oder Geld zu erreichen. 

Eine weitere Ausprägung ist die lustvolle Aggression. Dabei steht die Freude an der Tat im Vordergrund. Diese Aggressionsform ist Teil der evolutionär geformten menschlichen Grundausstattung. Ohne die Lust am Jagen hätten unsere Vorfahren kaum überleben können. Schließlich verlangte die Jagd ihnen große mentale und körperliche Anstrengungen ab. Belohnende Hormone helfen den Jagenden, die Strapazen auszuhalten und versetzen sie in einen rauschhaften Zustand. Fortan sehnen sie sich danach, dass sich dieses Gefühl wiederholt.

Zwischen 12 und 13 Jahren müssen wir Menschen lernen, wie wir unsere ureigene Jagdlust drosseln können. In diesem Alter werden einige Gehirnareale umgebaut und wir entwickeln ein konkretes Werteverständnis. Heranwachsende lernen in dieser Phase, die Freude an der Jagd anderweitig auszuleben, zum Beispiel durch Sport oder Spiele im virtuellen Bereich. 

Um Gewalt, besonders das Töten, vor dem eigenen Gewissen zu begründen, müssen Täter*innen das Gegenüber entmenschlichen, degradieren und zum verachtenswerten Bösen stilisieren. Dennoch kostet es sie beim ersten Mal viel Überwindung, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Haben Menschen diese Schwelle einmal überwunden, stumpfen sie mit jeder weiteren Tat ab und entwickeln Appetit auf mehr. Hat sich eine Person einmal daran gewöhnt, zu töten, kann er*sie sich diese Eigenschaft schwer wieder abtrainieren.

Der Grund dafür, dass ein Großteil der Erdbevölkerung die eigenen Mitmenschen nicht umbringt, liegt ebenfalls in der Evolution. Menschen sind seit jeher in sozialen Gemeinschaften organisiert. Daher sind sie auf die Gruppe angewiesen, um zu überleben. Trotzdem können sie Personen Schaden zufügen, wenn sie sie als wertlos genug oder böse betrachten.

Teaser- und Beitragsbild: NEOSiAM 2021 von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/mit-blut-bedeckte-hande-der-person-673862/, lizenziert nach CC.

Ein Beitrag von
Mehr von Moritz Howe
Sag mal Prof: Warum tratschen wir?
Im „Sag mal, Prof…?“ geben Expert*innen Antworten auf Alltagsfragen. Dieses Mal erklärt...
Mehr
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert